Grünes Wachstum

Ein neokoloniales Konzept

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Gewinnung von Lithium in der Atacama-Wüst in Chile.
Gewinnung von Lithium in der Atacama-Wüst in Chile. Bis heute hätten sich südamerikanische Länder nicht aus der wirtschaftlichen Rolle befreien können, die ihnen die Europäer nach der Eroberung vor 500 Jahren aufgezwungen hätten, so Annette Jensen. © picture alliance / AP / Rodrigo Abd
Ein Kommentar von Annette Jensen · 01.03.2024
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Klima und Umwelt schützen und gleichzeitig die Wirtschaft nach vorne bringen. Dieses Grüne Wachstum klingt erst einmal gut. In Wahrheit aber ist diese Wirtschaftsform ethisch höchst problematisch, meint die Umweltjournalistin Annette Jensen.
Grünes Wachstum. Das ist die Vision von EU-Kommission und Bundesregierung. Im Zentrum steht der technische Umbau. Das alles wird teuer – sicher. Aber bitte meine Damen und Herren: bloß keine Panik. Unser Komfort ist nicht in Gefahr! Niemand muss fürchten, künftig nicht mit seinem tonnenschweren SUV durch die Stadt cruisen zu dürfen.
Zwar wird das heilige Blech bald einen Elektroantrieb unter der Haube haben. Statt eine Tankstelle zu besuchen, müssen Sie künftig Ihr Gefährt an eine Ladesäule anschließen. Aber das ist wohl zumutbar. Hauptsache, den Strom haben Solaranlagen und Windräder erzeugt, dann ist alles paletti. Europas neue Welt ist klimaneutral – und sichert unseren Wohlstand. 
Doch um die Energie von Sonne und Wind einzusammeln, braucht es neue Gerätschaften und Infrastrukturen – und dafür gigantische Mengen an Rohstoffen, zum Beispiel Kupfer. Allein ein einziges großes Windrad benötigt bis zu 30 Tonnen des gut leitenden Metalls. In einem E-Auto werden fast dreimal so viel verbaut wie in einem Verbrenner. Die deutsche Rohstoffagentur rechnet damit, dass sich der Kupferbedarf in Deutschland bis 2035 verdoppelt. Und wo kommt das ganze Kupfer her? 

Wirtschaftsbeziehungen bleiben neokolonial geprägt

Zum Beispiel aus Chile. Das Land besitzt die weltweit größten Kupfervorkommen. Sie lagern im Norden des Landes in der Atacama-Wüste. Um eine Tonne Kupfer zu gewinnen, müssen mehrere Hundert Tonnen Gestein gesprengt werden.
Weil die meisten Trümmer keine Erze enthalten, landen sie auf Abraumhalden. Der kleinere Teil des Gerölls wird dann gemahlen und gewaschen – und das in einer Region, die zu den trockensten der Welt gehört. Mit stark ätzender Schwefelsäure lösen Arbeiter die Erze heraus. Viele Bergleute leiden an Staublunge. Auch Krebs kommt in der Region deutlich häufiger vor als anderswo. Eine ganze Stadt wurde wegen des Kupferabbaus bereits umgesiedelt. 
Auch große Lithiumvorkommen liegen in Nord-Chile. Deutschland braucht Lithium für die gerade entstehenden Batteriefabriken. Chile exportiert zu über 85 Prozent unverarbeitete Rohstoffe. In anderen südamerikanischen Ländern sieht es ähnlich aus. Bis heute konnte sich der Subkontinent nicht aus der wirtschaftlichen Rolle befreien, die ihm die Europäer nach der Eroberung vor 500 Jahren aufgezwungen haben. Auch jetzt werden die lukrativen Teile der Batterieproduktion in Deutschland stattfinden. 

Auch beim Wasserstoff gibt es einen Haken

Ein anderer Schlüsselfaktor für Europas Weg in seine grüne Zukunft ist Wasserstoff. Nur damit können sich Chemie- und Stahlindustrie von Kohle, Öl und Gas verabschieden. Auch Container- und Kreuzfahrtschiffe sollen damit fahren. Allerdings: Die Wasserstoffherstellung benötigt extrem viel Strom – und der sollte selbstverständlich aus erneuerbaren Quellen stammen.  
Um die nötigen Mengen herzustellen, müssten in Deutschland vier Prozent des Bodens mit Windrädern und Solarpaneelen zugepflastert werden. Völlig unakzeptabel. Da schaut man sich doch lieber nach geeigneten Flächen im Ausland um.
In Namibias Wüste ist ein bis zu 4000 Quadratkilometer großer Solarpark geplant. Der dort erzeugte Strom soll Ammoniak für Deutschland produzieren, das leichter zu transportieren ist als Wasserstoff. Ob die Milliardeninvestitionen der breiten Bevölkerung Namibias zugutekommen? Nichtregierungsorganisationen sprechen von einer intransparenten Vergabe, Umweltschützerinnen und Umweltschützer warnen vor schweren Schäden für seltene Pflanzen.

Beziehungen "auf Augenhöhe"?

Ist ja klar, irgendwer meckert immer. Aber bitte: Wir leben nicht mehr in Zeiten des Kolonialismus. Bei jedem Staatsbesuch betonen unsere Regierungsmitglieder, dass Verhandlungen heute „auf Augenhöhe“ stattfinden. Haben Sie also kein schlechtes Gewissen, meine Damen und Herren. Wir eröffnen armen Ländern neue Chancen. Da kann ja nun wirklich niemand etwas dagegen haben.

Annette Jensen ist freie Journalistin und Buchautorin in Berlin. Siestudierte Politikwissenschaften und Germanistik an den Universitäten inHeidelberg und Hamburg. 1992 war sie Mitbegründerin des Ressorts „Wirtschaft und Umwelt“ bei der Tageszeitung „taz“. Ihre Schwerpunkte sind ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit sowie gesellschaftliche Transformation. Jensen engagiert sich im Ernährungsrat Berlin und hatte die redaktionelle Verantwortung für das Buch „Berlin isst anders – ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“, das als Open Source erschienen ist.

Annette Jensen posiert für ein Porträtfoto
© Britta Knäbel
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