Grüße aus der NVA
18 Monate dauerte der Wehrdienst in der DDR. Eingezogen wurden fast alle jungen Männer ab dem 18. Lebensjahr. Sobald sie die Kasernentore passiert hatten, gab es für die meisten von ihnen nur noch ein einziges Fenster zur Außenwelt.
"Seit der ersten Woche hier sind Briefe für mich das Wichtigste. Das Warten auf den ersten Brief erschien mir wie eine Ewigkeit. Drei Tage Ewigkeit."
"Ein Brief ist eine moralische Stütze, eine Art Verbindung zum Zivilleben."
"Ohne einen Brief, ohne eine Antwort, ohne ein Zeichen, dass man irgendwo gehört, verstanden, gebraucht wird, kann man hier leicht durchdrehen."
Aus fünf Briefwechseln hat Marie von Kuck ihr Hörbuch "Unsere versäumten Tage. Liebesbriefe von NVA-Soldaten" zusammengestellt. Die Wehrpflichtigen Thommy, Wolfgang, Frank, Stefan und der Unteroffiziersschüler Michi schreiben den ihnen nahestehenden Menschen – Ehefrauen, Freundinnen und Eltern.
"Es ist schon komisch, hier zu sein und zu wissen, du bekommst meine Botschaft erst in drei oder vier Tagen. Außerdem kann ich ein Vielfaches von meinem Leben hier nicht schreiben, da ich der Schweigepflicht unterliege und die Briefe kontrolliert werden."
Die anfängliche Angst vor einer möglichen Zensur weicht aber bald dem Leidensdruck, der Außenwelt die Härten und Absurditäten des Lebens als NVA-Soldaten mitzuteilen.
"Es ist jetzt 20 Uhr 30, und ich bin gerade aus dem Gefechtspark gekommen. Ich musste noch die Wege harken im Dunkeln. Die anderen mussten heute Abend die Wiese mit grüner Sprühfarbe grün sprühen. Wenn man's nicht gesehen hat, glaubt man's nicht."
"Man höre und staune: Sogar zum Baden muss ein schriftlich fixierter Badebefehl erlassen werden."
"Der Kompaniechef hat schon wegen 'Lächeln bei Ausspruch einer Strafe' einen ins Gefängnis befördert. Jetzt fangen manche mit Selbstmorddrohungen an."
"Mit jedem Tag wird hier das Leben schrecklicher."
Was die fünf Briefschreiber verbindet, ist die Sehnsucht nach ihrem alten Leben. Besonders hart trifft es die jungen Väter Stefan und Wolfgang:
"Ich kann mir jetzt schon gar nicht mehr vorstellen, wie unser Kind aussieht und sich entwickelt hat. Dass sie jeden Tag durch die Wohnung krabbelt und mich überall sucht, ist schrecklich."
"Gestern bekam ich das Telegramm. Mir kamen gleich die Tränen. Wie ich inzwischen telefonisch erfahren habe, wurde die kleine Ulrike schon am Donnerstag geboren, aber am Sonnabend wusste ich erst Bescheid. Ein Telegram wird hier behandelt wie ein gewöhnlicher Brief. Ich hab' gleich einen Urlaubsantrag geschrieben. Es dauert sieben Tage, bis er genehmigt oder abgelehnt ist. Es macht alles keinen Spaß. Man kommt sich hier vor wie ein Verbrecher hinter Schloss und Riegel. Franziska soll nicht vergessen, mir vom Krankenhaus eine Bestätigung zu schicken, sonst bekomme ich keinen Sonderurlaub."
Durch die Montage der Briefpassagen zu bestimmten Themenschwerpunkten – zum Beispiel "Vereidigung", "Ausgang", Silvester" oder "Alkohol" – veranschaulicht Marie von Kuck die unterschiedlichen Wege, auf denen die fünf Soldaten ihre Zeit bei der NVA bewältigen. Während sich die einen langsam anpassen, zerbrechen andere fast an dem Druck – zum Beispiel Michi:
"Heute war ein herrlicher Sonnenuntergang zu sehen. Dabei waren immer zwei Hasenohren zu beobachten, ganz in rot. Bei der Weite der Landschaft fühl' ich mich noch mehr eingesperrt. Ich will hier raus."
Trotz des dokumentarischen Charakters entfaltet die Autorin einen Spannungsbogen, der den Hörer unweigerlich in seinen Bann zieht. Die eher unbekannten Sprecher tragen wesentlich dazu bei, dass der Hörer die unterschiedlichen Briefeschreiber als völlig unterschiedliche Charaktere ausmachen kann. Einziges Manko ist, dass man kaum Informationen über die Briefe und deren Verfasser erhält. Aus welcher Zeit die Korrespondenz stammt, wie alt die Soldaten sind, und wie es für sie nach ihrer Zeit bei der NVA weiterging – all das erfährt man nicht.
"Dein Brief hat mich sehr bedrückt gemacht. Und nun ... es fällt mir enorm schwer, Dir zu antworten. Ich schwimme, rudere. Du schreibst, Du wärst soweit, Dich von mir zu trennen. Das schockt mich mehr als nur sonst irgendwas. Bitte sprich noch einmal mit mir über alles. Ich warte sehr darauf. Michi."
Der Untertitel des Hörbuchs – "Liebesbriefe von NVA-Soldaten" – beschreibt den Inhalt nur unzureichend. Was hier zu hören ist, ist keine juvenile Prosa zwangskasernierter Spätteenanger. Vielmehr handelt es sich um ein Stück deutscher Alltags- und Zeitgeschichte. Dies wird durch die gekonnte Montage der Originaltexte und die sich daraus entwickelnde Dramaturgie für den Hörer unmittelbar erfahrbar.
"Mir wär's ganz angenehm, wenn wir uns gemeinsam vom für mich schlimmsten Ort der DDR verabschieden könnten. Kommst Du? In heißer Liebe, Dein Stefan."
Besprochen von Ralf Bei der Kellen
Marie von Kuck: Unsere versäumten Tage. Liebebriefe von NVA-Soldaten
Ein Hörstück nach Originaldokumenten
edition zeitlos 2010
1 CD, 9,90 Euro
"Ein Brief ist eine moralische Stütze, eine Art Verbindung zum Zivilleben."
"Ohne einen Brief, ohne eine Antwort, ohne ein Zeichen, dass man irgendwo gehört, verstanden, gebraucht wird, kann man hier leicht durchdrehen."
Aus fünf Briefwechseln hat Marie von Kuck ihr Hörbuch "Unsere versäumten Tage. Liebesbriefe von NVA-Soldaten" zusammengestellt. Die Wehrpflichtigen Thommy, Wolfgang, Frank, Stefan und der Unteroffiziersschüler Michi schreiben den ihnen nahestehenden Menschen – Ehefrauen, Freundinnen und Eltern.
"Es ist schon komisch, hier zu sein und zu wissen, du bekommst meine Botschaft erst in drei oder vier Tagen. Außerdem kann ich ein Vielfaches von meinem Leben hier nicht schreiben, da ich der Schweigepflicht unterliege und die Briefe kontrolliert werden."
Die anfängliche Angst vor einer möglichen Zensur weicht aber bald dem Leidensdruck, der Außenwelt die Härten und Absurditäten des Lebens als NVA-Soldaten mitzuteilen.
"Es ist jetzt 20 Uhr 30, und ich bin gerade aus dem Gefechtspark gekommen. Ich musste noch die Wege harken im Dunkeln. Die anderen mussten heute Abend die Wiese mit grüner Sprühfarbe grün sprühen. Wenn man's nicht gesehen hat, glaubt man's nicht."
"Man höre und staune: Sogar zum Baden muss ein schriftlich fixierter Badebefehl erlassen werden."
"Der Kompaniechef hat schon wegen 'Lächeln bei Ausspruch einer Strafe' einen ins Gefängnis befördert. Jetzt fangen manche mit Selbstmorddrohungen an."
"Mit jedem Tag wird hier das Leben schrecklicher."
Was die fünf Briefschreiber verbindet, ist die Sehnsucht nach ihrem alten Leben. Besonders hart trifft es die jungen Väter Stefan und Wolfgang:
"Ich kann mir jetzt schon gar nicht mehr vorstellen, wie unser Kind aussieht und sich entwickelt hat. Dass sie jeden Tag durch die Wohnung krabbelt und mich überall sucht, ist schrecklich."
"Gestern bekam ich das Telegramm. Mir kamen gleich die Tränen. Wie ich inzwischen telefonisch erfahren habe, wurde die kleine Ulrike schon am Donnerstag geboren, aber am Sonnabend wusste ich erst Bescheid. Ein Telegram wird hier behandelt wie ein gewöhnlicher Brief. Ich hab' gleich einen Urlaubsantrag geschrieben. Es dauert sieben Tage, bis er genehmigt oder abgelehnt ist. Es macht alles keinen Spaß. Man kommt sich hier vor wie ein Verbrecher hinter Schloss und Riegel. Franziska soll nicht vergessen, mir vom Krankenhaus eine Bestätigung zu schicken, sonst bekomme ich keinen Sonderurlaub."
Durch die Montage der Briefpassagen zu bestimmten Themenschwerpunkten – zum Beispiel "Vereidigung", "Ausgang", Silvester" oder "Alkohol" – veranschaulicht Marie von Kuck die unterschiedlichen Wege, auf denen die fünf Soldaten ihre Zeit bei der NVA bewältigen. Während sich die einen langsam anpassen, zerbrechen andere fast an dem Druck – zum Beispiel Michi:
"Heute war ein herrlicher Sonnenuntergang zu sehen. Dabei waren immer zwei Hasenohren zu beobachten, ganz in rot. Bei der Weite der Landschaft fühl' ich mich noch mehr eingesperrt. Ich will hier raus."
Trotz des dokumentarischen Charakters entfaltet die Autorin einen Spannungsbogen, der den Hörer unweigerlich in seinen Bann zieht. Die eher unbekannten Sprecher tragen wesentlich dazu bei, dass der Hörer die unterschiedlichen Briefeschreiber als völlig unterschiedliche Charaktere ausmachen kann. Einziges Manko ist, dass man kaum Informationen über die Briefe und deren Verfasser erhält. Aus welcher Zeit die Korrespondenz stammt, wie alt die Soldaten sind, und wie es für sie nach ihrer Zeit bei der NVA weiterging – all das erfährt man nicht.
"Dein Brief hat mich sehr bedrückt gemacht. Und nun ... es fällt mir enorm schwer, Dir zu antworten. Ich schwimme, rudere. Du schreibst, Du wärst soweit, Dich von mir zu trennen. Das schockt mich mehr als nur sonst irgendwas. Bitte sprich noch einmal mit mir über alles. Ich warte sehr darauf. Michi."
Der Untertitel des Hörbuchs – "Liebesbriefe von NVA-Soldaten" – beschreibt den Inhalt nur unzureichend. Was hier zu hören ist, ist keine juvenile Prosa zwangskasernierter Spätteenanger. Vielmehr handelt es sich um ein Stück deutscher Alltags- und Zeitgeschichte. Dies wird durch die gekonnte Montage der Originaltexte und die sich daraus entwickelnde Dramaturgie für den Hörer unmittelbar erfahrbar.
"Mir wär's ganz angenehm, wenn wir uns gemeinsam vom für mich schlimmsten Ort der DDR verabschieden könnten. Kommst Du? In heißer Liebe, Dein Stefan."
Besprochen von Ralf Bei der Kellen
Marie von Kuck: Unsere versäumten Tage. Liebebriefe von NVA-Soldaten
Ein Hörstück nach Originaldokumenten
edition zeitlos 2010
1 CD, 9,90 Euro