Gucklöcher auf das Paradies
Im Jahr 2006 vertrat Robert Harrison in seiner Studie "Die Herrschaft des Todes" die These, dass Humanität im Totenkult, in Begräbnis und Erinnerungskultur gründe. Der an der Universität von Stanford in Kalifornien lehrende, 1954 geborene Literaturwissenschaftler kehrt zurück zum "Humus", widmet sich diesmal der Kultivierung von Gärten. "Ein Versuch über das Wesen der Menschen" heißt der Untertitel seines neuen Buches "Gärten".
Gärtner sind komische Kauze: Immer beunruhigt vom Wetter, unternehmen sie die unglaublichsten Dinge, um ihre Pflanzen zu vermehren und bis zur Ernte zu schützen. Sorge bestimmt ihr auf die Zukunft gerichtetes Handeln, sie sind getrieben vom Bedürfnis zu schöpferischem Ausdruck, schaffen Oasen der Ruhe, heilsame Orte, "Gucklöcher auf das Paradies". Eine Sehnsucht zu Kontakt mit nichtmenschlichem Leben und mit dem Kosmos sieht Robert Harrison dabei am Werk. Die so gar nicht dem traditionellen Aussehen verpflichteten kurzzeitigen Installationsgärten von New Yorker Obdachlosen interpretiert er als "Sprechakte" gegen einen "Zustand der Sprachlosigkeit", als ästhetisches Bedürfnis und Rückzug aus der alltäglichen Überforderung, sogar "als Akte der politischen Erlösung".
Gärten und ihre Pflege sind für Harrison weit mehr als nur kulturhistorische Leistungen oder symbolische Ordnungsbemühungen. Mit Hannah Arendts Konzept des "menschlichen Handelns" und einem emphatischen Begriff der Sorge wird ihm Gärtnern zur Grundlage des Menschseins überhaupt, zur Einübung von Einsatz, Hingabe und Engagement. Denn Harrison lässt keinen Zweifel daran, dass die paradiesischen Gefilde jenseits der Wirklichkeit, wie sie im "Gilgamesch"-Epos, in Homers "Odyssee" oder in der "Bibel" ausgemalt werden, nur für die Unsterblichen taugen. Evas Wahl erst habe die Sterblichen aus der Isolierung befreit und diese Welt zu "unserem Garten" gemacht. So seien Fürsorge und Selbstverantwortung in die Welt gekommen, die vielen Möglichkeiten des Hegens und Pflegens, Gebens und Nehmens; die Kultivierung nicht nur des Bodens, sondern auch des Geistes und der Beziehungen.
Die Verknüpfung von Bildung und Gärten bis hin zur Campus-Gestaltung amerikanischer Universitäten beginnt für Harrison mit der griechischen Idee der Polis und der Auswanderung der Philosophen in das Außerhalb eines Gartens am Rande, um dort die nächste Generation nicht nur auf ein gutes Leben, sondern auch auf ihre Pflicht als Bürger vorzubreiten. Ein anderes Kapitel gilt dem epikureischen Garten als Projekt der Selbsthumanisierung und gemeinschaftlichen Teilhabe – losgelöst von der politischen Rolle des Einzelnen.
Die Gärten von Versailles allerdings sind für den Autor aus dem Geist des Neids und der Rivalität geboren. Die Geste der Macht hat hier ebenso Spuren hinterlassen wie der absolute Wille zur Naturbeherrschung. Ihr Repräsentationscharakter engt gewaltsam ein, statt einen Imaginationsraum zu öffnen oder die Zeit außer Kraft zu setzen. Dieses vermag der kaum wahrgenommene "lyrische Garten" Kingscote auf dem Campus der Universität Stanford, wo Harrison lehrt. Dort findet er Geheimnis, Einbeziehung und "Platz für Denken, Schauen, Erinnern, Träumen." Um Intensitäten geht es immer wieder. Nicht das Bild sei entscheidend, sondern die Versenkung, die Kunst des Sehens, der "Tiefenwahrnehmung". Im Zen-Garten schließlich ist alles Sehen: Die westliche Vorrangstellung des Künstlers verschiebt sich (im besten Fall) zugunsten des Betrachters und einer alles grundierenden Heiterkeit.
Die findet Harrison auch in islamischen Paradiesvorstellungen, wo Eden für Genuss und Ruhe steht, für Spiritualität und Sinnlichkeit. Dieser Ort der Zufriedenheit scheint weit entfernt vom christlichen Imaginären. Literarische Ausformulierungen etwa bei Dante zeigen es als wilde Mischung aus "Tumult und Verzückung", "spirituelle Rastlosigkeit" gepaart mit dem abenteuerlichen Traum, in "atemlosen Taumel" zur Selbstüberschreitung zu gelangen.
Das Buch ist nicht zuletzt eine moralische Studie zur Verfassung unserer Zeit. Neben seinen überaus inspirierenden Literaturanalysen beklagt Harrison, dass die Konsumgesellschaft eine Art Garten Eden propagiere, also Genießen ohne Ende. Außerdem habe die gegenwärtige Fixierung auf "pulsierende Bilder" die Kunst des Sehens, die Wahrnehmung von Andeutungen, verschwinden lassen. Und mit ihr die sichtbare Welt.
Besprochen von Barbara Wahlster
Robert Harrison: Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen
Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer
Hanser Verlag, München 2010
336 Seiten, 24,90 Euro
Gärten und ihre Pflege sind für Harrison weit mehr als nur kulturhistorische Leistungen oder symbolische Ordnungsbemühungen. Mit Hannah Arendts Konzept des "menschlichen Handelns" und einem emphatischen Begriff der Sorge wird ihm Gärtnern zur Grundlage des Menschseins überhaupt, zur Einübung von Einsatz, Hingabe und Engagement. Denn Harrison lässt keinen Zweifel daran, dass die paradiesischen Gefilde jenseits der Wirklichkeit, wie sie im "Gilgamesch"-Epos, in Homers "Odyssee" oder in der "Bibel" ausgemalt werden, nur für die Unsterblichen taugen. Evas Wahl erst habe die Sterblichen aus der Isolierung befreit und diese Welt zu "unserem Garten" gemacht. So seien Fürsorge und Selbstverantwortung in die Welt gekommen, die vielen Möglichkeiten des Hegens und Pflegens, Gebens und Nehmens; die Kultivierung nicht nur des Bodens, sondern auch des Geistes und der Beziehungen.
Die Verknüpfung von Bildung und Gärten bis hin zur Campus-Gestaltung amerikanischer Universitäten beginnt für Harrison mit der griechischen Idee der Polis und der Auswanderung der Philosophen in das Außerhalb eines Gartens am Rande, um dort die nächste Generation nicht nur auf ein gutes Leben, sondern auch auf ihre Pflicht als Bürger vorzubreiten. Ein anderes Kapitel gilt dem epikureischen Garten als Projekt der Selbsthumanisierung und gemeinschaftlichen Teilhabe – losgelöst von der politischen Rolle des Einzelnen.
Die Gärten von Versailles allerdings sind für den Autor aus dem Geist des Neids und der Rivalität geboren. Die Geste der Macht hat hier ebenso Spuren hinterlassen wie der absolute Wille zur Naturbeherrschung. Ihr Repräsentationscharakter engt gewaltsam ein, statt einen Imaginationsraum zu öffnen oder die Zeit außer Kraft zu setzen. Dieses vermag der kaum wahrgenommene "lyrische Garten" Kingscote auf dem Campus der Universität Stanford, wo Harrison lehrt. Dort findet er Geheimnis, Einbeziehung und "Platz für Denken, Schauen, Erinnern, Träumen." Um Intensitäten geht es immer wieder. Nicht das Bild sei entscheidend, sondern die Versenkung, die Kunst des Sehens, der "Tiefenwahrnehmung". Im Zen-Garten schließlich ist alles Sehen: Die westliche Vorrangstellung des Künstlers verschiebt sich (im besten Fall) zugunsten des Betrachters und einer alles grundierenden Heiterkeit.
Die findet Harrison auch in islamischen Paradiesvorstellungen, wo Eden für Genuss und Ruhe steht, für Spiritualität und Sinnlichkeit. Dieser Ort der Zufriedenheit scheint weit entfernt vom christlichen Imaginären. Literarische Ausformulierungen etwa bei Dante zeigen es als wilde Mischung aus "Tumult und Verzückung", "spirituelle Rastlosigkeit" gepaart mit dem abenteuerlichen Traum, in "atemlosen Taumel" zur Selbstüberschreitung zu gelangen.
Das Buch ist nicht zuletzt eine moralische Studie zur Verfassung unserer Zeit. Neben seinen überaus inspirierenden Literaturanalysen beklagt Harrison, dass die Konsumgesellschaft eine Art Garten Eden propagiere, also Genießen ohne Ende. Außerdem habe die gegenwärtige Fixierung auf "pulsierende Bilder" die Kunst des Sehens, die Wahrnehmung von Andeutungen, verschwinden lassen. Und mit ihr die sichtbare Welt.
Besprochen von Barbara Wahlster
Robert Harrison: Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen
Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer
Hanser Verlag, München 2010
336 Seiten, 24,90 Euro