Guantanamo-Tagebuch

Notizen aus dem rechtsfreien Raum

Häftlinge im Gefängnis Guantanamo
US-Präsident Obama wollte das Lager auflösen - doch nichts ist passiert. © dpa / picture-alliance/ Shane T. Mccoy / US Department of Defense
Von Pieke Biermann · 20.01.2015
Zeitgleich mit dem CIA-Folterreport erscheint in diesen Tagen "Das Guantanamo-Tagebuch" von Mohamedou Ould Slahi. Darin berichtet er über das Grauen in dem US-Gefangenlager - in dem er immer noch inhaftiert ist.
Wenn Pasolini heute das infernalische Ambiente für eine Dante-de-Sadesche Dystopie suchte, er käme vermutlich nicht auf Saló wie vor 50 Jahren, sondern auf Abu Ghraib oder die black sites der CIA oder das Militärgefängnis in der kubanischen US-Enklave Guantánamo. Ziemlich genau heute vor sechs Jahren versprach US-Präsident Obama per Dekret, Guantánamo "innerhalb eines Jahres" zu schließen, und verbot "harte Verhörmethoden". Über 140 Häftlinge sitzen trotzdem noch dort. Opfer von zu "erweiterten Verhörtechniken" umgewidmeten Foltermethoden, die zum Synonym dafür wurden, dass auch ein demokratischer Rechtsstaat zu grausamem Unrecht fähig ist: Waterboarding, sexuelle Demütigung, tagelanger Schlafentzug, Lärm- und Lichtqual.
Die "Geständnisse" all der angeblichen Top-Terroristen waren in jedem Sinn wertlos. Aber auch wer intern längst als irrtümlich verdächtigt abgehakt war, blieb in GTMO. Selbst wenn ein oberster Bundesrichter die sofortige Freilassung verfügt hatte. So wie 2010 im Fall von Mohamedou Ould Slahi. Der Mauretanier, der in Deutschland und Kanada studiert und gearbeitet hatte, war mit ein paar Leuten bekannt oder verwandt, die FBI, CIA & Co schon vor 9/11 auf dem Schirm hatten. Eine Art Forrest Gump, so beschreibt ihn ein Ex-Ankläger – wohlerzogen, ahnungs- und harmlos, einfach manchmal dort, wo sich angeblich verschworen wurde.
Literatur, so glasklar wie dezent und zum Heulen schön
Slahi ist noch immer nicht wieder frei, seit er im November 2001 freiwillig zur Polizei in Nouakchott gefahren war. Von dort hatten ihn FBI-Verhörer in ein jordanisches Foltergefängnis, dann nach Bagram/Afghanistan und im August 2002 nach GTMO "überstellt". 2005 schreibt er auf, was ihm passiert ist auf seiner "endlosen Welttournee". 466 Seiten, mit der Hand, auf Englisch, seiner vierten Sprache nach Arabisch, Französisch und Deutsch. Er lernt es in GTMO, von seinen Wärtern. Es dauert fast zehn Jahre, bis seine Anwältinnen es frei kriegen. Der Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Larry Siems hatte 2013 Auszüge auf slate.com veröffentlicht. Jetzt hat er Slahis Text komplett – bis auf 2.600 schwarze Zensurbalken –, ediert, einer fundierte Einleitung verfasst und in 189 Fußnoten ergänzt, was anderswo amtlich belegt ist. Unzensiert. Der 500-Seiten-Brocken erscheint heute in den USA, der Türkei, England und fast ganz Resteuropa. Und auf Deutsch, zufällig, gleichzeitig mit einem Dokument von der anderen Seite: dem CIA-Folterreport des US-Senatsausschusses.
Beide Bücher breiten herzzerreißendes Grauen en détail aus: Das eine im kalten bürokratischen O-Ton der Täter, das andere als Stimme individueller Betroffenheit. Aber Slahis Tagebuch bietet nicht nur den Blick "von innen" – das tun Murat Kurnaz' Memoiren oder Michael Winterbottoms Film über drei britische Gefangene auch. Slahi zeigt sich in der ersten Szene als Erzähler. Er schreibt Literatur, so glasklar wie dezent und zum Heulen schön in ihrem Mangel an Larmoyanz oder Aggression, ihrem tiefen Gerechtigkeitssinn, ihrem umwerfenden warmherzigen Witz.

Mohamedou Ould Slahi: Das Guantanamo-Tagebuch
Herausgegeben von Larry Siems
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Held
Tropen Verlag, Stuttgart 2015
530 Seiten, 19,95 Euro

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