Gut gelogen

"Alles neu erfinden, alles umlügen, dass sich die Balkan biegen, aber so verblüffend intim, dass es jeder glaubt." So beschreibt Joachim Lottmann seine Arbeitsweise. In "Auf der Borderline nachts um halb eins" begibt sich Lottmann auf ethnologische Feldforschung in Deutschland.
In seinem neuen Band mit gesammeltem "Borderline"-Journalismus ist Joachim Lottmann wieder feldforschermäßig im Wartburg unterwegs. Denn seitdem seine letzten Bücher "Die Jugend von heute" und "Zombie Nation" sagenhafte Erfolge wurden (behaupten kann man das ja mal), hagelt es Aufträge von den großen Blättern, die hier dokumentiert werden.

Aber auch ältere, schon verschollen geglaubte Porträts und Blog-Texte sind enthalten, Begegnungen mit mehr oder weniger Prominenten, von Sahra Wagenknecht über Thomas Kapielski (Devise: "Anständig jelebt und trotzdem allet jelesen!") bis Martin Kippenberger. Ganz aktuell ist die Tokio-Hotel-Hommage "Out of Magdeburg". Man muss nicht unbedingt wissen, wer Sophie Dannenberg oder Bettina Galvagni ist, um an den Porträts Lesevergnügen zu haben. Denn bei Lottmanns "etwas anderer Art der Wahrheitsfindung" kommt es weniger auf die Fakten als auf ihre Inszenierung an. Es geht letztlich nicht um Investigation, sondern um Erzählung.

Lottmanns rasant geschriebene Texte leben seit je vom faszinierend schillernden Gemisch von Realität und Fiktion. "Alles neu erfinden, alles umlügen, dass sich die Balkan biegen, aber so verblüffend intim, dass es jeder glaubt" – so hat er seine Arbeitsweise einmal charakterisiert. Der Autor spielt mit Versatzstücken der Realität, zugleich ist er ein großer Plünderer der Medienkultur. Prominente aller Schattierungen werden in die Simulationsmaschine seines Erzählens hineingesogen. Man liest seine Texte mit permanentem Fake-Verdacht, zugleich aber auch als Bruchstücke einer Konfession, die vor keiner Selbstentblößung zurückscheut, ebenso amüsant wie geschwätzig.

Denn auch in seinen journalistischen Arbeiten spricht Lottmann unaufhörlich über sich, scheinbar ganz offen und autobiographisch, doch tatsächlich hat er seine Vernebelungstaktiken. Lottmann beim Bekennen und Vernebeln zusehen, hat Unterhaltungswert, weil er in seinen Leiden und Lüsten, seinen Ängsten und Ressentiments, seinen Sehnsüchten und fixen Ideen doch etwas überraschend Repräsentatives hat. Einer, der unsere Gegenwart und die ganze um sie herumgegossene mediale Soße erlebt und erleidet. Ein literarischer Schmerzensmann.

Offensichtlich hat er eine unglückliche Kindheit im Gepäck, die sein Schreiben in nicht unerheblichem Maß antreibt. Sein Ariane-Sommer-Porträt (wer war noch mal Ariane Sommer?) bestreitet Lottmann zu drei Vierteln mit einer ins Komische gewendeten Erzählung seiner jugendlichen Liebeskatastrophen, bevor er auf die zeitweilig berühmteste Blondine Berlins schwärmerisch zu sprechen kommt.

Auf ewig muss er die Jugend nachholen, die keine war, jedenfalls keine Genussjugend, wie sie heute zum Fetisch und Konsumideal geworden ist. Lottmanns Jugendwahn ist deshalb vor allem eine Krise des Alterns. So beklagt er mit einigem Furor die zombiehafte Überalterung der deutschen Pop- und Medienkultur in den Texten über Berliner Sommerfeste und Echo-Verleihungen sowie im Bob-Geldof-Charity-Report.

Am besten ist Lottmann immer dann, wenn er den Ethnologen fremder Welten gibt. Höhepunkte des Buches sind ein Übernachtungsselbstversuch in der "schlechtesten Raststätte Deutschlands" (an der Berliner Avus), eine Erkundung Dortmunds mit Philipp Boa ("dieses Stalingrad der Nachkriegshoffnungen") und der genialische Kuba-Reisebericht "Die glücklichen Kinder der Revolution". Lottmann ist halb netter Onkel, halb bissiger Polemiker – gut immer dann, wenn er möglichst pauschal gegen etwas anschreiben kann. Was Kuba betrifft, liegt allerdings in der puren Lobhudelei die größte polemische Kraft.

Seinen Roman "Mai, Juni, Juli" aus dem Jahr 1987 hat Lottmann solange als Gründungsurkunde des deutschen Popromans angepriesen, bis es zur offiziellen Lesart geworden ist. Angeblich hat er bereits 30 bis 50 Romane geschrieben, fast alle unveröffentlicht. Darunter auch das legendäre "Unter Ärzten", in dem er mit seinen zwanzig Therapeuten abrechnet. Man fragt sich: Warum wird das nicht publiziert, wo der Name Lottmann inzwischen doch zu einer unverwechselbaren Marke im Literaturbetrieb geworden ist (jüngst erst hatte der Autor einen skurrilen Auftritt in Wolfgang Herrndorfs Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels"). Dieser neue Band des "Borderliners" macht jedenfalls Lust auf mehr.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Joachim Lottmann: Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein Leben als Deutschlandreporter
Kiwi
270 Seiten, 9,95 Euro