Gut zu Fuß

Wandern zwischen Trend und Kommerz

Ein junges Paar wandert in den Alpen bei Altenmarkt-Zauchensee in Österreich.
Ein junges Paar wandert in den Alpen. © Imago / Westend61
Von Folkert Lenz · 29.03.2015
Wandern ist in - es gehört inzwischen zum Lifestyle junger Menschen. Nicht mehr nur aktive Senioren schnüren die Stiefel und spazieren durch Berg und Tal. Das belegen die Statistiken der Tourismus-Experten. Freizeitforscher sehen einen anhaltenden Trend.
"Liebe Freunde der 24 Stunden von Bayern. Der Startcountdown wird durch die Milchkönigin gegeben. Die zählt mit uns sauber bis auf Null runter. – Fünf, vier, drei, zwei, eins..."
So geht Wandern heute: Zur Musik der Blaskapelle Thurmannsau, schickt die bayerische Milchkönigin Katharina Schlattl mit den Hundsrucker Böllerschützen 444 Läufer auf einen langen Marsch. Von acht Uhr in der Früh bis zum nächsten Morgen um acht werden die Wanderer unterwegs sein. Und durchstreifen dabei das Ilztal am Rande vom Bayerischen Wald. Es ist die sechste Auflage der "24 Stunden von Bayern". Fast 2.000 Hardcore-Trekker hatten sich für den Event beworben, gerade mal jeder fünfte Interessent durfte sich auf den Weg machen.
Auf Schusters Rappen – soweit einen die Füße tragen. 70 bis 80 Kilometer am Stück kommen da schnell zusammen. Weit-Wander-Veranstaltungen wie diese locken mittlerweile Hunderte, manchmal Tausende von Lauf-Fans.
Kurz vor dem Startschuss im Museumsdorf Bayerischer Wald bei Tittling: Der Morgentau hängt noch in den Wiesen. Trotzdem werden Stiefel geschnürt, Trinkflaschen am Brunnen gefüllt, Rucksäcke gerichtet. Es herrscht Nervosität wie vor einem Marathonlauf. Die meisten haben gute Vorsätze.
"Die 70 Kilometer, Tag- und Nachtstrecke, durchhalten!"
"Ich freu mich schon drauf, das wird bestimmt spannend, ob wir das schaffen."
"Ich hab mir nix vorgenommen. Einfach nur Spaßfaktor, gucken, was man schafft."
"Genuss auf alle Fälle. Genuss, Spaß, das ist kein Wettbewerb. Das Ziel ist, wenn es geht, alles zu machen."
"Ankommen auf alle Fälle, ohne Blasen an den Füßen. Soweit es geht, soweit die Füße tragen. Schauen wir mal. Ein bisschen Endorphine wird man schon ausschütten. Wir gucken mal, wie weit es geht. "
Später löst sich die anfängliche Gänsemarsch-Formation schnell auf, das Feld zieht sich auseinander, jeder sucht seinen Geh-Rhythmus. Nun bleibt Zeit, über die grünen Hügel des Mittelgebirges zu schauen, Felder und Wälder zu genießen, hier und da eine Burg zu erspähen.
Einkehr bei Schlutzkrapfen und Kraut
Pünktlich zur Mittagszeit erreicht der Wanderertross Schloss Fürsteneck. Die Einkehr bei Schlutzkrapfen und Kraut kommt gerade recht. Vier Stunden sind schon geschafft. Wenn man es nachrechnet, aber nur ein Bruchteil des Wandertages. Auf geht's also wieder!
Alle paar Kilometer wird das Dahintraben unterbrochen. Durch Verpflegungsstände, Infozelte, aber auch durch Trachtentänzer oder urbayerische Schnalzler, die ihre Peitschen knallen lassen.
Geschwind vergeht so der Tag. Die ersten 40 Kilometer stecken den Läufern in den Knochen, da ist noch nicht einmal Halbzeit. Und, wie geht's?
"Also für mich sehr angenehm: Schönes Wetter, alles gut."
"Super läufts. Die Füße tun ein bisschen weh, aber sonst ist alles super. Kondition reicht noch, also gehen wir die Nachtstrecke an."
"Ja, bei mir zwickts a bisserl. Aber: Motiviert statt trainiert ist mein Motto."
Stunden später: Es dämmert zur Nacht. Und nicht nur das!
Das kurze Donnerwetter schreckt aber nur wenige. Auf kleinen Pfaden geht es jetzt durch die dunklen Wälder von Ilztal und Dreiburgenland. Weiter also durch die Neumond-Nacht. Wie gut, dass an den Streckenposten nicht nur Proviant und moralische Unterstützung angeboten wird.
"Ich mach Massagen: Ob Schulter, Rücken, Nacken oder Füße und Wadln. Damit Sie wieder toll weiterlaufen können."
"Man hält einfach länger durch. Und einfach die Atmosphäre und die freundlichen Hände. Die helfen einem auf jeden Fall dabei."
Ein Wanderer spaziert mit seinem Hund in den Bergen.
Ein Wanderer spaziert mit seinem Hund in den Bergen. © Imago / Westend61
Trotz der mitternächtlichen Wellness-Einheit: Der Wandertag wird allmählich zum Gewaltmarsch. Als es wieder hell wird, liegen immer noch viele, viele Kilometer vor den Trekkern.
"Für mich ist das schon ein wahnsinniges Erlebnis. Also ich bin überwiegend nachts alleine gelaufen, mit der Stirnlampe. Das ist ein tolles Erlebnis, dann in den Tag reinzulaufen. Das finde ich einfach faszinierend für mich. Wenn es langsam hell wird, die Vögel fangen an zu pfeifen. Und Du läufst in den Tag hinein..."
Zur Frühstückszeit aber kommt erst der Zieleinlauf bei Tittling in Sicht: Erleichterung! Doch trotz aller Qual: Am Ende sind die meisten zufrieden, dass sie ihren inneren Schweinehund 24 Stunden lang bezwingen konnten.
"Glücklich und zufrieden. Jetzt brauch ein Bett."
"Puuuh! Die Füße tun natürlich weh, der Rücken tut weh, die Gelenke tun ein bisschen weh. Aber es hätte schlimmer sein können."
"Es regnet. Du bist hungrig. Und dann ist es nicht so schön."
"Es ist ganz schön bergab gegangen: Mit der Stimmung und mit den Füßen. Der Vorteil ist: Du hast den Kopf frei. Du musst an nix denken. Das ist gut. Man vergisst den Alltag, das ist nicht schlecht."
Vorbei die Zeiten, in denen Menschen als Duo, Trio oder Quartett leise, fast unsichtbar, durch den Wald schlichen. Wandern heute, das kann ganz schön lautstark sein und ist häufig ein Event.
Sternwandern – Wander-Marathon – Nachtwanderung – Wett-Trekken – Trailrunning – Geocaching – Nordic Walking – Barfußlaufen – Nacktwandern – Dauerlaufen.
"Es gibt ganz viele Marathonveranstaltungen mittlerweile. Das heißt, hier holt der sportliche Gedanke doch durchaus das Wandern wieder ab. Was vielleicht auch dazu führt, dass es wieder etwas jünger wird. Dann gibt es Spendenwanderungen. Es gibt Sternwanderungen jeglicher Art..."
Der Phänotyp des Wanderers
Ute Dicks ist Geschäftsführerin des Deutschen Wanderverbandes, der seine Zentrale in Kassel hat. Beim Dachverband der deutschen Gebirgs- und Wandervereine weiß man sehr genau, welche Spezies durch Moore und Heide läuft, wer in Wäldern und auf Almen unterwegs ist.
Mehrfach wurde der Phänotyp des Wanderers seit der Jahrtausendwende wissenschaftlich untersucht. Männer wie Frauen bewegen sich demnach gleichermaßen gern auf Schusters Rappen. 70 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung geht zumindest gelegentlich auf Tour. Das Durchschnittsalter des zeitgenössischen Wanderers liegt bei 47 Jahren. Der jüngsten Studie aus dem vergangenen Jahr zufolge haben aber vor allem Ältere über 55 Jahre das größte Interesse am Unterwegssein in der Natur. Außerdem zählen Singles und Paare ohne Kinder zu den größten Fans des Outdoor-Sports. Wer aus dem Flachland kommt, den drängt es offenbar nicht so häufig in Wald und Flur.
"Also es ist ganz stark regional unterschiedlich insofern, dass beispielsweise die Mittelgebirgsmenschen – insbesondere die Sachsen und die Thüringer – sehr wanderaffin sind, das muss man sagen. Im entsprechenden Bevölkerungsschnitt natürlich sind vor allem die Nordrhein-Westfalen stark vertreten, weil sie auch sehr viel wandern. Und dann kommen auch schon die Baden-Württemberger, Bayern und Rheinland-Pfälzer. Man merkt schon, dass das Wandern irgendwie ein Typus aus dem Mittelgebirge ist. Aber auch Berlin, Bremen, Hamburg: Alle sind dabei."
Doch was macht den Wanderer eigentlich zu einem solchen? Und was unterscheidet ihn von einem profanen "Spaziergänger"?
"80 Prozent der Menschen, die wandernd unterwegs sind, empfinden ab einer Stunde den Fußweg als eine Wanderung. Aber nicht alleine die Zeit ist ausschlaggebend. Sondern auch die Motivlage. Beim Wandern ist es so – im Gegensatz zum Spaziergang: Ich plane mir meinen Weg. Ich überlege vorher, was ich mache, welche Runde ich gehe. Dann habe ich meistens das richtige Schuhwerk an den Füßen. Also ich habe weniger die Überraschungseffekte. Und gleichzeitig richte ich mich darauf ein: Es kann ja mal ein Wetterwechsel kommen."
Wandern im Laufe der Geschichte
Dabei war Wandern im Laufe der Historie immer wieder etwas anderes. Zu Beginn des industriellen Zeitalters galt Mobilität eher als Luxus – und als teuer. Bestimmte Berufs- und Sozialgruppen bewegten sich per pedes – weil sie mussten. Als Freizeitbeschäftigung wurde nicht gewandert, aus Spaß schon gar nicht. Das änderte sich erst mit den Anfängen des Tourismus. Wer verreiste, der ging auch mal wandern. Zur schlichten Fortbewegung. Aber auch zur Entdeckung von Regionen.
"Man kann es auch ein bisschen damit verbinden, dass die Städter den ländlichen Raum erschließen wollten, um sich einen Erholungsraum zu schaffen. Mit guter Luft, die so genannte Sommerfrische. Die ersten Urlauber, die ersten Feriengäste kamen. Und somit hat natürlich gleichzeitig auch der ländliche Raum etwas erfahren dürfen, was man damals Fremdenverkehr, heute touristische Entwicklung oder eben Förderung der ländlichen Regionen nennt."
1864 wurde der erste Wanderclub gegründet, erzählt Ute Dicks: der Badische Schwarzwaldverein. Schnell bildeten sich auch Initiativen in Eifel, Sauerland, Fichtelgebirge oder Thüringer Wald.
"Die Wandervereine haben dort Wege gefunden und gesucht, wie man die Landschaft wunderbarst genießen kann. Und haben aber frühzeitig auch das Thema Einkehren bedacht. Und das Thema Aussichten. Denn die Wandervereine, die unter dem Dach des Deutschen Wanderverbandes vereint sind, unterhalten über 350 Wanderheime in den Mittelgebirgen und über 500 Aussichtstürme. Das sind alles Errungenschaften, die vor mehr als 100 Jahren entstanden sind, um eben halt den Menschen in den Regionen das Schöne zu erschließen."
Zwitschernde Vögel im Wald, plätschernde Bäche in den Auen, der weite Blick übers Land. Die frühen Wandervögel waren vor allem auf der Suche nach der Natur. Heute steht bei vielen das Abenteuer im Vordergrund. Besinnlichkeit? Ruhe? Massen-Trekking liegt im Trend!
Im Nirgendwo von Lappland
Eigentlich ist der hohe Norden Schwedens für seine Abgeschiedenheit bekannt. Und wer in die Berge Lapplands reist, der sucht meist die Einsamkeit. In jedem Jahr im August aber, beginnt die Gebirgstundra zu beben. Denn dann steht der "Fjällräven-Classic" an: Eine Wett-Weit-Wander-Veranstaltung am Polarkreis, organisiert von einem schwedischen Bekleidungshersteller. Der 110-Kilometer-Lauf ist eine Mischung aus Ultra-Marathon und Volkswandertag mit Schlafsack, Isomatte und Zelt. Die schnellsten Gebirgsjogger brauchen gerade 14 Stunden für die Strecke. Der Rest der 2000 Teilnehmer – mehr als ein Drittel kommt aus Deutschland – nimmt sich bis zu sieben Tage Zeit.
Am Ende einer kleinen Straße, mitten im Nirgendwo von Lappland. Die Starter rüsten sich zum Aufbruch. Die Frage, ob für sie Genuss-Wandern ansteht oder ein Mega-Rennen, ist für die meisten längst entschieden.
"Wir wollen gemeinschaftlich und eher ruhig die Natur und den Event genießen. Der Wettkampfcharakter ist an zweiter Stelle. Wenn wir aber am Ende eine kleine Medaille bekommen, kann es uns nur recht sein."
Die gemächlicheren Wanderer verstauen ihre Habseligkeiten in riesigen Rucksäcken. Die Läufer bereiten sich mit Dehnübungen auf die Mammut-Strecke vor. Letzte Ansagen per Lautsprecher.
"Der erste Abschnitt, den ihr heute gehen werdet, ist ein guter Einstieg. Ein schöner gerader flacher Weg, der den Blick freigibt in die schöne Landschaft da draußen. Der erste Checkpoint, den ihr passiert..."
Der Marsch durchs Fjäll führt von Nikkaluokta nach Abisko. Eine fast menschenleere Gebirgslandschaft, nur ein paar Rentierhirten leben hier im Sommer. Grün-braunes Gestrüpp bedeckt den Boden bis zum Horizont. In den Tälern liegen dunkelblaue Seen, darüber thronen braune Felsgipfel. Ein deutsches Team zieht sich gerade die Wanderstiefel an und freut sich auf den Trip durch die Wildnis.
"Die nacheiszeitliche Landschaft dieser Trogtäler und glattgeschliffenen Berge, finde ich faszinierender als die schroffen, aufgefalteten Alpen. – Es sind weiche Kuppen. Aber trotzdem ist eine Fernsicht da. Wir sehen Schnee, es ist hoch und schon hochalpines Gelände, finde ich. – Diese Weite ist faszinierend. Der kann sich kaum einer entziehen."
Eine Person hat ihre Wanderschuhe ausgezogen, daneben steht eine Blechtasse
Eine Person hat ihre Wanderschuhe ausgezogen, daneben steht eine Blechtasse© AFP / Andrew Burton
Am Startplatz in Nikkaluokta steigt unterdessen die Spannung. Am Eingang zu einem Birkenwald fällt bald das rot-weiße Flatterband, das die Trekker noch zurückgehalten hat.
Die meisten Wanderer sind vier oder fünf Tage unterwegs – so wie diese Gruppe aus Hessen, die der schwedische Wildnis-Guide Mattias Tarestad anführt.
"Wir haben fünf Tage zum Genießen. Aber es wird auch harte Arbeit. Wir gehen sicher 15 bis 25 Kilometer pro Tag. Wir machen Urlaub, aber es nicht immer superbequem.
"Genusswandern in der Gruppe. Und dass alle ankommen."
"Es ist das absolute Naturerlebnis, wirklich mal draußen zu sein. Ruhe zu suchen und diese Natur einsaugen zu dürfen."
Das mit dem Wett-Wandern nehmen die meisten also nicht so ernst. Ums Weit-Wandern allerdings kommt keiner herum. Tagelang geht es über Stock und Stein – immer am Fuße des höchsten schwedischen Berges entlang, dem Kebnekaise. Übernachtet wird im Zelt. Wasser zum Trinken und Waschen gibt es aus Bächen und Seen. Mancher Fluss ist tagsüber ein kleines Hindernis. Abends ist sein Ufer ein willkommener Lagerplatz.
Bis zu 30 Kilometer pro Tag machen das Wandern allerdings für manchen zum Gewaltmarsch. Erst nach fünf Tagen naht die Erlösung für die Power-Walker. Nach der letzten Kontrollstelle kommen die Dächer von Abisko im lichten Birkenwald in Sicht. Der Zieleinlauf unter großem Jubel.
"Ich muss sagen, ich habe es total unterschätzt. Fünf Tage am Stück mit 14 Kilo laufen, das hätte ich mir nicht so zugetraut. – Ich bin ganz stolz. Aber das ist hier kein Spaziergang. Es ist schon auch anstrengend."
Eine Belohnung bekommt jeder nach dem Wildnismarsch: Eine goldene Medaille – egal, wie lange er für die Strecke gebraucht hat.
Den reisenden Gesellen von heute reicht der kleine Beutel des Handwerkers von früher allerdings nicht. Wer dem Kilometer-Fressen verfallen ist, dem steht offenbar schnell der Sinn nach mehr.
Stiefel – Kompass – Membrananorak – Schlafsack – Regenschutz – GPS-Gerät – Isomatte – Rucksack – Zip-Off-Hose – Funktionsunterwäsche – Teleskopstöcke ...
Der Trend ist gut für Wanderausrüster
Hersteller und Handel erfüllen die Wünsche gern. Kein Wunder: Geben die Deutschen doch seit Jahren knapp vier Milliarden Euro allein für Wanderausrüstung aus. Die Branche heizt den Boom weiter an und schafft es auch, den Wander-Hype zum Lifestyle-Phänomen zu machen.
"Das sind aktive Leute. Und es zieht ja immer mehr Leute raus in die Natur. Und nicht nur – ich sag mal – die Volkswanderer, sondern auch sehr viele junge Leute, die einfach die Natur suchen und rausgehen."
Jürgen Siegwarth ist Geschäftsführer eines großen bayerischen Stiefel-Herstellers. Der Schuhproduzent hat zum Beispiel Veranstaltungen wie die "24 Stunden von Bayern" erfunden. Aus Begeisterung – aber auch nicht ganz ohne ökonomische Hintergedanken, wie Siegwarth zugibt.
"Das ist schon Promotion für Wandern. Wir verbinden das schon sehr stark mit der Marke. Wir sind diejenigen, die die Schuhe machen. Und jeder, der läuft, weiß ganz genau: Schuhe, das ist das Wichtigste. Weil: Wenn ein Schuh drückt und ich hole mir Blasen, dann ist das schon ein heißes Thema."
Dabei muss der Branche wahrlich nicht Bange werden. Selbst in der Finanzkrise legten die Hersteller von Hardware für das Draußen-Leben beim Umsatz fast immer mit zweistelligen Prozentzahlen zu. Und auch die deutsche Tourismusbranche profitiert davon, dass sich so viele Deutsche wie nie zu Fuß auf den Weg machen.
... wenn der Pfad denn nur gut genug ist. Einfach drauf losmarschieren? Diese Zeiten sind vorbei. Es sind vor allem die Touristiker, die den Laufjüngern den Weg durch Gehölz und Dickicht bahnen. Und das kommt nicht von ungefähr: Denn jede Region will vom Geldregen etwas abbekommen. Schließlich spülen allein die Tagesausflügler in Wanderschuhen zwischen fünfeinhalb und sechs Milliarden Euro pro Jahr in die Kassen deutscher Gastronomen. Obendrauf kommen knapp zwei Milliarden Euro für Übernachtungen. Dadurch entstehen bis zu 150.000 Arbeitsplätze, heißt es in einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums von 2010.
Das Bild vom Brotkanten knabbernden Wanderers, der um jede Jausenstation und jedes Hotel einen großen Bogen macht, stimmt schon lange nicht mehr.
Fast 60 Euro pro Tag gaben die Trekking-Touristen seinerzeit aus, heute dürfte der Wert noch höher liegen. Aus dieser Grundlagenuntersuchung weiß die Expertin Ute Dicks auch:
"Bisher war es immer so, dass einfach gedacht wurde: Okay, die Wanderer bringen ihr Brot mit. Und lassen quasi gar nichts in der Region. Jetzt haben wir ganz andere Zahlen. Und über sieben Milliarden, das ist schon eine stattliche Summe. In der Mehrzahl sind es auf jeden Fall die Ausflügler in Deutschland. Der Freizeitmarkt Wandern ist größer als der Urlaubsmarkt. Doch kann man durchaus sehen, dass die Urlauber, die im Freizeitmarkt quasi ihre Ersterlebnisse gemacht haben, dann auch gerne mehr Urlaub machen. Das ist natürlich für den Tourismus im ländlichen Raum von höchster Bedeutung."
Wandern mit Zertifikat: "Top Trail of Germany"
Allerdings: Eine Tourismusregion, die etwas auf sich hält, muss heutzutage einen Premiumweg, einen Qualitätswanderweg, eine Prädikatsroute vorweisen oder hat sich wenigstens eine Strecke als "Top Trail of Germany" zertifizieren lassen.
Und wo früher nur ein handgemalter Wegweiser am Baum die Richtung zur nächsten Einkehrstation wies, dort hängt heute bestimmt eine normierte Anzeigetafel mit pffifigem Logo. Auf, dass die Wanderer nur ja nicht vom rechten Wege abkommen mögen!
So auch auf dem Harzer Hexenstieg.
Über 94 Kilometer führt die Route von der mittelalterlichen Fachwerkstadt Osterode in Niedersachsen ins sachsen-anhaltinische Thale am Ausgang des Bodetals. Erst im vergangenen Herbst hat die Harz-Traverse zum dritten Mal den Titel "Qualitätsweg Wanderbares Deutschland" eingeheimst. Alle drei Jahre rückt der "Wege-TÜV" im nördlichsten deutschen Mittelgebirge mit seinen Spezialisten an und prüft, ob die Route vernünftig ausgeschildert ist, ob kulturelle Highlights und landschaftliche Sehenswürdigkeiten integriert sind und dass die Läufer nicht über zu viel Asphalt geschickt werden.
Wer von Osterode am Harzrand in die Wälder der Clausthaler Hochfläche aufsteigt, der entdeckt am Rande der ehemaligen Bergwerksstadt Clausthal-Zellerfeld immer wieder silbrig blinkende Teiche. Der Forst hier ist typisch für den Harz: Dunkles, düsteres Fichtengrün ringsherum. Doch mitten darin versteckt sich eine Seenplatte – von Menschenhand geschaffen. Bäche plätschern allerorten. Das Wasser war DIE Energiequelle für den Bergbau über Jahrhunderte. Wasserräder hoben die Förderkörbe mit dem Erz, bewegten die Hämmer der Pochwerke, in denen das Gestein zerkleinert wurde – und sie trieben Pumpen an, um die Schächte trocken zu halten. Das System aus Gräben und Kunstteichen hat auch dem Wanderer in der Moderne einiges zu bieten, findet der Goslarer Kulturhistoriker Manfred Reiff.
"Das Schöne ist natürlich an der Wasserwirtschaft: Man läuft immer am Wasser. Sehr schön natürlich auch: Man hat wenig Steigung. Naturgemäß läuft man praktisch durch ein sehr gebirgiges Gelände, man hat tolle Ausblicke in die Ferne und bleibt aber immer auf einer Höhe."
Und so geht es weiter Richtung Torfhaus. Während der Teilung Deutschlands war das kleine Bergdorf auf fast 800 Metern über dem Meer die höchste Siedlung im Westharz. Wer diese verlässt, der steht mitten im Großen Torfhausmoor – und bekommt sofort nasse Füße, wenn er nicht auf den Wanderpfad achtet, warnt der Biologe Gunter Karste.
"Das Torfhausmoor ist also ein typisches, weitestgehend ungestörtes Moor. Einzigartig für mitteleuropäische Verhältnisse. Der Niederschlagsreichtum hier ist die Ursache dafür. Auf den Kämmen der Berge und den Sätteln, da haben wir dann oft Hochmoorbildung. Die leben also von dem permanenten Niederschlagswetter."
Ein Holzbohlenweg führt über das tückische Gelände. Denn aufgepasst: Ein Tritt daneben und – platsch! – landet man in einem der grundlosen schlammigen Wasserlöcher. Der Harzer-Hexen-Stieg erreicht kurz darauf den Quitschenberg. Ein trostloser Anblick! Fichtengerippe allüberall: Baumleichen!
Alle wollen vom Hype profitieren
Schuld ist der Borkenkäfer, der die Nadelbäume auf dem Gewissen hat. Denn im naturbelassenen Schutzgebiet durfte der Schädling jahrelang wüten. Nationalpark-Ranger wie Andreas Pennig müssen den Touristen heute erklären, welch ökologisches Drama sich hier abgespielt hat.
"Viele heiße Sommer, das ist so eine Art Stress für die Fichte. Dann kommen auch Naturkatastrophen wie der Sturm Kyrill dazu. Wenn natürlich große Flächen vom Sturm umliegen, dann kommt der Borkenkäfer, die Borkenkäferpopulation zum Ausbruch."
Der Stieg führt schließlich über den Brocken, den höchsten Harzgipfel, und endet mehrere Tage später im Bodetal. Dort hat sich das Flüsschen 300 Meter tief in Granit und Hornfels gefressen. Manche bezeichnen die Schlucht auch als "Grand Canyon des Harzes". Für Ute Dicks vom Wanderverband macht es Sinn, Touren wie den Hexenstieg zum Qualitätsweg zu adeln.
"Sie sind einerseits fürs Marketing gut. Um eben Aufmerksamkeit für die Region zu erzielen. Der Gast hat natürlich mit den Prädikaten eine wunderbare Orientierung. Der weiß: Wo ein Prädikat ist, da habe ich 100 Prozent Markierungen, da habe ich Abwechslung, da habe ich mindestens 35 Prozent naturbelassene Wege. Das ist natürlich eine Garantie."
Ob Wander-Herberge, Wander-Verlag oder Wander-Reiseveranstalter: Alle wollen vom Hype profitieren. Experten sagen voraus, dass der Markt für Hotellerie, Gastronomen, Touristiker oder Outdoor-Ausrüster noch bis zum Jahr 2040 attraktiv bleiben wird. In der Szene wurde alles dafür getan, dass das Zu-Fuß-Gehen sein verstaubtes Image ablegt: Wandern zählt mittlerweile zum Lifestyle. Mit Wett-Trekken, Ultra-Märschen, Gesundheitsrouten oder Schulwandern wird der Boom wohl noch lange nicht abebben.
"Alles dies sind natürlich neue Formen des Wanderns, die entdeckt werden. Und da ist das Ende noch nicht erreicht, was Kreativität zum Thema Wandern und verschiedene Ausprägungen angeht. Ich glaube, Wandern wird – wie vor 100 Jahren – auch noch in 100 Jahren ein großes Thema sein."
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