Günter Netzer

Der erste Popstar des deutschen Fußballs

23:41 Minuten
Günter Netzer im DFB-Pokalendspiel 1973 von Borussia Mönchengladbach gegen den 1. FC Köln
Günter Netzer nach seiner Selbsteinwechslung im DFB-Pokalendspiel 1973 gegen den 1. FC Köln. © Imago / Sven Simon
Von Stefan Osterhaus · 04.06.2023
Audio herunterladen
Im DFB-Pokalfinale 1973 wechselte sich Günter Netzer für Borussia Mönchengladbach selbst ein: Kaum ein anderer Moment steht so für den Mythos um den Star. Er begeisterte ein anderes Publikum für den Fußball – und der Sport wurde gesellschaftsfähig.
Reporter Ernst Huberty: „ Die wichtigste Information sofort: Mönchengladbach spielt ohne Günter Netzer. Er sitzt auf der Reservebank mit der Nummer zwölf."
Der 23. Juni 1973 im Düsseldorfer Rheinstadion: Der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach, die alten Rivalen treffen aufeinander. Ein Spiel, um das sich Legenden ranken. Nicht nur, weil es rasant zuging. Sondern weil sich am Ende alles um Günther Netzer drehte, den Spielmacher der Mannschaft vom Niederrhein.
Er war nicht dabei von Anfang an, in seinem letzten Spiel für die Borussia. Der Wechsel zu Real Madrid stand schon fest.

Netzer polarisierte

Netzer und die Königlichen: Das musste zusammenpassen. Denn Günter Netzer war nicht einfach nur ein Weltklassespieler.
Er war eine glamouröse Figur, einer der polarisierte, wie bei dieser Autogrammstunde im Jahr 1972 deutlich wird:
Fan: „Für meine Begriffe ein großer Fußballspieler, für mich der größte.“
Fan: „Als Fußballer sehr viel. Aber so wie er jetzt aussieht mit den Haaren, Bin ich ein bisschen enttäuscht, muss ich sagen, die Haare.“
Reporter: „Sie betreiben in Mönchengladbach eine große Diskothek, sind sie auch selbst hin und wieder einmal hinter der Theke anzutreffen?“
Netzer: „Nicht hinter der Theke. Aber ich halte mich hin und wieder in diesem Lokal auf, was sicher unbedingt erforderlich ist. Nicht, um meine Leute zu kontrollieren, sondern um den Leuten genüge zu tun, die mich in diesem Lokal sehen wollen.“

Netzer hatte Glamour

Er war also nicht nur ein Profi, der das Geschäft verstand. Kein Fußballer der 70er-Jahre in der Bundesrepublik verkörperte den Zeitgeist so sehr wie Günter Netzer.
In Bonn regierte die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“, war die Devise des Kanzlers. Gesellschaftlich standen die Zeichen auf Aufbruch.
Man trug Schlaghosen, die Haare wurden länger. Die Musik zur Zeit? Glam Rock.
Eine Legende war er schon, als das Pokalfinale im Düsseldorfer Rheinstadion angepfiffen wurde. 1971 deklassierte die Borussia im später wegen eines Büchsenwurf annullierten Europacupspiels Inter Mailand mit 7:1.
Auch im Nationalteam glänzte er. 1972 wurde Deutschland Europameister, gewann im Viertelfinale als erste deutsche Elf im Londoner Wembley-Stadion. Der Regisseur: Günter Netzer.
Seine großen Auftritte abseits des Platzes zelebrierte der Spielmacher regelrecht.
Rainer Bonhof gehörte wie Netzer zur legendären Gladbacher Elf der 1970er-Jahre unter ihrem Trainer Hennes Weisweiler.
1974 wurde Bonhof mit Deutschland Weltmeister. Er erinnert sich an seinen Mitspieler:
„Auf der anderen Seite war so eine Situation, wo er dann mit völlig anderen Autos rumfuhr, als als wir zu dem Zeitpunkt. Also, ich sage mal bei uns war, wenn einer Porsche fuhr, das schon ein außergewöhnliches Ding. Und auf der anderen Seite kommt Günter mit einem Ferrari.“
Fußballstar Günter Netzer mit seinem Dino Ferrari
Günter Netzer mit seinem Ferrari Anfang der 70er-Jahre© picture alliance / Sven Simon
Der Sportwagen parkte manchmal vor einem ganz besonderen Lokal in der Gladbacher Innenstadt: dem Lovers Lane. Das war Netzers eigene Diskothek.
Rainer Bonhof: „Und dann geht er zum Weisweiler und sagt zu dem Weisweiler: ‚Hören se mal, Chef. Nicht, dass sie das aus der Zeitung erfahren: Ich mache eine Diskothek auf.’
Das war genau das Richtige. Auf dieser Ebene war der Günter unendlich unterwegs. Das hat ihn auch außergewöhnlich gemacht. Unabhängig davon, dass wir oft auch gemeinsam zu Spielen fuhren oder mussten damals mit unseren Privatautos vom Stadion durch die ganze Stadt.
Wo dann Wetten liefen, wer als Erster da ist und so. Wr haben die Dinge damals sehr genossen - und Günter war da eigentlich einer von uns. Der war jetzt nicht so, dass du sagst: Der war irgendwo anders auf dem Planeten unterwegs.“

Nachricht vom Wechsel nach Madrid schockierte

Wie von einem anderen Planeten erschien dieser Regisseur der Borussia dagegen machen Zeitgenossen. Und mancher verübelte ihm den Wechsel zu Real Madrid. Hatte ihn Trainer Hennes Weisweiler deshalb nicht aufgeboten?
Rainer Bonhof erinnert sich. Die Nachricht, dass Netzer Mönchengladbach verlassen werde, war ein Schock, sagt Rainer Bonhof:

Ich glaube, erst einmal war eine Betroffenheit da, weil die Menschen dachten, es geht nicht mehr weiter ohne Günter. Für Günter selber hat es mich gefreut. Er war, glaube ich, elf Jahre zu dem Zeitpunkt in Gladbach. Er hatte alles gewonnen, was man gewinnen konnte, mit Borussia. Später kamen noch ein paar Titel dazu.

Rainer Bonhof

Nur war es ein Angebot, das Netzer gar nicht ablehnen konnte, sagt Rainer Bonhof:
„Der Punkt war, dass er sagt: ‚Ich kann Madrid doch nicht absagen.‘ Das geht doch gar nicht. Und dementsprechend waren es eben zwei Begrifflichkeiten: die eine in der Bevölkerung. Wie soll es jetzt weitergehen ohne Günter?
Und die andere Begrifflichkeit für uns als Spieler, dass jeder ihm das gönnte, nach Madrid zu gehen. Dass dann später da noch Vergleiche kamen, die dann wiederum ,ich sage mal, ein bisschen anrüchig waren', das war eine andere Geschichte.“
Günter Netzer im Trikot von Real Madrid
Günter Netzer im Trikot von Real Madrid© Imago Sportfotodienst
Rainer Bonhof erinnert sich an die schwierige Situation für den Spielmacher - und auch für die Mannschaft. „In der Woche vorher war die Mutter von Günter verstorben. Und er war bei der Ländermannschaft im Berlin wegen Länderspiel Brasilien.
Dann kam er zurück, konnte nicht richtig trainieren wegen den Beerdigungsvorbereitungen. Und dann war dieses Spiel. Es waren gefühlte 38 Grad. Und dann die beiden Rivalen gegeneinander, Köln gegen Gladbach auf der anderen Seite. Dann Günter nicht von Anfang an dabei.“
Netzer reagiert vergrätzt. Als sei es Majestätsbeleidigung.
„Günter wollte eigentlich morgens nach Hause fahren, nachdem er erfahren hatte, dass er nicht in der Stammelf ist. Wir Spieler haben dann oder ich noch nicht einmal, sondern Berti Vogts, Hacki und Jupp Heynckes, die haben gesagt, wir brauchen dich, auch wenn du nur auf der Bank sitzt."

Ein Spiel wie ein Rausch 

Auch ohne Netzer beginnt Gladbach spektakulär: Angriff folgt auf Angriff. Die Borussia geht in Führung. Aber Köln gleicht noch vor der Halbzeit aus: Es ist ein Spektakel, ein Spiel wie ein Rausch. Wer braucht schon Günter Netzer?
Trainer Weisweiler will dem enormen Tempo bei hohen Temperaturen nach der Halbzeit mit einen Wechsel begegnen. Günter Netzer soll rein. Weisweiler fordert ihn dazu auf.
Rainer Bonhof: „In der Halbzeit war so die Brisanz: ‚Ja, jetzt sind Sie dran!‘ Also wenn es ernst wurde, hat er immer mit Vornamen gesiezt. ‚Jetzt sind Sie dran!’ Da hat er da der Günter darauf geantwortet: ‚Ich kann denen jetzt noch nicht helfen. Ich spiele jetzt nicht.'''
Glatte Arbeitsverweigerung am letzten Tag. Das wurde auch auf der Gegenseite registriert, bei den Kölnern.

Auf Kölner Seite spielte Wolfgang Overath

Netzer war nicht der einzige Regisseur von Weltklasseformat im Rheinstadion. Auf Kölner Seite stand sein großer Konkurrent Wolfgang Overath, ein Crack.
Er erinnert sich: „Was soll ich sagen? Was hängen geblieben ist, ist die Geschichte mit meinem Freund, der wohl sich geweigert hat, sich einwechseln zu lassen."
Tatsächlich - so war es. Netzer weigerte sich. Aber das Spiel läuft bei unvermindertem Tempo weiter.
Es geht in die Verlängerung. Auf einmal regt sich Netzer.
Kurt Brumme: „Und eine kleine Überraschung ist in diesem Augenblick geschehen. Trainer Hennes Weisweiler schickt für Kulik - na, wen wohl, aufs Spielfeld? - Günter Netzer kommt doch noch zu seiner Abschiedsvorstellung. Der Mönchengladbacher hat sich entschlossen, am letzten Spiel seiner Mannschaft, für die er so viele Jahre gekämpft hat, teilzunehmen."

"Chef, ich spiele jetzt"

Kaum auf dem Spielfeld, ist er wieder der Chef. Aber wie kam es zu dem Sinneswandel?
Rainer Bonhof: „Günter ging dann zum zum Chris Kulik, der wirklich auf dem Zahnfleisch lief. Dann muss man ganz ehrlich sagen. Der Günter ging zum Chris Kulik und gesagt: ‚Chris, kannst du noch?‘ ‚Nee, ich bin fertig‘, sagt er, ‚ich kann gar nichts mehr. Ich laufe nur noch über den Kopf.’  Ja, sagt er: ‚Okay, dann sage ich dem Weisweiler, dass ich jetzt spiele.‘ Und dann ist er an der Bank, wo der Hennes Weisweiler saß, nein, er stand sogar,  der war mit uns am Betreuen, hat dann zu ihm gesagt: ‚Chef, ich spiele jetzt.‘ So, und jetzt konnte er nichts mehr machen.“

Und dann entscheidet er das Spiel

War es eine bewusste Rebellion gegen den Trainer? Oder einfach die Einsicht, dass es ohne ihn nicht geht?
Netzer selber weiss es bis heute nicht:

In diesem Augenblick, ich kann es bis heute nicht erklären, konnte es auch damals nicht erklären: Automatisch entledige ich mich meiner Trainingsjacke, ziehen eine Trainingshose aus, renne am Weisweiler vorbei und sagte: ‚Ich spiele dann jetzt'.

Günter Netzer

Und dann, er ist gerade zwei Minuten im Spiel, passierte, was passieren musste.
Reporter Kurt Brumme: „Danner, zu Vogts, zu Netzer. Netzer am Ball und schon erhebt so Gepfeife, wie eben bei Overath zu hören war. Netzer steht am Ball. Und schießt ein Tor! Das ist unglaublich."
Rainer Bonhof blickt auf die Szene zurück:„Dann passiert das, was immer passierte. Zwei Minuten drin, Doppelpass mit mir. Patsch, das Ding oben im Winkel. Also Schöneres, ich sage mal 'Skript", konnte es nicht geben für diesen Tag. Das war schon ein Ding, wo du sagst: Ja, das geht in die Annalen ein. Das war schon vom Ablauf her so geprägt, dass es eigentlich in die Annalen eingehen musste."
Günter Netzer (links) und Rainer Bonhof im Trikot von Borussia Mönchengladbach
Günter Netzer (links) und Rainer Bonhof spielten bei Borussia Mönchengladbach und in der Nationalmannschaft zusammen.© Imago sportfotodienst
Wolfgang Overath war da schon nicht mehr im Spiel. Er hatte das Feld angeschlagen verlassen. Er beobachtete die Szene in der 94. Spielminute von draußen. Eindruck hat sie auf ihn dennoch unterlassen:
„Ich glaube der Konopka, wenn ich das so noch im Kopf habe, der Günter Doppelpass gespeilt, und der Harald Konopka ist, glaube ich in der Situation stehen geblieben. Der Günter spielt, und er hat einen Ball zurück und haute mit seinem Linken sogar oben ins Dreieck."
Ein Spiel, eine Aktion, die wie keine andere für den Mythos des blonden Spielmachers steht. Eine Szene, in der manche sogar einen Akt des zivilen Ungehorsams sehen wollten.

Intellektuelle und der Fußball

Aber ist es alleine der Fußball, der Netzer zu einem Solitär macht? Dazu wurde er erst durch eine Besonderheit: Er war der erste Fußballer, mit dem sich Intellektuelle beschäftigten.
Kaum ein Text über ihn kommt ohne die legendäre Wendung aus: „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes.“
Dabei hat es diesen Satz so gar nicht gegeben. Die Wendung stammt, etwas abgewandelt, aus einem Text des "FAZ"-Literaturkritikers Karl Heinz Bohrer.
Der war vom Spiel des Gladbachers fasziniert. In einem Aufsatz über das Londoner Wembley-Stadion, in dem er die Langeweile im Spiel der Engländer beklagte, erinnerte er sich an die Wembley-Elf um dem Torschützen Netzer.
Er schrieb: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'Thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver. Das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum. 'Thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende.“

Mit Netzer begann das deutsche Fußball-Feuilleton

Es ist eine bedeutende Passage. Denn diese Sätze standen am Anfang dessen, was heute als Fußball-Feuilleton bezeichnet wird – die Auseinandersetzung mit dem Fußballs als Metapher, als intellektuelles Vergnügen, in dem es nicht darum geht, wer mehr Zweikämpfe gewinnt. Sondern darum, was der Fußball über seine Zeit abseits des Spielfeldes erzählt.
Dabei hatte Bohrer ein feines Gespür. Den Spieler Netzer habe er sehr treffend eingefangen mit seiner genialen Umschreibung, findet Rainer Bonhof:
„Da war sehr viel Wahrheit dran in diesem Spruch. Wenn der Günter antrat mit dem Ball am Fuß und den wallenden Haaren: Also, das war schon ästhetisch gut anzusehen. So und darüber hinaus kam dann meistens noch etwas Gutes bei rum, wenn er ein Pässchen schlug oder selbst ein Tor machte. Aber das war Günter so, wie er leibte und lebte. Wenn der richtig Wut hatte, dann konnte den keiner halten.“ 

Netzer suchte keine Show

Netzer ist durchaus geschmeichelt von der Rezeption seiner Fußballkunst:
Ich bin schon ein wenig stolz darauf, dass ich vielleicht der erste Spieler war, wo sich das Feuilleton mit beschäftigt hat, dass die in meine Art und Weise, Fußball zu spielen, doch Dinge hineininterpretiert haben, die wir in unserer derben Fußballsprache nicht ausgedrückt haben. Aber die Wahrheit war einzig und allein, dass ich keine Show gesucht habe, keine Show gemacht habe, sondern dass ich mir die denkbar besten Voraussetzungen immer gesucht habe, um das, was ich hinterher tun musste, den Elfmeter zu verwandeln, den Freistoß zu verwandeln, dass ich dafür ausgestattet sein musste mit den besten Voraussetzungen.
Aber hatte Bohrer tatsächlich das gemeint, was alle in Netzer sehen wollten? Den Rebellen, den Nonkonformisten, ja sogar eine politische Figur?
Helmut Böttiger ist Literaturkritiker. Der Fußball ist für ihn eine Leidenschaft. Drei Bücher über Fußball hat er geschrieben, darunter eine bemerkenswerte, leider vergriffene Netzer-Biografie. Einer politischen Deutung der Figur kann er wenig abgewinnen.
Und Böttiger ist sicher: Auch Karl Heinz Bohrer hatte das nicht im Sinn.

Also bei Bohrer ist es ganz eindeutig, das ist rein ästhetisch. Bohrer steht wirklich nicht im Verdacht, da irgendwie politisch argumentiert zu haben. Es geht auch gar nicht darum bei Netzer. Jeder wusste, dass Netzer eigentlich unpolitisch ist, und jeder wusste, dass Netzer jetzt kein großer Kulturbürger und Intellektueller ist. Aber das Bild, das um ihn entstand, lud dazu geradezu ein. Also, es gab in den 70er-Jahren schon so spielerische Betrachtungsweisen, dass Bayern München und Borussia Mönchengladbach, die beiden Vereine sind, die auch gesellschaftspolitisch als Opponenten zu begreifen sind.

Literaturkritiker Helmut Böttiger

Der Schriftsteller Helmut Böttiger
Helmut Böttiger ist Autor einer Netzer-Biografie.© Imago / Gezett
Allerdings bot sich Netzer als Projektionsfläche geradezu an. Und so ließ sich, vor allem im Rückblick, weit mehr in die großen Duelle der 70er-Jahre hineindeuten, so Böttiger:
„Das ist natürlich ein Spiel. Bayern CSU, Gladbach, dieser langhaarige Netzer, dieser schwungvolle Angriffsfußball. Da konnte man sehr viel ideologisch aufladen an diesen beiden Vereinen. Das hat mit fußballpragmatischen Überlegungen überhaupt nichts zu tun, weil die beiden Fußballmannschaften bestanden aus Fußballspielern, die sich im Grunde gar nicht so groß unterschieden haben.“

"Netzer ist kein Intellektueller"

So erschien es den Zeitgenossen, wie Böttiger schreibt, als hätten seine Pässe „den Geist der Utopie“ geatmet. Obwohl er das, was die Fußballintellektuellen in ihm sahen, gar nicht hätte einlösen können, sagt Böttiger:

Netzer ist kein Intellektueller. Netzer ist überhaupt nicht der, zu dem man ihn im Feuilleton stilisieren kann. Er bietet sich zwar für viele Metaphern an und für viele Jahre ästhetische Interpretationen, aber als Typ ist er eher ein normaler Fußballspieler. Und diesen Widerspruch, der ist in meiner Biografie schon drin enthalten. Also das ist keine übliche Fußball-Star-Biografie, sondern das ist zwischen den Zeilen schon eine Auseinandersetzung damit. Netzer ist eine Projektionsfigur für kulturell Interessierte, für Ästheten. Aber als Person gibt er das gar nicht her.

Helmut Böttiger, Literaturkritiker und Netzer-Biograf

Dominierend war die Erscheinung, die Ästhetik. Das sieht auch sein Mitspieler Rainer Bonhof so: 
„Lange blonde Haare, das war eigentlich nur in San Francisco zu sehen. Bei den Hippies. Günter ließ die Dinger dann wachsen, und plötzlich waren die schulterlang und das wallende Ding: Wenn der antrat, flogen die nach hinten, dann war es so. Das war ja nicht nur, dass es ästhetisch schön aussah, sondern es wurde ja auch zu seinem Markenzeichen. Und dann zieht er da auf dem auf dem Platz immer so eine geniale Show ab. Das war schon so schon ein völlig anderer: Ja, man kann das schon als Mythos bezeichnen.“
Und der ist immer noch so mächtig und verblasst nicht. Und selbst wenn Netzer verklärt wird, wenn er nicht die Figur ist, die seine Exegeten in ihm sehen wollten: Wo gibt es heute im Weltfußball einen Star, der für Feuilletonisten eine derartige Projektionsfläche abgibt?

Keine überragende Karriere

Einen Spieler, der, ob gewollt, oder nicht, durch seine Erscheinung weit über den Fußball hinaus reicht? Es gibt keinen - weder Messi noch Ronaldo. Der letzte war wohl Diego Maradona.
Eines ist klar: Je trüber die Wirklichkeit, desto schillernder erscheinen uns heute die Legenden der Vergangenheit. Dabei hat Netzer, bei allem Glamour, ja gar keine überragende Karriere gehabt: Den Europacup der Landesmeister, die heutige Champions League, hat er auch mit Real Madrid nicht gewonnen.
Und bei der Weltmeisterschaft 1974 spielte sein Konkurrent Wolfgang Overath. Netzer kommt auf bloß 37 Länderspiele. Dafür hat er selber eine simple Erklärung:
„Weil ich nicht ambitioniert genug war. Ich war ein Provinzfürst, sehr lange Zeit meines Lebens in Mönchengladbach und war sehr zufrieden damit. Ich persönlich habe dieses nicht verinnerlicht gehabt, die Nationalmannschaft.“

Ein Abschied wie kein anderer

Ein Provinzfürst - das zeigt: Netzer hat die Fähigkeit zur Selbstironie, er betrachtet die eigene Karriere wohlwollend-distanziert.
Nur wird im Rückblick eines klar: Nichts beflügelte die Verklärung so sehr wie seine Selbsteinwechslung, die als Revolution auf dem Rasen begriffen wurde.
Sie vermochte damals zu faszinieren, genau wie heute. Da setzte sich einer über Autoritäten hinweg. Noch dazu ein Abschied, wie er sich nicht besser inszenieren lassen würde.
Kurt Brumme, der Reporter:
„Die Strapazen haben sie jetzt alle niedergemacht. Sie haben alle keine Kraft mehr. Es war ein mörderisches Spiel. Und es ist beendet. Und in Mönchengladbach steht der 30. deutsche Pokalsieger fest, etwas glücklich, aber man kann nicht sagen unverdient. Der 1. FC Köln verliert in der Verlängerung gegen Mönchengladbach in einem ausgesprochen guten Pokalspiel mit 1:2-Toren. Führung durch Mönchengladbach durch Wimmer ausgleichen durch Herbert Neumann und dann in der Verlängerung, als Günter Netzer aufs Spielfeld kommt, durch diesen Spieler als Abschiedsgeschenk sozusagen: Torschuss und deutscher Pokalsieger in der 93. Minute.“

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema