Günter Kunert: "Die zweite Frau"

Rutschpartie in die enge ostdeutsche Welt

Lange Schlangen bilden sich am 5. April 1979 vor einem Ostberliner Intershop-Laden nach der Bekanntgabe, daß DDR-Bürger dort ab dem 16.4.1979 nicht mehr mit West-Geld, sondern nur noch mit Gutscheinen einkaufen können.
Kunert erzählt in seinem Buch von der gähnenden Leere in den Geschäften und dem duftenden Übermaß im Intershop. © picture-alliance / dpa / DB Schulz; Wallstein
Von Elke Schlinsog · 14.02.2019
Vor 45 Jahren schrieb Günter Kunert einen Roman über sein Land, die DDR. So ehrlich, dass er ihn keinem Verlag zeigte. Mit Ende 80 hat er "Die zweite Frau" beim Kelleraufräumen wiedergefunden - und das Buch jetzt veröffentlicht.
Es klingt wie ein Märchen: Als Günter Kunert vor drei Jahren seinen Keller aufräumte, auf der Suche nach alten Gedichten, stieß er in einer Kiste auf einen Roman, den er bereits 1974/1975 geschrieben hatte. So frech, brisant, so "politisch unmöglich", dass Kunert, der damals noch in der DDR lebte, es erst gar nicht einem Verlag vorlegte.
In diesem Bewusstsein, den Text ohnehin nicht veröffentlichen zu können, schrieb er munter drauflos, ohne Grenzen und Schrecken im Nacken: über Stasi-Deppen, Tristesse im DDR-Alltag, inklusive Pornoheftchenschmuggel über die Grenze. Es ist wahrlich ein kühner Roman, völlig frei vom sozialistischen Geist, in allen Richtungen unkorrekt. Was für ein Fund! Was wir jetzt in den Händen halten, ist eine kleine Zeitreise in die DDR.

Auf Geschenksuche für die Frau in DDR-Geschäften

Günter Kunert, einer der produktivsten Schriftsteller Deutschlands, ist eher für seine Gedichte, Kurzgeschichten und Hörspiele bekannt, als Romanautor kennt man ihn weniger. Nun also ein Roman, witzig und frech, geschrieben in der Mitte seines Lebens, da war Kunert 47 Jahre alt. Mit der ersten Szene, in der wir einen mittelmäßig gelangweilten Akademiker kennenlernen, der auf der Gartenliege unter dem "Zentralorgan der SED" eingeschlafen ist, um kurz darauf aus einem Alptraum über Walter Ulbricht aufzuschrecken, bereits mit dieser Szene sind wir mittendrin in allerlei DDR-Kuriositäten.
Barthold heißt der sympathische Antiheld, dessen mäandernden Gedankenströmen man gerne folgt: Der sinnt nicht nur über das Warten in all seinen Erscheinungsformen nach, zum Beispiel ob man das Anstehen in Fleischereien durch Vorträge über mitteleuropäische Tierwelt verkürzen könnte, oder darüber, welches Geschenk er seiner Frau zum 40. Geburtstag machen könnte. Aber die Auswahl in den Geschäften ist ebenso entmutigend wie seine Einfallslosigkeit. Im heiter-bösen Ton nimmt der Roman Fahrt auf, in dem man sich mit all seinen Verwicklungen wunderbar verlieren kann.

Kunert konserviert ein ganzes DDR-Gefühl

So eindringlich und sprachlich elegant wurde man schon lange nicht mehr in DDR-Alltagsgeschichten hineingebeamt. Kunert erzählt über die gähnende Leere in den Geschäften, das duftende Übermaß im Intershop oder wie der Stasi-Mann durchs Gartentor platzt. Wer den Osten kennt, fühlt sich kurzerhand zurückversetzt in eine Zeit des Stillstandes und der Leere, der Überwachung und des Misstrauens – und wie es sich anfühlte, in zwei Leben zu leben, einem offenen und einem geheimen. Haargenau konserviert Kunert ein ganzes DDR-Gefühl.
Sein wiederentdeckter Roman ist eine frische, spritzige Rutschpartie in die enge ostdeutsche Welt. 1976 gerät Kunert als Unterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann kulturpolitisch ganz ins Abseits. Drei Jahre später verlässt er die DDR in Richtung Bundesrepublik.

"Angst bringt uns um die Lebensintensität"

"Die zweite Frau" ist "ein typischer Günter Kunert", er bleibt einer der ironie- und humorbegabtesten deutschen Autoren überhaupt. Schon früh, als jüdisches Kind in den 40er-Jahren im Nazi-Berlin aufgewachsen, hat er sich eine Weltsicht zu eigen gemacht, auch die schweren und schrecklichen Dinge von der komischen Seite her zu betrachten. Diese verspielte Ironie kennt man von Adolf Endler und Katja Lange-Müller, aber sie ist selten in der deutschen Literatur. Kunert hat sie sich bis heute bewahrt. Bleibt er auch in seinen Gedichten der große Skeptiker, in der Prosa ist und bleibt er der herrliche Spötter.
Am Ende erfahren wir die schöne Einsicht, dass Vorsicht und Literatur sich nicht vertragen, "unsere Angst, anzuecken und Ärger zu kriegen, bringt uns um die Lebensintensität"." Allem Ärger zum Trotz hat sich Günter Kunert bereits vor 45 Jahren in einen wahren Lebensintensitätsrausch geschrieben, der anhält, er wird im März 90 Jahre alt.

Günter Kunert: "Die zweite Frau"
Wallstein, Göttingen 2019
200 Seiten, 20 Euro

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