Gut geklaut

12.05.2011
Im Westen verehrt man das Original, in China schätzt man auch eine gelungene Kopie: Byung-Chul Han schildert die kulturellen Unterschiede im Umgang mit Kunstwerken.
2007 kam es zu einem interkulturellen Eklat. Nachdem bekannt wurde, dass die antiken chinesischen Terrakotta-Krieger, die im Hamburger Museum für Völkerkunde ausgestellt worden waren, in Wahrheit moderne Kopien waren, schloss das Museum die Ausstellung und entschuldigte sich bei den betrogenen Besuchern. Aber lag hier wirklich ein bewusster Betrug vor? Und wenn ja, war er dann böswillig?

In seinem neuen Buch "Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch" beschäftigt sich der Philosoph Byung-Chul Han mit dem Status des Kunstwerkes im westlichen und im fernöstlichen Denken. Während der westliche Weltzugang von Begriffen wie Sein, Ursprung und Substanz bestimmt ist, operiert das chinesische Denken in einem Kontinuum des Werdens, das weder Anfang noch Ende kennt. Es ist situationsgebunden, relational und spürt "den veränderlichen Konstellationen der Dinge (pragmata) nach".

Doch was bedeutet das für den Status des Kunstwerks? Im Westen ist dieser vom Gedanken des Originals bestimmt: Jedes Kunstwerk ist einmalig, geschaffen von einem bestimmten Künstler. Um es zu betrachten, vertieft man sich in die Subjektivität des Künstlers und seines Blicks, was wiederum die eigene Subjektivität verstärkt. "Der wahre Schauplatz des Bildes ist also die Seele", schreibt Byung-Chul Han.

Das chinesische Kunstwerk hingegen ist eher ein Ort, eine bestimmte Haltung dem ewigen Werden gegenüber. Es ist leer, flach und fade. Vor allem ist es per se unabgeschlossen und lädt alle kommenden Betrachter ein, ihre eigenen Spuren auf ihm zu hinterlassen. Um es angemessen wahrzunehmen, muss sich das Subjekt entleeren – "der Betrachter hält subjektlos Einzug ins Bild, das sich seinerseits deshalb so zu öffnen vermag, weil es von niemanden beseelt und bewohnt ist".

Diese prinzipielle Offenheit der chinesischen Werke ist schon ein Hinweis auf die dortige Praxis der einfühlenden Neuschöpfung, die im Gegensatz zum westlichen Original-Kult steht. Wenn ein Künstler gut genug ist, die alten Meister zu fälschen, wird das in China als Könnerschaft und eben nicht als bewusste Täuschung verstanden.

Denn Kopie ist nicht gleich Kopie. Im Chinesischen gibt es hier zwei Kategorien: "Fangzhipin", wo der Unterschied zwischen Original und Kopie offensichtlich ist. Und "Fuzhipin", exakte Reproduktionen eines Originals, die diesem somit gleichwertig sind. Dazwischen rangiert die Praxis des "Shanzhai", das ist der chinesische Neologismus für Fake. Shanzhai-Produkte wie "Harry Potter und die Porzellanpuppe" oder "Fallen Apple-Computer" sind keine Originale, aber sie spielen mit den Originalen und bringen dabei neue "Originale" hervor. Diese kontinuierliche Transformation und Aneignung beschreibt der Autor als Grundgestus des chinesischen Weltzugangs; ein "aktivistisches Differieren", das dem starren Sein ein kreatives Werden entgegensetzt.

Der Verdienst dieses klugen Büchleins ist nicht nur die elegante Beantwortung der beiden Eingangsfragen: Es war kein böswilliger Betrug. Vielmehr arbeitet es auch das subversive Potenzial des chinesischen Denkens insgesamt heraus. Byung-Chul Han traut ihm sogar zu, eines Tages eine echte Shanzhai-Demokratie hervorzubringen.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Byung-Chul Han: Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch
Merve Verlag, Berlin 2011
88 Seiten, 11 Euro