Gute Lektüre für nostalgische Stunden

Rezensiert von Klaus Schroeder · 14.07.2006
Während über die alte Bundesrepublik und die untergegangene DDR inzwischen mehrere Gesamtdarstellungen vorliegen, gibt es bisher nur wenige Arbeiten, die sich mit der unterschiedlichen und gleichzeitig aufeinander bezogenen Entwicklung der beiden deutschen Teilstaaten befassen.
Jetzt haben linke, vornehmlich ostdeutsche Autoren ein von der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung mit beträchtlichen Mitteln finanziertes Handbuch zur deutschen Zeitgeschichte von 1945 bis 2000 vorgelegt, in dem sie als "Ergebnis einer historischen Gesellschaftsanalyse" die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Systeme herausstellen wollen.

Herausgekommen ist ein knapp 1.400 Seiten dicker Sammelband mit einer mehr oder weniger deutlichen positiven Parteiname für die DDR. Deren dunkle Seiten, etwa die Errichtung und Ausgestaltung des mörderischen Grenzregimes, die hohe Armutsquote, die deutlich niedrigere Lebenserwartung und die hohe Selbstmordrate oder die Berufsverbote für Ausreiseantragssteller werden ausgeblendet; dagegen werden die Schwächen der Bundesrepublik wie etwa die personelle Kontinuität von Funktionseliten des Nationalsozialismus, die Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger Jahre und die vermeintlich negativen Folgen der Vereinigung überbetont.

Da die Autoren auf die Offenlegung ihrer Bewertungsmaßstäbe verzichten, steht vieles unkommentiert nebeneinander. So setzt zum Beispiel Jörg Roesler die gewerkschaftlichen Proteste gegen die 1948 erfolgte Aufhebung der Bewirtschaftungsgesetze durch Ludwig Erhardt auf eine Stufe mit der Volkserhebung in der DDR am 17. Juni 1953. Beides seien soziale Proteste, auf die die Politik reagieren musste. Ebenso absurd ist die Behauptung des Autors, der von Karl Schiller praktizierte Keynesianismus weise Ähnlichkeit mit dem Anfang der sechziger Jahre von Ulbricht propagierten "Neuen Ökonomischen System" auf. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur, ohne dass hierdurch jedoch die grundsätzlichen Unterschiede von Plan- und Marktwirtschaft auch nur berührt wurden.

Da die meisten Autoren Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur mit ihren jeweiligen Folgen für die Entwicklung von Politik und Gesellschaft für unerheblich halten, verflüssigen sich die substanziellen Differenzen in parallele, lediglich andere Entwicklungslinien. So erscheint die DDR als Diktatur im Sinne einer Volksdemokratie oder sie wird in vielen Beiträgen als ein Staat mit "Demokratiedefiziten" charakterisiert.

Bei Wilfriede Otto etwa, die die politischen Systeme beschreibt, wird mit dialektischer Raffinesse der Diktaturcharakter der DDR weichgespült.

"Die DDR, als Arbeiter-und-Bauern-Staat charakterisiert, entwickelte sich als Gesellschaft mit einer formal parlamentarischen Demokratie mit antikapitalistisch-staatsozialistischer Wirtschafts- und Sozialpolitik. … Defizite blieben und führten letztlich zu ernsten gesellschaftlichen Widersprüchen. Wichtige Grundrechte, die freie Meinungsäußerung, das Versammlungs- und Vereinigungsrecht, waren an die Grundsätze und Ziele der Verfassung gebunden, d.h. an die Grundorientierung der Staatspartei."

In diesem zentralen Kapitel des Buches erfährt der Leser freilich nicht, wie die politischen Systeme tatsächlich funktionierten. Weder wird das Zusammenspiel verschiedener politischer und sozialer Akteure in der Bundesrepublik geschildert noch die personelle und inhaltliche Lenkung des Staatsapparates, der Massenorganisationen und Blockparteien durch die SED im Detail dargestellt. So bleibt es bei einer knappen historischen Skizze und einer in bestem Funktionärsdeutsch vorgetragenen Skepsis gegenüber der westlichen Demokratie.

"Geschichtliche Erfahrungen drängen Überlegungen auf, den in Gang gekommenen Modernisierungsschub durch soziale und politische Bewegungen, der über herrschende Parteien hinaus greift, als Bedürfnis eines öffentlichen Disputs über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen; den im Grundgesetz ausdrücklich paraphierten Schutz der Grundrechte zu verteidigen; die repräsentative parlamentarische Demokratie gegen einen schleichenden Autoritarismus zu stärken und Herrschaftspragmatik und programmatische Ziele der etablierten Parteien zu hinterfragen."

Die Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung, unter denen sich erstaunlicherweise keine zum Alltag und zur Sozialstruktur finden lassen, und zur Entwicklung der Politikfelder sind – wie in Sammelbänden üblich – von unterschiedlicher Qualität. Einige wie die zur Außenpolitik, zu den innerdeutschen Beziehungen, zur Forschungspolitik oder zur Gesundheits- und Sozialpolitik fallen banal aus, andere wie die zu Opposition und Widerstand, zur Frauen- und Familienpolitik oder zur Wirtschaftspolitik geben gelungene deskriptive Überblicke, wieder andere, etwa die zur Verteidigungs- und Militärpolitik oder zur Sportpolitik, fallen durch offensichtliche Einseitigkeit auf.

Einig sind sich nahezu alle Autoren in der Bewertung der Wiedervereinigung und ihrer Folgen. Von "Anschluss" ist die Rede und von Verlusterfahrungen für die Ostdeutschen. Dahinter verschwinden die wesentlich über Transfers finanzierte historisch beispiellose Wohlstandsexplosion und der Gewinn von Freiheit und Demokratie. Der langjährige leitende Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament", Johannes Kuppe, betont vor allem die Probleme der Vereinigung und ihre Rezeption unter Ostdeutschen, wobei er die Ergebnisse der empirischen Forschung souverän ausblendet.

So behauptet er zum Beispiel, die hohe Arbeitslosigkeit betreffe insbesondere Frauen, was bereits seit einigen Jahren nicht mehr zutrifft, und beklagt die starke Verringerung von Kindergarten- und Hortplätzen als Beschäftigungshindernis, was für die neuen Länder ebenfalls nicht stimmt. Als Kronzeugin für die angebliche Ungerechtigkeit im Vereinigungsprozess bemüht er den Ausspruch der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: "Wir haben Gerechtigkeit erwartet, aber einen Rechtsstaat bekommen." Gemünzt war Bohleys Aussage jedoch nicht auf die vermeintliche Schlechterstellung von ostdeutschen Rentenbeziehern oder soziale Schieflagen, sondern auf den moderaten rechtlichen Umgang mit den für die DDR-Diktatur Verantwortlichen.

Die eingehende Lektüre dieses Handbuches hinterlässt den Eindruck, der Kalte Krieg der Systeme habe sich nun in einen der Geschichtsdeutungen transformiert. Zwar verzichten die Autoren auf eine inhaltliche und argumentative Auseinandersetzung mit anderen Positionen und gehen mitunter sehr selektiv mit Daten um, zielen aber gleichwohl auf gegenwärtige und zukünftige politische Debatten. Für sie hat die alte Bundesrepublik nur vorübergehend die Systemkonkurrenz gewonnen, da auch ihre politische und gesellschaftliche Ordnung obsolet geworden sei, wie es in der Einleitung der Herausgeber heißt:

"Die traditionellen Inhalte der politischen Bildung in der 'alten' Bundesrepublik und die Formen ihrer Vermittlung wurzelten in den fünfziger Jahren und orientierten sich an der Demokratisierung in einer Industriegesellschaft. Politische und gesellschaftliche Normen und Werte waren auf diesen Tatbestand ausgerichtet worden. Die heutige Gesellschaft ist durch die internationalen und nationalen technologischen Umbrüche zu einer Übergangsgesellschaft mutiert, für die eine paradigmatisch neue Gesellschaftstheorie mit einem neu definierten Wertesystem noch aussteht."

Für alle Sympathisanten der DDR mag dieser Sammelband, der in den meisten Beiträgen die alten Positionen der SED in moderaterer, aber parteilicher Weise aufwärmt, gute Lektüre für nostalgische Stunden sein, eine seriöse Gesamtdarstellung der deutschen Teilungsgeschichte ist dieses Buch jedoch nicht.


Clemens Burrichter - Detlef Nakath - Gerd-Rüdiger Stephan, Hrsg.:
Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000
Gesellschaft – Staat – Politik - Ein Handbuch

Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 2006