"Gruss an Bord"

Seemannssehnsucht übers Radio

Beim Norddeich Radio im Jahr 1957: Hans Heyne, M. Paulsen und Hans Bredow (v. lks.) zum 50jährigen Bestehen des Senders.
Die Norddeich-Radio-Station (Aufnahme von 1957). © imago
Von Günter Beyer · 16.12.2015
Norddeich Radio - früher kannte jeder deutsche Seemann diesen Namen. Der Seefunksender war eine Brücke in die Heimat über Tausende von Seemeilen hinweg. Die Apparate stehen in der ostfriesischen Stadt Norden. Im Sommer ist ein kleines Museum eingezogen.
Fritz Deiters: "Weihnachten begann bei uns immer erst, wenn diese Sendung anfing, bei Kartoffelsalat und Würstchen!"
Eine Endlosschleife mit Morsezeichen, hergestellt aus einem gestanzten Papierstreifen, rattert durch ein Abtastgerät. Im Klartext lautet die Botschaft: Norddeich Radio ist jetzt empfangsbereit. Der Apparat steht zusammen mit Funkgeräten, Fernschreibern und Schaltschränken in einem alten Lagerhaus mitten in der ostfriesischen Stadt Norden. Im Sommer dieses Jahres ist dort ein kleines Museum eingezogen. Es erzählt die Geschichte von Norddeich Radio.
Norddeich Radio. Früher kannte jeder deutsche Seemann diesen Namen. Der Seefunksender war eine Brücke in die Heimat über Tausende von Seemeilen hinweg. Über die Frequenzen von Norddeich Radio war jedes Schiff, wo immer es auf den Weltmeeren unterwegs war, erreichbar. Und jedes Schiff konnte Norddeich Radio anmorsen und später sogar mit der Küstenstation sprechen. Betriebsanlagen und Sendemasten standen direkt hinter dem Deich im Norder Ortsteil Norddeich.
Der Pilsumer Leuchtturm, aufgenommen am 10.06.2012 am Deich unweit von Pilsum (Landkreis Aurich) in Ostfriesland. Der zwölf Meter Leuchtturm war in den Jahren 1891 bis 1915 für den Schiffsfahrweg zwischen Emden und der Nordsee in Betrieb. Heute gilt er als ein Wahrzeichen Ostfrieslands.
Der Pilsumer Leuchtturm in Ostfriesland. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Der Sender in Ostfriesland war die Antwort des kaiserlichen Deutschland auf die britische Vorherrschaft im Seefunk. Die Engländer waren die ersten, die elektromagnetische Wellen und Morsezeichen für Kontakte zwischen ihren Schiffen und eilig installierten Küstenfunkstellen nutzten. Die deutsche Post folgte am 1. Juni 1907 mit einer eigenen Station: Norddeich Radio.
Der Standort an der Westgrenze des Deutschen Reichs war bewusst gewählt worden.
Deiters: "Man musste so weit wie möglich es ging ans Meer heran. Man wollte auch so weit wie möglich in den englischen Kanal oder auch in den Atlantik funken können. Also blieb ja nur unser schönes Ostfriesland in der nordwestlichsten Ecke von Deutschland übrig."
Fritz Deiters und seine Kollegen sind ehemalige Seefunker. Sie haben das kleine Norddeich-Radio-Museum mit vielen Apparaten, die man zum Funken brauchte, aufgebaut.
In Ostfriesland regnet es häufig, die Marschwiesen stehen oft wochenlang unter Wasser, leicht holt man sich nasse Füße. Das ist ärgerlich für Feriengäste. Aber für Funker hat der nasse Boden auch Vorteile, erklärt Deiters´ Kollege Hans Jörg Pust.
Hans Jörg Pust: "Der Wasserstand war hier ziemlich hoch, kann man sagen, und die Wiesen von Norddeich waren damals fast immer überschwemmt. Und da hat man auf jeden Fall eine gute Erde gehabt." ...
Hohe Masten und sichere Erdung waren das A und O für die Funker.
Der Morsefunker kann nur kurz oder lang
1833 hatte der US-Amerikaner Samuel Morse den ersten brauchbaren elektromagnetischen Schreibtelegrafen erfunden. Elf Jahre später wurde das erste Telegramm über Kabel von Washington D.C. nach Baltimore "gemorst". Aber es sollte noch ein halbes Jahrhundert dauern, bis man auf fest verlegte Metalldrähte als Nachrichtenübermittler verzichten konnte. 1898 richtete der deutsche Physiker Ferdinand Braun eine drahtlose Funkverbindung von Straßburg in ein dreißig Kilometer entferntes Vogesendorf ein. Mit dem Wegfall des Kabels war der Weg frei, Telegrafie auch für Verbindungen zwischen Land und See sowie für den Nachrichtenaustausch von Seeschiffen untereinander zu nutzen. Führend waren britische Techniker, die rasch das von Guglielmo Marconi entwickelte Funksystem verbreiteten. 1899 bereits gab es die erste kabellose Verbindung über den Ärmelkanal.
Der Morsefunker kann nur zwei Signale tasten: kurz oder lang. Und er setzt Pausen. Durch Kombinationen dieser beiden Zeichen lässt sich das ganze Alphabet in akustische Impulse umsetzen. So wird das Wort "D-RADIO" zu: lang kurz kurz, kurz lang kurz, kurz lang, lang kurz kurz, kurz kurz, lang lang lang.
Das klingt reichlich umständlich, war aber bis zur Einführung des Sprechfunks konkurrenzlos und galt noch bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts als sichere - und auch schnelle Kommunikationsmöglichkeit. Gute Funker brachten es auf 120 Zeichen pro Minute und mehr. Und das fehlerfrei!
In Kreisen der Schiffsreeder traute man zunächst de der drahtlosen Telegrafie auf See nicht so recht. Als aber 1912 der Luxusdampfer "Titanic" unterging, war die Katastrophe der Anlass für internationale Regelungen in der Telegrafie. Auch in Deutschland wurden die Sendeanlagen verstärkt, die Reichweiten erhöht.
Hans Jörg Pust: "Man konnte praktisch über den halben Atlantik funken, aber kam nicht direkt in Amerika an, sondern Telegramme wurden von anderen Schiffen dann weitervermittelt."
Mit ihren vier Masten, jeder 65 Meter hoch, und einem dazwischen gespannten Netz von Kupferdrähten als Antenne, hatte die erste Sende- und Empfangsanlage 1907 den Betrieb aufgenommen. Ein rein ziviles Unternehmen in der Regie der damaligen Kaiserlichen Post, die Marine hatte ihre eigenen Funkanlagen, erzählt Wilfried Indenbirken, auch er ein ehemaliger Norddeich-Radio-Mitarbeiter.
Wilfried Indenbirken: "Als damals die Funkgeschichte anfing, war es so, dass im Sender in Norddeich, wo heute eben der Campingplatz ist, alles in einem Gebäude untergebracht war. Das heißt, es war die Sende- und auch die Empfangsfunkstelle, wo die Funker saßen. Und wenn man an die Zeit zurückdenkt, gab es ja die so genannten Knallfunkensender im wahrsten Sinne des Wortes, und man überlegen musste, die Empfangsfunkstelle auszulagern, was dann in den 30er-Jahren passierte. Dass man eine ausgelagerte Empfangsfunkstelle in der Nähe der Stadt Norden aufgebaut hat."
Wolfgang Hellriegel: "Ich hab zweimal CQ an alle, DE von, zweimal DAN von Norddeich Radio, und dann habe ich gegeben Trafic List, QSW ich sende auf 474."
Funker Wolfgang Hellriegel war sieben Jahre zur See gefahren, bevor er bei Norddeich Radio anfing.
Hellriegel: "Das war die Ankündigung, wenn Norddeich Radio einen Sammelanruf machte."
Dass die so genannten "Knallfunkensender" nicht von ungefähr so hießen, kann man in dem kleinen Museum gut nachvollziehen. Dort knattert so ein Apparat, bei dem buchstäblich "die Funken fliegen". "Hochspannung! Vorsicht, Lebensgefahr!" steht auf einem Warnschild.
Die Reichweite der Wellen war anfangs allerdings begrenzt. Erst, als höhere Sendemasten und weitere Frequenzen auf der Mittel- und Kurzwelle hinzukamen, konnte Norddeich Radio mit jedem Schiff auf allen Weltmeeren in Kontakt treten.
Sprechfunk: "Hello all ships, this is Norddeich Radio Trafic List ... Hotel, Hotel. End of Trafic List. 2023 kHz."
Weihnachten wird im Sommer vorbereitet
Indenbirken: "Es gab zunächst nur Funktelegrafie. Aber so in den 20er-, 30er-Jahren fing es an mit dem Sprechfunk, der natürlich aufgrund der höheren Anforderungen zunächst mal langsam in Betrieb kam. Aber in den 50er Jahren und so weiter hatten wir auch schon Funkverkehr im Sprechfunk."
Ausschnitt aus der Sendung "Gruß an Bord" (1971):
Sprecher: "Hallo Motorschiff "Gesine P." auf der Fahrt von Frankreich nach Polen. Passen Sie mal ganz genau auf, Herr Kapitän Pohlmann, wer hier am Mikrofon in Hamburg sitzt."
Kind: "Lieber Doddy, weil wir in diesem Jahr nicht an Bord sein können, möchten wir dir auf diesem Wege ein frohes Weihnachtsfest wünschen!"
"Gruß an Bord" – die Weihnachtssendung am Heiligen Abend machte "Norddeich Radio" bekannt und populär. Seit 1953 gab es die maritime Weihnachts-Grußsendung des Norddeutschen Rundfunks. An diese Zeit erinnert im Museum eine gemütliche Sitzecke mit Weihnachtsbaum, großem Tisch mit festlich bestickter Tischdecke, Kerzen und Knabberzeug. Auf dem Plüschsofa sitzt erwartungsvoll eine festlich gekleidete - Schaufensterpuppe!
Für die Radioleute hinterm Deich begannen die Weihnachtsvorbereitungen schon im Hochsommer - Wilfried Indenbirken:
"Im August, dann kamen die ersten Briefe zu uns, wo denn stand: "Bitte grüßen Sie meinen Mann an Bord" oder so. Und wir hatten dann vorgefertigte Zettel, worauf stand: 'Norddeich Radio ist nicht der Betreiber der Sendung 'Gruß an Bord', sondern wenden Sie sich an den Norddeutschen Rundfunk. Sie können aber über uns ein Telegramm an das Schiff schicken', wir haben ja auch Werbung für uns gemacht. Und diese Briefe sammelten wir dann, schickten sie an den Norddeutschen Rundfunk. Und dann ging es bis Weihnachten eigentlich so, dass wir dauernd Absprachen trafen, auch mit den Moderatoren des Rundfunks: Wie soll es laufen, brauchen wir eine Verbindung zu einem Schiff, was für ne Musik wäre angebracht? Und alle diese Dinge haben wir dann abgesprochen, aber die Sendung wurde vom Norddeutschen Rundfunk durchgeführt."
Der Lübecker Shantychor Möwenschiet
Der Lübecker Shantychor Möwenschiet © Dietrich Mohaupt
Die Seeleute wollten vom Bordalltag auf den Weltmeeren erzählen und Grüße senden - das und wurde meistens vorab aufgezeichnet. Wer von Land aus Grüße an Bord loswerden wollte, wer Gedichte aufsagen oder gar singen wollte, musste dazu vor Heiligabend in ein NDR-Studio gehen, wo freundliche Moderatoren die Hörer in Empfang nahmen. Die Sendung wurde schließlich zusammengeschnitten, mit Shantychören und NDR-Bigband angereichert und über die Frequenzen des NDR im Sendegebiet und per Kurzwelle auf See übertragen.
Ausschnitt aus der Sendung "Gruß an Bord" (1971): "Hallo NDR und alle Hörer, hier ist das Fischereimotorschiff "Hildesheim". Wir sind am 16. Oktober ausgelaufen und sind in den nördlichen Fanggebieten gewesen. Zur Zeit sind wir unter Island und wir sind in der Fischerei. Im Moment ist das Wetter annehmbar, aber die meiste Zeit dieser Reise hatten wir ein sehr schlechtes Wetter, und der Fang war auch nicht dementsprechend. Viel Wind und wenig Fische."
Die Botschaft von Bord rauschte, knisterte, schwankte bis hin zur Grenze der Verständlichkeit, aber das hatte den Charme des Authentischen, der technischen Pionierleistung: So weit weg war das Schiff!
Hauptsache, die Sendung ging zu Herzen! Und das war garantiert, wenn Kinder im Studio saßen.
Ausschnitt aus der Sendung "Gruß an Bord" (1971):
Kind: "Wir sind im Funkhaus, und Thomas will für euch ein Gedicht aufsagen und Gesine ein Lied flöten.
Der Stern
Nachts erwachsen
und mit herrlichem Erschrecken
hell im Fenster einen Stern entdecken
und um ihn die sichere Angst verlassen
wie Columbus nach dem Steuer fassen.
Und gehorsam wie aus Morgenland die Weisen
durch die Wüste in die Armut reisen.
Und im Stern des Engels Antlitz schauen
wie ein Hirt zu Bethlehem vertrauen.
Fröhliche Weihnachten, Vati und Hermann!"
Hamburger Bürgermeister lässt grüßen
Grüße an die Seeleute – mal private, mal offizielle, von Amts wegen:
Ausschnitt aus der Sendung "Gruß an Bord" (1971): "Hier ist nun ein Gruß des Ersten Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg, Peter Schulz." Schulz: "Ich freue mich über die Möglichkeit, Ihnen Grüße aus Hamburg zum Weihnachtsfest übersenden zu können. Wir Hamburger grüßen die Seeleute, wir grüßen natürlich insbesondere die hamburgischen Seeleute, die Seeleute auf Hamburger Schiffen, auf unseren Partenschiffen."
Hermann Rockmann, war über viele Jahre verantwortlicher Redakteur für die Sendung "Gruß an Bord", sie lebte davon, dass nicht so sehr die Profis den Ton angaben, sondern auch mal die Tante, die ihren seefahrenden Neffen alle Jahre wieder mit Selbstgesungenem zu erfreuen suchte.
Gelegentlich flossen Tränen, die Trennung war eine andere als bei einer Auslandsreise auf dem Festland. Bei den ersten Sendungen von "Gruß an Bord" mag die Erinnerung an Weihnachten auf fernen Kriegsschauplätzen noch nicht so weit weg gewesen sein. Aber auch in friedlicheren Zeiten gingen rührselige Grüße immer wieder über den Äther.
Ausschnitt aus der Sendung "Gruß an Bord" (2014): "Jetzt sind wir anderthalb Jahre verheiratet und haben uns ein Haus gekauft, und nächstes Jahr erwarten wir unser gemeinsames Kind. Und ich wünsche dir auch ein frohes Fest und ich vermiss dich ganz doll und ich liebe dich! Ja!"
An Bord wurde dagegen meist eher pragmatisch gefeiert. Weihnachten nach Dienstplan. Vor seiner Zeit bei Norddeich Radio war Wolfgang Hellriegel für den Norddeutschen Lloyd gefahren.
Hellriegel: "Es ist für den Funker viel Arbeit an dem Tag. Sie können sich ja vorstellen, dass er nicht nur viele Telegramme hat, sondern dass er auch lange Wartezeiten hat, um sein Telegramm überhaupt von Norddeich Radio zu bekommen oder auch von anderen Küstenfunkstellen. Denn an Bord wurden ja nicht nur Telegramme von Norddeich Radio genommen, sondern, wenn man Engländer an Bord hatte, musste man auch englische Küstenfunkstellen abhören. Es war viel Arbeit. Aber irgendwann hat man dann auch gesagt: So, jetzt möchte ich selbst unten an Bord auch meinen Glühwein trinken und Schluss machen außerhalb meiner Wachzeit. Dann wurde das Alarmgerät eingeschaltet, denn ging man runter in die Messe, hatte mit den anderen Weihnachten gefeiert, aber ansonsten war Weihnachten an Bord wie jeder andere Werktag auch und wie jedes andere Fest auch."
Einmal, erzählt Hellriegel, durfte seine Frau sogar mit an Bord sein.
"Meine Frau ist Kindergärtnerin gewesen in ihrer Berufszeit, und sie hat mit den Seeleuten in der Lotsenkammer Weihnachtssterne gebastelt, weil wir nämlich für unsere Weihnachtsbäume viel zu wenig Schmuck mit gehabt haben. Und das ist dermaßen stark angenommen worden, dass man ihr zu ihrem Geburtstag nachher viele, viele Seefahrtsgeschenke gemacht hat. Aus einem Tampen hat man einen Löwenkopf gemacht, der Kapitän hat nen Blumentopf gemacht aus Seilen und aus Klebeband. Ja, es war doch eine schöne Zeit!"
Heiligabend wird einfach gespielt
Zu Weihnachten liefen alle Fäden beim Heimatsender zusammen - das NDR-Funkhaus in der Hamburger Rothenbaumchaussee war der Mittelpunkt globaler Kommunikation. Und je weiter weg ein Schiff war, umso besser!
Indenbirken: "Das war also immer der erste Anspruch des Rundfunks, dass man sagte: "Wir brauchen kein Schiff, das in der Nordsee ist. Der ist ja Weihnachten zu Hause! Sondern wir wollen eins haben, was in Australien ist oder bei Südafrika ist." Und unser Problem war, dass wir die Funkverbindungen ja aufgrund der unterschiedlichen Reichweiten nicht immer zu jeder Zeit machen konnten."
Die Hörerinnen und Hörer "daheim an der Lautsprechern" sollten von diesen Schwierigkeiten natürlich nichts mitbekommen.
Hans Jörg Pust kann ein Lied von solchen Kommunikationsproblemen zwischen Landstation und Schiff singen. Oft wurde einfach so getan, als ob schon Heiligabend wäre.
Pust: "Ich bin ja auch als Funker zur See gefahren, und wir hatten eine Vorab-Verbindung gemacht, Probeverbindung mit Norddeich-Radio, und das klappte einwandfrei, das Schiff war in Kapstadt. Und am nächsten Tag sagte man mir gegen 9 Uhr GMT: Melden Sie sich mal, das müsste wohl klappen. Das klappte natürlich nicht, und wir mussten Klimmzüge machen, um die Verbindung zu stabilisieren. Naja, und dann ging es los, da fragte dann der NDR: "Herr Kapitän, was gibt es denn heute Abend zu essen?" und so weiter. "Haben Sie auch einen Tannenbaum an Bord?" Das habe ich nun einige Male erlebt. Auf beiden Seiten. Auf Schiffsseite, und als ich bei Norddeich Radio war."
Ausschnitt aus der Sendung "Gruß an Bord": "Hallo Myrina, hallo Myrina, hallo Kapitän Fricke! Herr Kapitän Fricke, wir wünschen Ihnen allen an Bord der "Myrina" ein schönes Weihnachsfest und ein gesegnetes neues Jahr. Aber ich glaube, Sie sind in einer ganz besonderen Situation. Denn Sie liegen mit 195.000 Tonnen etwa bei Glasgow in der Clyde-Mündung fest!Kapitän über Funk: "Wir liegen hier bereits seit vier Wochen vor Anker, wir haben volle Ladung drin, und ich nehme an, wir liegen hier noch weiterhin bis Mitte Januar, und der Grund wird wohl sein, dass ein Überangebot an Tankertonnage besteht und außerdem ein Mangel an Tankraum an Land ist, und zusätzlich wohl noch, dass der letzte Sommer so mild war und wenig Heizöl verbraucht wurde. Wir haben vier Kinder an Bord, wir werden einen Weihnachtsmann kommen lassen, zwar nur einen schottischen, es konnten nicht allzu viele Geschenke eingekauft werden, dann wird der Koch ein großes kaltes Büfett aufbauen."
Weihnachten ist nur einmal im Jahr, und Weihnachtsgrüße waren natürlich nicht das tägliche Brot der Funker von Norddeich.
Indenbirken: "Der Seenotverkehr war natürlich unsere ureigenste Aufgabe. Und da mussten wir Tag und Nacht die entsprechenden Frequenzen besetzen."
Wenn ein Schiff über Funk "Mayday! Mayday" sendet - wie hier die Ostseefähre "Estonia" vor ihrem Untergang 1994 - ist das Schiff in höchster Not. Alle Schiffe in der Nähe müssen ihren Kurs ändern und zu Hilfe eilen.
"Mayday" kommt von "m´aidez!"
"Mayday" ist eine Verballhornung des Französischen "m´aidez" - helft mir! Der Ruf "Mayday!" ist mit der Verbreitung des Sprechfunks an die Stelle des alten Morsenotrufs getreten: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz - SOS!.
Die Männer und Frauen von Norddeich Radio erfuhren als erste, wenn irgendwo auf See sich Katastrophen anbahnten. Hans Jörg Pust erinnert sich an den bis heute ungeklärten Untergang des modernen Frachters "München" in einer Sturmnacht 1978 südlich der Azoren im Atlantik. Damals gab es keine Überlebenden.
Pust: "Ich hatte damals gerade Nachtdienst, die "München" selber haben wir nicht gehört, die war einfach zu leise, aber dass andere Schiffe sich damit befassten. Und da haben wir dann mit Schrecken mitbekommen: die "München" ist gesunken. Das war natürlich traurig."
Wolfgang Hellriegel war derjenige, der das Licht ausknipste, als die Station hinterm Deich in der Silvesternacht 1998 geschlossen wurde.
Hellriegel über Funk: "All ships, all ships, all ships! ...
... Good bye now! Good bye forever! Over and out. An alle Schiffe! Hier ist Norddeich Radio. Die Deutsche Telekom wird nun ihren Seefunkdienst einstellen. Mehr als 91 Jahre war Norddeich Radio für Ihre Erfordernisse auf Sendung. Aber zum Schluss war unser Dienst nicht mehr erforderlich. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit der vergangenen Jahre. Alle Mitarbeiter von Norddeich Radio wünschen Ihnen und Ihren Familien ein erfolgreiches und glückliches Neues Jahr! Hier ist Norddeich Radio, Norddeich Radio. Wir nehmen Abschied. Leben Sie wohl! Over and out."
Sendeschluss in Norddeich!
Und wer kümmert sich seitdem um Schiffe in Seenot? Im MRCC, dem "Maritimen Rettungs-Koordinierungszentrum" der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mitten in Bremen läuft heute der Funk - und Telefonverkehr von Nord- und Ostsee zusammen.
Hinners-Stommel: "MRCC hat die Hauptaufgabe der Entgegennahme von Notrufen im Zuständigkeitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, was Suche und Rettung angeht, die Bewertung des Notrufes, die Auswahl der passenden Einsatzmittel und die Koordinierung der Such- und Rettungsmaßnahmen anschließend." ...
Kapitän Dirk Hinners-Stommel leitet das Rettungszentrum in der Hansestadt. Heute ist es ganz einfach, mal eben bei einem Rettungskreuzer der Gesellschaft anzurufen. 60 weiß-rot lackierte Schiffe sind zwischen Borkum im Westen und Ueckermünde im Osten der Republik stationiert. Unser Ansprechpartner ist der Seenotkreuzer "Berlin" und liegt in der Kieler Förde.
Der Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) "Hermann Helms" (r) und das Tochterboot "Verena" des Seenotkreuzers "Hermann Marwede" am 06.02.2007 auf der Elbe vor Cuxhaven.
Der Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) "Hermann Helms" (r) und das Tochterboot "Verena" des Seenotkreuzers "Hermann Marwede" am 06.02.2007 auf der Elbe vor Cuxhaven. © picture alliance / dpa / Ingo Wagner
Funkverkehr:
Operator: "'Berlin' von MRCC!"
"Berlin": "Moin, Wilfried! 'Berlin' hört!"
Operator: "Ja, Moin, Holger. Kannst du mir mal bitte das Wetter vor Ort geben? Kommen."
"Berlin": "Ja, geht los. 8 7 2 1.0 0.1 7 3. 5 2.1 0.0 und ein Charly. Das war´s aus Laboe. Euch noch n schönen Tag! Ruhige Wache, bis denn! Tschüss."
Operator: "Jo, das haben wir gut mit. Gute Wache weiterhin! Tschüss."
"8 7 2 1" - das klingt geheimnisvoll. Aber damit die Wetter-Werte schneller übermittelt werden können, ist die Reihenfolge der einzelnen Parameter wie Sicht, Wind, Temperaturen in Luft und Wasser sowie Windstärke festgelegt. Die Seenotretter wissen das und kommen mit der Kurz-Version zurecht, erklärt Operator Wilfried Laing.
Laing: "Wir machen das einmal am Tag, dass wir dieses Wetter durchgeben, vor Ort, wie es aussieht. Das dient auch dazu, dass wir die Funkverbindung noch mal kontrollieren, ob alles laut und deutlich rüberkommt. Weil immer sehr wichtig ist, dass wir gute Verbindungen haben."
Wettermeldungen wie diese lieferte früher Norddeich Radio - anfangs über die Morsetaste, später über Sprechfunk.
Wetterbericht - das klingt nach träger Routine.
Aber von einer Sekunde zur anderen kann es in der Rettungsleitzentrale auch ernst werden.
Notruf: "Ja, moin. Wi sün hier in Meyers Hörn. Wi hefft een Net in de Schruv. Ick heff all´n Stün´n hier rummakt, ick krieg dat nich rut!" /"Jo, geiht los, wi kömmen!"
In der Zentrale versteht man Plattdeutsch. Aber auch Hochdeutsch sprechenden Landratten wird klar: Ein Fischerboot meldet aus dem schleswig-holsteinischen Watt, dass sich das Netz in der Schraube verfangen hat. Die Zentrale in Bremen entscheidet, was zu tun ist. Welcher Rettungskreuzer ist in der Nähe? Muss ein Arzt mitfahren?
Einen Überblick gibt die elektronische Seekarte auf den Monitoren, sagt der Chef der Seenotleitung:
Hinners-Stommel: "Wir überwachen mit unserem Einsatzsystem die ganze Küste mittels AIS."
AIS - das "Automatische Identifikationssystem" gibt es erst seit der Jahrtausendwende. Es sendet über UKW regelmäßig Daten vom Schiff - wie Schiffsname, Rufzeichen, Position, Kurs, Geschwindigkeit. Es ist seit ein paar Jahren für alle größeren Schiffe international vorgeschrieben ...
Hinner-Stommel: "...und auf unserer Karte sehen Sie die Position von allen Schiffen in der Deutschen Bucht, und auch von unserem Einsatzmitteln. Das sind die grünen Markierungen dort."
"Einsatzmittel" - das sind die Rettungsschiffe der Gesellschaft. Es sieht auf der elektronischen Seekarte entlang der Küste von Nord- und Ostsee ganz schön grün aus.
Und der Fischkutter mit dem Netz in der Schraube?
Kreuzer "Eiswette" weiß schon Bescheid, beruhigt Operator Wilfried Laing mit Blick auf den Bildschirm.
Laing: "Die sind jetzt dort unterwegs, also Nordstrand, mit 17 Knoten sind die auf dem Weg zum Havaristen und werden dort Hilfe leisten. Die werden den wahrscheinlich in Schlepp nehmen und werden den in den nächsten Hafen schleppen."
Die Zeit der Telegramme über Norddeich Radio ist Vergangenheit.
Und wenn jemand heute einfach mal mit dem Schiff reden möchte? Das Kommunikationsbedürfnis ist unersättlich.
Brunhild Osterhues: "Es geht um Ladung, Auslaufen, Einlaufen, natürlich Positionen, Kontaktaufnahme mit der Reederei, mit dem Agenten im Ausland, ja auch mit der eigenen Familie selbstverständlich. Heutzutage möchte ja niemand so ganz wochenlang ohne Kontakt zu Familie und zu Freunden durch die Gegend fahren."
Berufsfunker werden nicht mehr ausgebildet
Brunhild Osterhues ist Dozentin in der Abteilung Nautik der Hochschule Bremen. Schon lange werden an den Seefahrtsschulen keine Berufsfunker mehr ausgebildet. Die eigenständige "Funkerbude" an Bord ist zur handlichen Funkkonsole auf der Schiffsbrücke geschrumpft. Den lebhaften Funk- und Telefonverkehr auf Handelsschiffen müssen heute die nautischen Offiziere miterledigen.
Osterhues: "Einmal ist die Möglichkeit, über UKW einen Anruf zu machen, und dann gibt es Systeme wie Digitaler Selektivruf. Da kann man Schiffe anpiepen und sagen: So, ich möchte mit dir kommunizieren, auf dem und dem Sprechfunkkanal. Und nach der Alarmierung wird auch automatisch der Sprechfunkkanal geschaltet, und man kann miteinander reden."
Für dieses so genannte "terrestrische System", bei dem die schon aus der Norddeich-Radio-Zeit bekannten Frequenzen wie UKW, Mittel- und Kurzwelle benutzt werden, gelten allerdings dieselben altvertrauten Einschränkungen in Bezug auf Reichweite und Tageszeiten.
Um ständig sende- und empfangsbereit zu sein, ist die Kommunikation auf Handelsschiffen seit Anfang der 1990er-Jahre meist zweigleisig ausgelegt.
Osterhues: "Das zweite Standbein ist die Satellitenkommunikation. Da haben wir im Wesentlichen das INMARSAT zu benennen, weil das auch für Alarmierungen in Notfällen benutzt wird."
Bei INMARSAT - der britischen "International Maritime Satellite Organization" - werden Gespräche und Daten mit Hilfe von vier über dem Äquator fest positionierten Satelliten vermittelt. Sie schweben in 36 Kilometern Höhe und sind weltweit von überall ansprechbar - mit Ausnahme der beiden Polkappen.
Osterhues: "Bei INMARSAT haben wir verschiedene Anlagen mit langsamer und schneller Datenübertragung, mit Telefonie, ohne Telefonie. Das hängt letztendlich vom Reeder ab, für was er sich entscheiden möchte."
Die Kriterien dafür sind in Reederkreisen einfach.
Osterhues: "Billig soll es sein, und schnell soll es sein. Und viele Möglichkeiten soll es haben. Also die allerbilligste Variante wäre eine INMARSAT-Anlage ohne die Möglichkeit, telefonieren zu können. Da kann man dann gerade noch E-Mails schicken, ganz schlichte Dinger, ohne Anhang, ohne alles. Und dann gibt es natürlich viele Anlagen, die sehr hohe Datenübertragungsraten haben für Telefonie, für E-Mails, sogar für Internet-Zugänge. Und das hängt letztlich davon ab, was der Reeder für Geschäfte betreibt."
Und Weihnachten...? Die Sendung "Gruß an Bord" gibt es immer noch - auch in diesem Jahr an Heiligabend um 20.05 Uhr.
Aber ohne Mitwirkung des guten, alten Norddeich Radio.
Mehr zum Thema