Das Grundgesetz

Die entspannte Verfassung

Annahme des Grundgesetzes: Das Plenum des Parlamentarischen Rates nimmt in 3. Lesung am 8. Mai 1949 den revidierten Grundgesetzentwurf mit 53 gegen 12 Stimmen an.
Annahme des Grundgesetzes: Das Plenum des Parlamentarischen Rates nimmt in 3. Lesung am 8. Mai 1949 den revidierten Grundgesetzentwurf mit 53 gegen 12 Stimmen an. © picture-alliance / akg-images
Ein Kommentar von René Schlott |
Vor 74 Jahren wurde das Grundgesetz verkündet - ein guter Anlass, der Unaufgeregtheit unserer vorbildlichen Verfassung zu gedenken, meint der Historiker René Schlott. Nirgends finde sich dort Alarmismus. Dabei hätte es 1949 allen Grund dazu gegeben.
Feierlich ging es zu, als der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verkündete. Im Hintergrund spielte eine Orgel, während alle Frauen und Männer, die an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt waren, den Gesetzestext unterschrieben, dessen Präambel nach zwölf Jahren NS-Diktatur hohe Maßstäbe für das neue Deutschland setzen sollte: „In einem vereinten Europa“ wolle man „dem Frieden der Welt […] dienen“.
Der Verkündung des Grundgesetzes auf den Tag genau vor 74 Jahren ging ein monatelanges Ringen um den Wortlaut der einzelnen Artikel voraus. Manchmal wurde auch heftig gestritten, etwa über die Gleichstellung der Geschlechter und die Abschaffung der Todesstrafe. Doch wenn man sich die Protokolle der Beratungen des Parlamentarischen Rates anschaut, so fallen dem Betrachter die Ernsthaftigkeit, die stets an der Sache orientierten, bisweilen geistreichen Diskussionen auf, deren konstruktiver Ton sich so sehr von der heutigen Debattenkultur unterscheidet.

Freiheitstraditionen der deutschen Geschichte

Inhaltlich knüpfte man damals an die Freiheitstraditionen der deutschen Geschichte an, orientierte sich an den Leitgedanken der Revolution von 1848. Man griff einhundert Jahre später in Bonn zum Teil wortwörtlich auf den in der Frankfurter Paulskirche entstandenen ersten gesamtdeutschen Verfassungsentwurf zurück. Allerdings mit einer wichtigen Änderung, die das Grundgesetz auch von allen anderen deutschen Verfassungen unterscheidet: Es beginnt mit den Menschen und deren Rechten. Erst dann folgen der Staat und seine Institutionen.
Aktuell besteht allerdings die Tendenz, dass die vor einem Dreivierteljahrhundert als Abwehrrechte formulierten Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat mehr und mehr zu staatlichen Schutzleistungspflichten – oder gar Garantien – umgedeutet werden. Der Staat soll uns vor Terroristen und vor Viren, vor den Folgen des Klimawandels, ja am besten vor allen Ängsten und Lebensrisken schützen. Dieser Trend in der Auslegung des Grundgesetzes weg von der bürgerlichen Freiheit hin zu vermeintlicher staatlicher Sicherheit und Prävention hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt.

Die autoritäre Versuchung bleibt gegenwärtig

Gerade in diesen Tagen gilt es aber festzuhalten: Weder das Grundgesetz noch dessen freiheitliche Leitgedanken sind klimaschädlich. Auch wenn mancher hierzulande nun genau wie während der Pandemiejahre wieder die Frage stellt, ob man beim Klimaschutz nicht mehr Diktatur wagen sollte. Die autoritäre Versuchung bleibt in vielerlei Hinsicht gegenwärtig – nicht nur in anderen Ländern.
Wie jedes Gesetz formuliert auch das Grundgesetz lediglich Normen und Werte unseres Zusammenlebens. Sein Wortlaut sagt noch nichts über die Verfassungswirklichkeit. Laut einer aktuellen Umfrage meinen 70 Prozent der Deutschen, der gesellschaftliche Zusammenhalt habe sich in den vergangenen drei Jahren verschlechtert.
In einer Zeit jedoch, in der in unserer Gesellschaft immer wieder das Trennende betont wird, sollten wir wieder das Gemeinsame entdecken. Und dazu gehört dieser gut gealterte und über die Jahrzehnte gereifte Verfassungstext, der bei seiner Entstehung gänzlich ohne den heute überall gegenwärtigen, zeitgeistigen Alarmismus auskam.
Und dass, obwohl es 1948/49 vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges und des seinerzeit gerade vier Jahre zurückliegenden ersten Atombombenabwurfs reichlich Anlass zur Furcht vor der Apokalypse gegeben hätte. Doch trotz des von allen Beteiligten erlebten deutschen Zivilisationsbruchs der Jahre 1933 bis 1945 – und wenngleich damals ein noch viel größerer Teil der Welt als heutzutage autokratisch regiert wurde –, ist der Verfassungstext von einem tiefen Vertrauen in die Überzeugungskraft der Ideen von Demokratie und Freiheit getragen.

In die Jahre gekommen, aber jung geblieben

Deshalb sollte unsere in die Jahre gekommene, aber jung gebliebene Verfassung auch in ihrem 75. Lebensjahr vor Altersdiskriminierung geschützt werden. Wir sollten uns in Zeiten von Polarisierung, Krise und Zeitenwende auf dieses Dokument der Gelassenheit, des Optimismus und der Zuversicht, auf dieses papierne Fundament unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurückbesinnen. Denn was ursprünglich als Provisorium gedacht war, hat sich letztlich als die langlebigste deutsche Verfassung erwiesen.

René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. Er wurde 1977 in Mühlhausen geboren und studierte nach einem Diplom der Betriebswirtschaft Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. 2011 wurde er mit einer kommunikationshistorischen Arbeit an der Universität Gießen promoviert.

Porträt des Historikers René Schlott
© Angela Ankner
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