Autor Günther Rühle

Theater war der Stoff seines Lebens

Von Susanne Burkhardt · 10.12.2021
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Günther Rühle war Theaterkritiker, FAZ-Feuilletonchef, Intendant und der Autor wichtiger Bücher über das deutsche Theater nach 1945. In den letzten Jahren seines Lebens erfand er sich neu als "Fragmentarist". Jetzt ist Rühle 97-jährig gestorben.
Manchmal braucht es ein ganzes Leben, um bei sich selbst anzukommen. Günther Rühle brauchte mehr als 90 Jahre. Bis dahin hatte er sich selbst immer nur „durch Arbeit“ erforscht – er blieb, wie er sagte, seine „eigene Verschlusssache“.
Als diese Arbeit – eine andauernde Reibung am Theater – ihm durch Erblindung entzogen war und er damit „stillgestellt“, da horchte Rühle erstmals in sich selbst hinein und schrieb darüber.

Ich interessierte mich nie für mich, nur insofern: Was kannst du, was steckt in dir? Das Rühlsche Leistungsprinzip. Jetzt fühlt man sich, horcht in sich, erlebt die merkwürdigsten Dinge.

Sein „merkwürdiges Tagebuch“ ist das berührende Ergebnis dieser Selbsterkundung, die auch eine Erforschung der Zeitläufte wurde.

Akribische Arbeit am Riesenpuzzle

Darin viele Gedanken zu seinem so umfangreichen Werk: zum „Sicherkennen“ im Schreiben. Zu seinem jahrelangen akribischen Zusammentragen der noch so kleinen Details zur Theatergeschichte in vielen Büchern. Ergänzt durch Werkausgaben zu Alfred Kerr und Marieluise Fleißer.
Seine zwei Bände „Theater in Deutschland“ (von der Kaiserzeit bis in die 60er-Jahre) sind längst Standardwerke. Darin erzählt er von Theatermachern, Stückeschreibern und wichtigen Aufführungen. Ein Riesenpuzzle, zusammengefügt in Archiven anhand von Rezensionen, Briefe und Biografien. Rühle schreibt diese Theaterfamilien-Geschichte immer ein bisschen so, als sei er selbst dabei gewesen. Der „Stoff seines Lebens“, wie er es nannte.
Als der zweite Band 2014 erschien, erneut über ausführliche 1000 Seiten stark, da war Rühle bereits 90 und Schauspieler Ulrich Matthes begeistert:

„Das Schöne an dem Buch ist, und das unterscheidet Rühle von einem Theaterwissenschaftler: Das ist einfach ein sinnlicher Brocken.“

Ulrich Matthes, Schauspieler

Ein sinnlicher Brocken, der Gesellschaftsentwicklung anhand von Theatergeschichte erzählt, wie dem Wiederaufbau des Theaterlebens nach dem Zweiten Weltkrieg:
„Und plötzlich sah man, was ist in der Welt los, und man bekam wieder Kontakt, wenn man die Stücke der 50er-Jahre – von außen – zusammennimmt, die Erweiterung des Bewusstseins. Wir mussten alle unsere Bildung erneuern, als wir aus dem Krieg zurückkamen. Wir haben Brecht und Thomas Mann für Juden gehalten, weil sie alle draußen waren. So einfach war das.“

Die große Leistung der Kriegsgeneration

Auch der in Gießen geborene Rühle war so ein Bildungserneuerer: Mit 18 in den Krieg gezogen und mit 22 zurückgekehrt. Geläutert.
„Die große Leistung dieser Generation, die den Krieg ja mitverbrochen hatte, war, dass sie umlernen musste. Und zu diesem Umlernen hat das Theater unheimlich viel beigetragen, weil es den Weltanschluss wiederhergestellt haben.“
Im dritten Band über die Zeit von 1966 bis 1995 – „der noch geschrieben werden muss“ (Rühle) – hätte der profilierte Theaterkenner dann selbst eine Rolle gespielt. Denn 1985 wechselte der Journalist nach einigen Jahren bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (zunächst als Theaterkritiker, später als Feuilletonchef) die Seiten und übernahm für fünf Jahre die Intendanz am Frankfurter Schauspiel. Unter seiner Leitung – mit 61 Jahren „noch ganz jung“, wie er rückblickend festhielt – wurden die Schauspieler Martin Wuttke und Thomas Thieme entdeckt und der Regisseur Einar Schleef unterstützt.

Der Fassbinder-Skandal

Gleichzeitig loderten die „letzten Stichflammen des endenden Politischen Theaters“ auf im Antisemitismus-Skandal um Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Im Zentrum des Stücks ein reicher jüdischer skrupelloser Immobilienspekulant, für viele das „Zerrbild des Juden“ schlechthin.
Rechtsanwalt Hermann Alter, der mit der Jüdischen Gemeinde von Frankfurt gegen die Aufführung protestierte, erinnert sich:
„Wir haben vieles versucht, gesprochen mit Hilmar Hoffmann, es gab ein Gespräch in der Gemeinde mit Herrn Rühle, wo er da sitzt und wir versuchen, ihm klar zu machen, welche Emotionen er anritzt. Er so: 'Das Stück ist schlecht, es muss weg.' Daraufhin fragte ich: 'Warum spielen Sie es dann?' Ihm ging es nur darum, sich zu behaupten. Unsere Argumente haben ihn nicht interessiert.“ Das Stück musste schließlich abgesetzt werden.
Der dritte Band der deutschen Theatergeschichte wird sicher davon erzählen, er muss allerdings aufgrund von Rühles Erblindung unvollendet bleiben und wird als Fragment erscheinen. Für den von preußischer Arbeitsmoral geprägten Rühle ein schwerer Schlag. Er, der „beim Schreiben dachte“, der stets souverän mit Namen, Daten und Ereignissen jonglierte und nach Vollkommenheit strebte, musste sich in seinen letzten Lebensjahren als „Fragmentarist“ neu entdecken.

Theater ohne Gegner

Zu gern hätte man noch erfahren, wie er auf das heutige Theater schaut, dem, wie er vor Jahren sagte, der Gegner abhandengekommen sei und damit die Lessing‘sche Idee von einem Theater als Bewusstseinsbilder:
„Sie können auf dem Theater alles zeigen. Wir haben eine freie Gesellschaft, keine Gegner mehr, mit der Wende war die politische Konfrontation weg. Die Frage ist, wir können kein Theater mehr aus der Opposition machen nach dem alten Stil, sondern wir müssen eine neue Form von Theater finden. Die Autoren wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Es gibt Themen genug. Aber sie haben keine Form, wie man diese diffuse Gesellschaft, diese total liberalisierte Gesellschaft, in der jeder Recht hat ... wie kommt man mit dem auf dem Theater zurecht, das ist die Frage des Theaters heute.“

Selbstunterhalter und Alterskünstler

Rühle, der sein arbeitsreiches Leben unter dem Leitspruch führte „Durch, wenn auch in unbekannter Richtung“, lebte die letzten Jahre allein in einem großen leeren Haus. Er war ein sich erinnernder „Selbstunterhalter und Alterskünstler“.
In der bereits zu Lebzeiten für die Nachkommen entworfenen Todesanzeige zitiert er Seneca: „Uns gehört nichts. Nur die Zeit."

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