Günter Grass trommelt wieder für die SPD

Kolja Mensing im Gespräch mit Susanne Führer · 08.09.2009
Der 81-jährige Literaturnobelpreisträger Günter Grass startet in Berlin mit einer politischen Lesereise, bei der er für die SPD werben will. Sie wird ihn ausschließlich in ostdeutsche Städte führen.
Susanne Führer: Das war am 19.11.1972, als Willy Brandt und neben ihm Günter Grass die Huldigungen genossen. Die SPD war stärkste Partei geworden, Willy Brandt Bundeskanzler. Heute ist der 8. September 2009, die Bundestagswahl ist noch nicht entschieden, aber mit einiger Sicherheit kann man voraussagen, dass die SPD nicht stärkste Partei werden wird. Der Kanzlerkandidat heißt anders als damals, auch die Wahlparty wird nicht mehr in Bonn stattfinden, aber einer ist immer noch und wieder dabei: Günter Grass. Heute ging er los, sein Wahlkampf für die SPD. Um 12.30 Uhr war Presseauftakt in Berlin. Mit dabei unser Literaturkritiker Kolja Mensing. An den Wahlkampf 1972 können Sie sich wohl nicht erinnern, denn da waren Sie erst ein Jahr alt, ich hab mal nachgeguckt.

Kolja Mensing: Das ist richtig, ja.

Führer: Wie war’s denn heute?

Mensing: Na ja, ach eigentlich war es ganz schön. Es gab am Anfang erst mal so ein kleines Missverständnis, weil diese Veranstaltung in der Berlinischen Galerie hier in Berlin-Mitte war eigentlich gedacht als Pressetermin, auf dem Günter Grass nun eben seine politische Lesereise den Medien vorstellen sollte. Aber die SPD hat also offenbar in ihren Pressemitteilungen den Eindruck erweckt, dass es jetzt hier und heute schon losgehen soll in Berlin. Und kurz, also es war so, dass eine Horde älterer Damen, so eine Art Günter-Grass-Fanclub, den Saal dann noch vor der doch recht ansehnlichen Zahl von Journalisten stürmte, und die durften dann natürlich auch bleiben. Das ist ja bei den Sozialdemokraten immer alles ganz einfach.

Führer: Na, da war ja wenigstens ein bisschen Stimmung in der Bude. Eine Horde älterer Damen, haben Sie gerade wenig charmant gesagt. Günter Grass selbst ist ja 81 Jahre alt, Literaturnobelpreisträger. Also nun trommelt er wieder für die SPD. Wie überzeugend hat er denn auf Sie gewirkt, dieses Urgestein sozusagen?

Mensing: Der Günter Grass, der ist jetzt eigentlich schon der Wahlsieger vorab, das kann man so sagen. Schriftsteller machen ja eigentlich immer ein ausgesprochen gutes Bild, wenn sie gemeinsam mit Politikern auftreten, das war jetzt auch wieder so. Also der SPD-Kandidat Björn Böhning war da und Wolfgang Thierse war da, die haben so ein paar einleitende Sätze gesprochen, und das war so das übliche routinierte Gerede. Und dann trat eben Günter Grass, der Nobelpreisträger, ans Mikrofon und zeigte erst einmal, dass große Gefühle eben auch dazugehören, wenn’s um Politik geht.

Führer: Günter Grass also heute Mittag hier in Berlin will Herbert Wehner ersetzen. Er will eine politische Lesereise unternehmen, Kolja Mensing, haben Sie erzählt, eine politische Lesereise für die SPD. Und die führt ihn erstaunlicherweise oder auch nicht erstaunlicherweise, auf jeden Fall führt die ihn ausschließlich in ostdeutsche Städte. Warum das?

Mensing: Ich vermute, dass das zwei Gründe hat. Also der erste Grund liegt natürlich auf der Hand: Günter Grass, das ist eine Integrationsfigur. Er ist selbst natürlich Westdeutscher, versteht sich allerdings seit dem Wendejahr '89 so als Anwalt der Ostdeutschen. Er hat sich immer wieder bemüht, ihre Sorgen und Ängste nach der Wiedervereinigung zu verstehen, und er scheut sich auch nicht vor markigen irgendwie antikapitalistischen Stammtischsprüchen. Er hat dann gerade erst auf irgendeinem Rande einer Lesung wieder die Abwickler der Treuhand mit den Investmentbankern verglichen, die uns eben die aktuelle Finanzkrise beschert haben. Das ist natürlich eigentlich O-Ton Lothar Bisky, und vielleicht gelingt es Günter Grass ja auch, den Linken dann im Auftrag der SPD ein paar Wähler abzujagen. Nötig genug hätte die Partei es ja. Ich könnte mir vorstellen, dass es noch einen zweiten Grund gegeben hat: Günter Grass und seine Schriftsteller-Taskforce jetzt ausgerechnet im Osten einzusetzen, so als SPD-Wunderwaffe. In der DDR hatte man ja immer ein sehr viel größeres Vertrauen in die subversive Kraft der Kultur als in Westdeutschland. Also Beispiel Christa Wolf, diese Produktion von nicht stromlinienförmiger, nicht parteigerechter Literatur wurde so als Akt des Widerstandes betrachtet, und vielleicht hofft die SPD ja jetzt, dass Grass und seine Kollegen – darunter sind auch ostdeutsche Schriftsteller, Jens Sparschuh, Thomas Rosenlöcher –, dass sie ihnen so eine Art Glaubwürdigkeitsbonus auf dem Gebiet der ehemaligen DDR verschaffen können.

Führer: Der Schriftsteller Günter Grass trommelt wieder für die SPD vor der Bundestagswahl. Im Deutschlandradio Kultur Kolja Mensing, der heute beim Presseauftakt in Berlin dabei war. Jetzt haben Sie zwei Namen genannt – wie verhalten sich denn ansonsten die jüngeren Schriftsteller, wer macht denn noch mit außer Grass?

Mensing: Ja, wer macht denn noch mit? Also diese Namen sind eigentlich erst mal keine Überraschung. Günter Grass – wir haben’s jetzt mehrmals gesagt –, der macht das schon seit 40 Jahren. Dann sind Tilman Spengler und Friedrich Christian Delius dabei, so klassische 68er, engagierte, linke Schriftsteller und Publizisten, das ist so der Old Boys Club. Also wenn die jetzt nicht dabei gewesen wären, dann wären wir eigentlich auch alle enttäuscht gewesen. Es gibt dann eigentlich zwei interessante Namen auf der Liste: Einmal ist das Michael Kumpfmüller, Jahrgang '61, das ist also so die Generation der jüngeren Brüder der 68er, und das ist eigentlich gar nicht so der Typ engagierter Schriftsteller, der das Gutmenschentum als Nebenerwerb betreibt, sondern das ist jemand, der sich tatsächlich interessiert auch für Politik als Sujets. Der hat in seinem letzten Roman "Nachricht an alle" über das Berliner politische Milieu geschrieben. Die Handlungsplätze waren damals Flure des Innenministeriums, Abgeordnetenbüros, Rückbänke von Dienstwagen – also das finde ich schon mal ganz interessant. Und die zweite Überraschung, das ist Steffen Kopetzky. Jahrgang '71, ein Schriftsteller, der in den 90er-Jahren uns Literaturkritiker gewaltig geärgert hat mit so Autorenfotos, auf denen er immer maßgeschneiderte Anzüge anhatte und ganz schnöselige Interviews gegeben hat. Dieser Steffen Kopetzky ist inzwischen in seine Heimatstadt Pfaffenhofen zurückgekehrt und ist dort als Parteiloser für die SPD in den Stadtrat eingezogen. Der macht jetzt also richtig Kommunalpolitik, ziemlich uncool eigentlich. Und keine Frage, der steigt natürlich jetzt auch in den Ring für die Bundespartei.

Führer: Aber, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das eben eine große Ausnahme. Also warum machen die jüngeren Schriftsteller nicht mit, also weiter gefasst, muss ja jetzt nicht für die SPD sein, warum engagieren die sich überhaupt so wenig für eine politische Partei?

Mensing: Es gab diesen Streit ja schon bei der letzten Bundestagswahl 2005. Also ich glaube, dass Schriftsteller immer wieder die Nähe suchen der Macht, und das nicht nur, weil sie irgendwie das Land verändern wollen, sondern weil sie auch erst mal hoffen, dass sie von der Aura, die die Großen und Mächtigen umgibt, dass sie davon auch etwas abbekommen. Und das funktioniert natürlich nicht mit jedem Politiker, und Frank-Walter Steinmeier, das muss man leider sagen, ist eben nicht Barack Obama, er ist auch nicht Willy Brandt, er ist nicht einmal Gerhard Schröder. Dieser Mann ist, vorsichtig gesagt, einfach zu sachlich, als dass man sich in seinem Glanz sonnen könnte. Und ganz davon abgesehen, glaube ich aber, dass die Frage der Nähe und Distanz zur Politik für Schriftsteller eben so eine Generationenfrage ist. Wer in Deutschland in den 70er-Jahren geboren ist, wer in den 80er-Jahren aufgewachsen ist, der hat einfach nicht den besten Eindruck von Politik bekommen. In Westdeutschland war die Gesellschaft unter Helmut Kohl in so einen Zustand der Lähmung verfallen, und in Ostdeutschland haben zur gleichen Zeit Honecker, Mielke und Schalck-Golodkowski den Staatssozialismus zugrunde gerichtet. Also die Botschaft, die man damals mitbekam, die diese Generation mitbekommen hat, ist: Politiker, das sind die Schmuddelkinder, mit denen man besser nicht spielen geht. Und ich glaube, dass sich diese Schriftstellergeneration darum auch gerne fernhält.

Führer: Vielleicht liegt das ja aber auch an den Schriftstellern oder sagen wir mal an der Literatur wiederum selbst. Also man kann sich ja fragen, wie wichtig sind überhaupt Schriftsteller heute, wie ernst werden sie genommen? Man könnte ja vielleicht ketzerisch sagen, es wäre doch vielleicht besser, sich Fernsehstars zu holen – die SPD hat sich ja die Super-Nanny da auch gesichert für ihren Wahlkampf. Also das heißt: Sollten die Parteien sich nicht eher um Günther Jauch als um Günter Grass bemühen?

Mensing: Ja, ich vermute, das ist der entscheidende Unterschied natürlich zu den 60er-Jahren, als Günter Grass damals für Willy Brandt in den Wahlkampf gezogen ist. Damals war die Literatur eben noch Leitmedium, zumindest im Bildungsbürgertum. Da hatte man Böll, da hatte man Siegfried Lenz, da hat man Grass eben gelesen, das war wichtig, und das hat sich nun eben vollkommen geändert. Die Meinungsbildungsprozesse in unserer Gesellschaft werden in erster Linie durchs Fernsehen bestimmt. Und Politik im engeren Sinne – das wissen wir alle – wird in irgendwelchen Talkshows verhandelt von Anne Will oder Maybrit Illner, aber ich glaube eben – Sie haben das gerade schon erwähnt –, dass auch diese viel belächelten Dokusoaps in den Privaten mittlerweile einen ungeheuren Einfluss darauf haben, was die Menschen in unserem Land jetzt für richtig oder falsch halten. Und das ist – Sie haben den Namen genannt – die effektivste Wahlkampfhilfe, die die SPD sich zurzeit leistet, ist auf jeden Fall RTL Super-Nanny Katharina Saalfrank, die tourt, glaube ich, gleich zusammen mit Generalsekretär Hubertus Heil so durch Kindergärten und Schulen und legt ein gutes Wort ein für sozialdemokratische Bildungspolitik. Geschickter kann man, glaube ich, diese Synergieeffekte in der Mediengesellschaft gar nicht nutzen. Und die Vorstellung, dass jetzt Günter Grass und eine kleine Handvoll von Kollegen noch einmal – wie es damals hieß – ihr Tintenfass zuschrauben und Partei ergreifen, die ist da eigentlich fast rührend. Ich hoffe, da kommen auch wirklich ein paar Leute und gucken sich das an, und nicht immer nur der kleine Ältere-Damen-Fanclub, der in Berlin schon dabei war.

Führer: Erste Gelegenheit ist heute Abend in Neuenhagen, da beginnt Günter Grass seine politische Lesereise für die SPD. Und Kolja Mensing war beim Presseauftakt heute Mittag in Berlin dabei. Herzlichen Dank, Herr Mensing!