Grünen-Politikerin kritisiert Stoiber
Die binnenmarktpolitische Sprecherin der Grünen im EU-Parlament, Heide Rühle, hat den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber in seiner neuen Rolle als Bürokratiebekämpfer kritisiert. Stoibers Expertengruppe habe er erst einen Vorschlag zum Abbau von Bürokratenstellen vorgelegt, sagte Rühle: „Und auch da bezweifeln wir, dass der wirklich wirkt.“
Jürgen König: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels verschickte gestern eine Pressemitteilung, die begann so, Zitat: „Nachdem die Verhandlungen zwischen Europäischer Kommission, Europäischen Parlament und Rat der Europäischen Union über die Regelung für Pappbilderbücher im Rahmen der EU-Spielzeugrichtlinie gescheitert sind, fordert der Börsenverein des Deutschen Buchhandels für Pappbilderbücher eine Überarbeitung der gegenwärtigen Prüfungsbestimmungen der Europäischen Normungsbehörde CEN.“
Das heißt Comité Europeén de Normalisation. Da uns bis dahin die EU-Regelungen für Pappbilderbücher unbekannt waren, beschlossen wir, der Sache einmal nachzugehen. Ich begrüße am Telefon Renate Herre. Sie ist verlegerische Geschäftsführerin des Ravensburger Buchverlages und hat diese Initiative mit auf den Weg gebracht. Frau Herre, guten Morgen.
Renate Herre: Guten Morgen, Herr König!
König: Sie fordern, dass die gegenwärtigen Prüfungsbestimmungen für Pappbilderbücher überarbeitet werden. Wie wurden diese Bücher bisher geprüft und was haben Sie daran auszusetzen?
Herre: Die Prüfung der Bücher unterliegt einem sehr komplexen Prozess, weil das Thema Produktsicherheit natürlich die oberste Prämisse auch für uns als Marktführer ist. Die Bücher werden chemisch gestestet. Das heißt, alle verwendeten Materialien, Farben, Lacke, das verwendete Papier wird in den Einzelsubstanzen geprüft und getestet, damit eine Ungefährlichkeit garantiert werden kann. Hinzu kommt, dass alle Pappbilderbücher auch mechanischen Prüfungen unterliegen. Es gibt ja Pappbilderbücher, in die werden Zusatzteile eingebracht wie Plüsch oder Folien usw., dass sich hier nichts beim Blättern, beim Betrachten, beim Greifen auslösen lässt, sodass für das Kind irgendeine Gefahr entsteht.
Die Absurdität, gegen die habe ich gekämpft habe, ist das Produkte, die ausschließlich aus Pappe und Papier bestehen, gleich behandelt werden wie Spielzeug. Ein solches Pappbilderbuch unterliegt einer Drehmomentsprüfung, so nennt man diese Prüfung. Da wird eine Metallklemme am Buch angebracht und dann wird die Ecke um 180 Grad nach rechts gedreht und wieder um 180 zurück und dann können Sie sich vorstellen, was passiert.
König: Da brechen dann Buchecken heraus.
Herre: Genau. Und dann geht es darum, und das ist die strittige Frage, ist eine Buchecke ein gefährliches, verschluckbares Kleinteil oder nicht. Und Spezialisten sagen eindeutig, dass diese Prüfung zu nichts taugt, weil es einfach nur um die Vermeidung theoretischer gesundheitlicher Risiken geht, die aber aus medizinischer Sicht in der Praxis überhaupt nicht bestehen.
König: Ja. Das heißt, die EU sagt dann, Kinderbücher genügen nicht den Sicherheitsstandards von Spielzeug und verweigern ihnen dieses CEN-Gütesiegel?
Herre: Die EU sagt, Kinderbücher sind Spielzeug. Damit unterliegen sie all diesen Prüfungen. Macht diese Prüfung, verstärkt die Bücher, sodass diese Prüfung bestanden wird. Das ist möglich, wir können über eine Materialverstärkung diese Laborsituation positiv in den Griff bekommen. Nur bringt es nichts, weil was passiert im Alltag? Eine noch so dicke Seite, die können Sie auch fünf Zentimeter dick machen, kann liebevoll eingenuckelt werden und dann wird auch da eine Ecke abgelutscht.
König: Welche Prüfungsverfahren fordern Sie?
Herre: Ich fordere, dass die Pappbilderbücher von dieser mechanischen Prüfung, dieser Drehmomentsprüfung ausgeschlossen werden, weil definitiv kein Produktsicherheitsrisiko besteht.
König: Vielen Dank, Renate Herre, verlegerische Geschäftsführerin des Ravensburger Buchverlages. Um die Normierungsverfahren der Europäischen Union etwas besser zu verstehen, haben wir Heide Rühle angerufen. Sie ist im Europäischen Parlament die binnenmarktpolitische Sprecherin der Grünen innerhalb der Europäischen Freien Allianz und Heide Rühle war unter anderem an der Erarbeitung der EU-Spielzeugrichtlinie beteiligt. Frau Rühle, guten Morgen.
Heide Rühle: Guten Morgen, aber ich muss gleich dazu sagen, das Parlament, der Ausschuss, hat einstimmig beschlossen, die Pappbilderbücher auszunehmen. Gescheitert ist es an der Kommission.
König: Da antworten Sie gleich auf die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe. Sie teilen die Meinung von Frau Herre?
Rühle: Ja, ja, auf jeden Fall, und wir haben uns wirklich bemüht, in den Verhandlungen das zu verteidigen. Ich konnte die Position der Kommission nicht verstehen. Ich habe aber auch nicht verstanden, warum die großen Fraktionen ohne Not dann praktisch zurückgesteckt und das akzeptiert haben. Ich werde auf jeden Fall diesen Antrag nächste Woche noch einmal einbringen.
König: Was denken Sie sich, warum die so entschieden haben?
Rühle: Na ja, das Argument war immer, erstens mal wenn man Ausnahmen beschließt, muss man alles ausnehmen. Unser Gegenargument war, Pappe ist nun wirklich geprüft. Von daher gibt es da eine Sicherheit, das kann man nicht von allen Plastikartikeln gleichermaßen sagen. Und deshalb würde, wenn man alle Bücher, egal welches Material, ausschließt, eine neue Sicherheitslücke entstehen. Das hat die Kommission nie akzeptiert. Sie war immer der Meinung, man müsste dann Pappbilderbücher genauso behandeln wie Plastikbilderbücher. Wenn Ausnahmen, dann für alle oder für nichts.
König: Aber das kann man als Normalbürger gar nicht verstehen, denn das hat Frau Herre ja eben sehr schön erklärt: Es ist einfach Unfug.
Rühle: Das ist Unfug, da gebe ich Ihnen recht. Und ich meine, ein Kind kann im Haushalt an Verpackungsmaterial ran, an Pappkartons, meistens ist ja die Verpackung interessanter als das Spielzeug an sich.
König: So ist es.
Rühle: Und wenn es an Pappkartons lutscht, kann das genau das Gleiche passieren. Teile lösen sich ab, aber bisher sind daran noch nie Kinder erstickt. Das ist absurd so was.
König: Für uns Normalbürger ist ja das innere Wesen der Europäischen Union oft genug ein Buch mit sieben Siegeln. Jahrelang musste die Gurke gerade sein, jetzt darf sie wieder krumm werden. Dafür soll die gute alte Glühbirne abgeschafft werden. Können Sie uns, Frau Rühle, mal erklären, wie solche Normierungsverfahren überhaupt vonstatten gehen. Von wem gehen sie aus? Wer beantragt was? Wer sitzt darüber? Wer entscheidet was?
Rühle: Nach dem neuen „Approach“, das heißt so technisch, nach der neuen Vorgehensweise, wenn man so will, gibt es bei den Richtlinien von den Politikern nur noch die Rahmensetzung. Wir definieren nicht mehr die Werte, die Grenzwerte, sondern wir definieren nur noch, was genau geprüft werden muss.
König: Und beantworten das dann den Fachleuten?
Rühle: Genau. Und da gibt es diese Normierungsbüros, unter anderem den CEN, und die erstellen die Normen. Das Problem ist nur, dass diese Normierungsbüros meistens sehr einseitig zusammengesetzt sind. Es gibt eine Unzahl, und meistens kann nur die Großindustrie wirklich alle Ausschüsse besetzen. Eigentlich sollten da auch Verbraucherverbände sitzen, sollte auch kleine Mittelindustrie dort sitzen. Aber meistens sind die nicht so stark repräsentiert. Da gibt es ein Defizit, das haben wir schon mehrfach eingeklagt, weil wir sagen, wenn, dann müssen diese Normierungsbüros repräsentativ besetzt sein.
König: Das heißt, ich verstehe Sie richtig, die Verfahren bleiben gerne bei dieser CEN, bei diesem Prüfungsausschuss hängen?
Rühle: Na ja, schauen Sie mal, nehmen wir ein anderes Beispiel. Wir haben in bestimmten Bereichen noch immer keine neuen „Approach“, da geht es noch nach der alten Methode. Und dann kommen wir in die absurde Situation, dass das Parlament plötzlich die Normen bestimmt für Traktorsitze.
König: Für Traktorsitze?
Rühle: Richtig.
König: Aha.
Rühle: Nun kann man wahrhaftig nicht sagen, dass wir, oder Überrollbügel und derartige Dinge, nun kann man nicht sagen, dass wir dafür die Experten sind. Das macht wirklich keinen Sinn, dass wir da im Detail die Normen, die Dicke des Materials und, und, und bestimmen. Da finde ich schon richtig, dass das Normierungsbüros machen.
Aber erstens mal müssen die repräsentativ zusammengesetzt sein und dann muss es natürlich dabei bleiben, dass das Parlament, das heißt, die politischen Gesetzgeber weiterhin den Rahmen setzen. Dazu kommt, dass plötzlich Bilderbücher aus Pappe anders gewertet werden wie Bücher und dann plötzlich dem CEN unterliegen und er untersucht, ob hier nicht Ablösungsgefahren bestehen.
König: Wozu muss man überhaupt Traktorsitze normieren?
Rühle: Na ja, sagen wir mal so: Es gab da schon etliche Unfälle. Von daher macht es schon Sinn.
König: Unfälle, weil die Sitze nicht genormt waren?
Rühle: Weil die Sitze nicht sicher genug waren.
König: Ach so.
Rühle: Verstehen Sie, früher hat praktisch der Bundestag, haben das die Nationen gemacht. Heute durch den Binnenmarkt sind Produkte, die einmal auf dem Markt sind, in ganz Europa auf dem Markt. Deshalb ist es schon sinnvoller, wenn die Europäische Union diese Grenzwerte bestimmt, damit die Unfallgefahr gebannt ist. Aber wie gesagt, es liegt nicht an uns, da ins Detail zu gehen. Sondern für uns kommt es nur drauf an, dass wir sagen, da und da gibt es Risiken und die Risiken müssen gelöst werden.
König: Ja. In der Öffentlichkeit entsteht ja oft genug der Eindruck, dass bei dieser Normierung, deren Sinn Sie ja eben gerade sehr schön dargestellt haben, dass dabei nicht nur ein ja berechtigtes Sicherheitsding eine Rolle spielt, sondern dass es auch eine Normierungswut gibt, dass alles irgendwie einfach genormt werden muss, als sei das ein ehernes Gesetz. Für wie groß halten Sie innerhalb der EU die Lust zur Normung um ihrer selbst willen?
Rühle: Da gibt es natürlich zwei Probleme. Einmal solche Normierungsbüros haben natürlich auch eine Eigendynamik. Und ich habe ja vorher beschrieben, dass da vor allem die Prüfer, die Großindustrie sitzt, die haben teilweise auch das Interesse, andere vom Markt fernzuhalten. Deshalb bin ich schon immer der Meinung gewesen, man muss diesen Normierungsbüros mehr auf die Finger schauen, dass sie nicht aus Konkurrenzgründen plötzlich Normen erstellen, die gar nicht nötig wären. Das ist das eine Problem, die Bürokratie verselbständigt sich und da muss der Politiker immer wieder drauf schauen, dass es hier nicht in die falsche Richtung geht.
Das andere Problem ist natürlich auch, dass Mitgliedsstaaten häufig das Interesse dran haben, dass die Europäische Union in einem bestimmten Bereich tätig wird, damit sie ihren eigenen Produzenten einen Vorteil verschaffen. Das kennen wir auch von Deutschen, von deutschen Regierungen. Übrigens auch der oberste Bürokratiebekämpfer, Herr Stoiber, hat in der Zeit, als er bayerischer Ministerpräsident war, sich sehr stark dafür eingesetzt, dass der Traktorsitz normiert wird, um einem bestimmten Hersteller, der in Bayern saß, einen Vorteil zu verschaffen.
König: Und dieser Edmund Stoiber leitet seit über einem Jahr eine 15-köpfige Expertengruppe, die die EU-Kommission beim Bürokratieabbau in der EU beraten soll. Wie viele Bürokratenstellen wurden eigentlich schon abgebaut in dieser Zeit?
Rühle: Bisher noch nichts. Er hat jetzt einen Vorschlag vorgelegt, und auch da bezweifeln wir, dass der wirklich wirkt.
König: Das ist das Ergebnis von, wie viel sind es, 15 Monaten Tätigkeit?
Rühle: Ja.
König: Von 15 Menschen?
Rühle: Ja, so kann man das sagen. Ich meine, diese krumme Gurke kommt dann supertoll rüber.
König: Ich meine, auch da denkt man sich natürlich seinen Teil und schüttelt den Kopf und um mich herum, mein Kollege Andreas Müller, wenn ich das richtig deute, kann sich das Lachen kaum verkneifen.
Rühle: Na ja, man muss natürlich sagen, da hatte die deutsche Regierung Interesse, jemand auf eine Stelle nach Brüssel zu hieven. Man hat da natürlich auch jemand mehr oder weniger entsorgt. Das ist das Problem.
König: Na gut, aber er will ja schon als Bürokratieabbauer auch ernst genommen werden oder als Steuerzahler hat man ein Recht darauf, dass er seinen Job nun auch wirklich ernsthaft ausübt.
Rühle: Da gebe ich Ihnen recht. Da müsste er mehr tun. Aber es ist natürlich immer das Gleiche. So einfach ist es nicht, wenn einer auf so einer Stelle sitzt. Er müsste sehr viel mehr mit dem Parlament zusammenarbeiten. Das tut er viel zu wenig. Er müsste mit den anderen Stellen zusammenarbeiten. Ich meine, so wird es relativ wirkungslos. Außerdem muss man natürlich sagen, wenn wir versuchen, was auf Brüsseler Ebene zu reduzieren, dann stehen uns meistens die Mitgliedsstaaten auf den Füßen. Denn irgendeinen gibt es immer, der sich davon einen Vorteil verspricht und der dann wieder für die Erhaltung der Norm kämpft.
König: Das klingt, als gebe es für dieses Problem letztlich keine Lösung?
Rühle: Na, es gibt immer wieder Teilfortschritte. Diese krumme Gurke ist ja einer. Oder wir haben vor zwei Jahren die DIN-Normen für Lattenholz abgeschafft, weil die Industrie eigentlich das besser kann. Aber man muss dazu sagen, die Industrie hat damals, das war in den 60er-Jahren, verlangt, dass solche Normen aufgestellt werden, weil sie sich gegenseitig nicht vertraut haben, sie hat sich nicht vertraut und war dann der Meinung, damit hier keine Probleme entstehen, müsste die EU eine Norm entwickeln über Löcher in Lattenholz.
König: Nehmen Sie es mir nicht übel, aber, ich meine, Sie sind ja sozusagen auf unserer Seite. Man sitzt schon ein bisschen kopfschüttelnd vor alledem?
Rühle: Ja, da ist richtig. Es ist ein mühsamer Kampf, ein Kleinkampf.
König: Ja, richtig. Ich beneide Sie nicht um diesen Job.
Rühle: Manchmal werden auch Normen abgebaut, die durchaus Sinn machen. Zum Beispiel hat Herr Verheugen sich intensiv für die Verpackungsverordnung eingesetzt, um die Verpackungsgrößen nicht mehr festzulegen. Aber da, ich meine, in manchen Bereichen hat der Verbraucher auch Vorteile. Gerade ältere Verbraucher müssen jetzt mit der Lesebrille vergleichen, wenn in der einen Verpackung plötzlich nicht mehr 500 Gramm sind, sondern 400 Gramm. So leicht lässt sich das nicht feststellen. Eine Normung von Verpackungen macht durchaus auch Sinn.
König: Vielen Dank. Von Pappbilderbuchecken und genormten Traktorsitzen, ein Gespräch mit Heide Rühle. Sie ist binnenmarktpolitische Sprecherin der Grünen innerhalb der Europäischen Freien Allianz im Europäischen Parlament. Frau Rühle, vielen Dank und einen schönen Tag.
Rühle: Ihnen auch, Wiederhören.
Das heißt Comité Europeén de Normalisation. Da uns bis dahin die EU-Regelungen für Pappbilderbücher unbekannt waren, beschlossen wir, der Sache einmal nachzugehen. Ich begrüße am Telefon Renate Herre. Sie ist verlegerische Geschäftsführerin des Ravensburger Buchverlages und hat diese Initiative mit auf den Weg gebracht. Frau Herre, guten Morgen.
Renate Herre: Guten Morgen, Herr König!
König: Sie fordern, dass die gegenwärtigen Prüfungsbestimmungen für Pappbilderbücher überarbeitet werden. Wie wurden diese Bücher bisher geprüft und was haben Sie daran auszusetzen?
Herre: Die Prüfung der Bücher unterliegt einem sehr komplexen Prozess, weil das Thema Produktsicherheit natürlich die oberste Prämisse auch für uns als Marktführer ist. Die Bücher werden chemisch gestestet. Das heißt, alle verwendeten Materialien, Farben, Lacke, das verwendete Papier wird in den Einzelsubstanzen geprüft und getestet, damit eine Ungefährlichkeit garantiert werden kann. Hinzu kommt, dass alle Pappbilderbücher auch mechanischen Prüfungen unterliegen. Es gibt ja Pappbilderbücher, in die werden Zusatzteile eingebracht wie Plüsch oder Folien usw., dass sich hier nichts beim Blättern, beim Betrachten, beim Greifen auslösen lässt, sodass für das Kind irgendeine Gefahr entsteht.
Die Absurdität, gegen die habe ich gekämpft habe, ist das Produkte, die ausschließlich aus Pappe und Papier bestehen, gleich behandelt werden wie Spielzeug. Ein solches Pappbilderbuch unterliegt einer Drehmomentsprüfung, so nennt man diese Prüfung. Da wird eine Metallklemme am Buch angebracht und dann wird die Ecke um 180 Grad nach rechts gedreht und wieder um 180 zurück und dann können Sie sich vorstellen, was passiert.
König: Da brechen dann Buchecken heraus.
Herre: Genau. Und dann geht es darum, und das ist die strittige Frage, ist eine Buchecke ein gefährliches, verschluckbares Kleinteil oder nicht. Und Spezialisten sagen eindeutig, dass diese Prüfung zu nichts taugt, weil es einfach nur um die Vermeidung theoretischer gesundheitlicher Risiken geht, die aber aus medizinischer Sicht in der Praxis überhaupt nicht bestehen.
König: Ja. Das heißt, die EU sagt dann, Kinderbücher genügen nicht den Sicherheitsstandards von Spielzeug und verweigern ihnen dieses CEN-Gütesiegel?
Herre: Die EU sagt, Kinderbücher sind Spielzeug. Damit unterliegen sie all diesen Prüfungen. Macht diese Prüfung, verstärkt die Bücher, sodass diese Prüfung bestanden wird. Das ist möglich, wir können über eine Materialverstärkung diese Laborsituation positiv in den Griff bekommen. Nur bringt es nichts, weil was passiert im Alltag? Eine noch so dicke Seite, die können Sie auch fünf Zentimeter dick machen, kann liebevoll eingenuckelt werden und dann wird auch da eine Ecke abgelutscht.
König: Welche Prüfungsverfahren fordern Sie?
Herre: Ich fordere, dass die Pappbilderbücher von dieser mechanischen Prüfung, dieser Drehmomentsprüfung ausgeschlossen werden, weil definitiv kein Produktsicherheitsrisiko besteht.
König: Vielen Dank, Renate Herre, verlegerische Geschäftsführerin des Ravensburger Buchverlages. Um die Normierungsverfahren der Europäischen Union etwas besser zu verstehen, haben wir Heide Rühle angerufen. Sie ist im Europäischen Parlament die binnenmarktpolitische Sprecherin der Grünen innerhalb der Europäischen Freien Allianz und Heide Rühle war unter anderem an der Erarbeitung der EU-Spielzeugrichtlinie beteiligt. Frau Rühle, guten Morgen.
Heide Rühle: Guten Morgen, aber ich muss gleich dazu sagen, das Parlament, der Ausschuss, hat einstimmig beschlossen, die Pappbilderbücher auszunehmen. Gescheitert ist es an der Kommission.
König: Da antworten Sie gleich auf die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe. Sie teilen die Meinung von Frau Herre?
Rühle: Ja, ja, auf jeden Fall, und wir haben uns wirklich bemüht, in den Verhandlungen das zu verteidigen. Ich konnte die Position der Kommission nicht verstehen. Ich habe aber auch nicht verstanden, warum die großen Fraktionen ohne Not dann praktisch zurückgesteckt und das akzeptiert haben. Ich werde auf jeden Fall diesen Antrag nächste Woche noch einmal einbringen.
König: Was denken Sie sich, warum die so entschieden haben?
Rühle: Na ja, das Argument war immer, erstens mal wenn man Ausnahmen beschließt, muss man alles ausnehmen. Unser Gegenargument war, Pappe ist nun wirklich geprüft. Von daher gibt es da eine Sicherheit, das kann man nicht von allen Plastikartikeln gleichermaßen sagen. Und deshalb würde, wenn man alle Bücher, egal welches Material, ausschließt, eine neue Sicherheitslücke entstehen. Das hat die Kommission nie akzeptiert. Sie war immer der Meinung, man müsste dann Pappbilderbücher genauso behandeln wie Plastikbilderbücher. Wenn Ausnahmen, dann für alle oder für nichts.
König: Aber das kann man als Normalbürger gar nicht verstehen, denn das hat Frau Herre ja eben sehr schön erklärt: Es ist einfach Unfug.
Rühle: Das ist Unfug, da gebe ich Ihnen recht. Und ich meine, ein Kind kann im Haushalt an Verpackungsmaterial ran, an Pappkartons, meistens ist ja die Verpackung interessanter als das Spielzeug an sich.
König: So ist es.
Rühle: Und wenn es an Pappkartons lutscht, kann das genau das Gleiche passieren. Teile lösen sich ab, aber bisher sind daran noch nie Kinder erstickt. Das ist absurd so was.
König: Für uns Normalbürger ist ja das innere Wesen der Europäischen Union oft genug ein Buch mit sieben Siegeln. Jahrelang musste die Gurke gerade sein, jetzt darf sie wieder krumm werden. Dafür soll die gute alte Glühbirne abgeschafft werden. Können Sie uns, Frau Rühle, mal erklären, wie solche Normierungsverfahren überhaupt vonstatten gehen. Von wem gehen sie aus? Wer beantragt was? Wer sitzt darüber? Wer entscheidet was?
Rühle: Nach dem neuen „Approach“, das heißt so technisch, nach der neuen Vorgehensweise, wenn man so will, gibt es bei den Richtlinien von den Politikern nur noch die Rahmensetzung. Wir definieren nicht mehr die Werte, die Grenzwerte, sondern wir definieren nur noch, was genau geprüft werden muss.
König: Und beantworten das dann den Fachleuten?
Rühle: Genau. Und da gibt es diese Normierungsbüros, unter anderem den CEN, und die erstellen die Normen. Das Problem ist nur, dass diese Normierungsbüros meistens sehr einseitig zusammengesetzt sind. Es gibt eine Unzahl, und meistens kann nur die Großindustrie wirklich alle Ausschüsse besetzen. Eigentlich sollten da auch Verbraucherverbände sitzen, sollte auch kleine Mittelindustrie dort sitzen. Aber meistens sind die nicht so stark repräsentiert. Da gibt es ein Defizit, das haben wir schon mehrfach eingeklagt, weil wir sagen, wenn, dann müssen diese Normierungsbüros repräsentativ besetzt sein.
König: Das heißt, ich verstehe Sie richtig, die Verfahren bleiben gerne bei dieser CEN, bei diesem Prüfungsausschuss hängen?
Rühle: Na ja, schauen Sie mal, nehmen wir ein anderes Beispiel. Wir haben in bestimmten Bereichen noch immer keine neuen „Approach“, da geht es noch nach der alten Methode. Und dann kommen wir in die absurde Situation, dass das Parlament plötzlich die Normen bestimmt für Traktorsitze.
König: Für Traktorsitze?
Rühle: Richtig.
König: Aha.
Rühle: Nun kann man wahrhaftig nicht sagen, dass wir, oder Überrollbügel und derartige Dinge, nun kann man nicht sagen, dass wir dafür die Experten sind. Das macht wirklich keinen Sinn, dass wir da im Detail die Normen, die Dicke des Materials und, und, und bestimmen. Da finde ich schon richtig, dass das Normierungsbüros machen.
Aber erstens mal müssen die repräsentativ zusammengesetzt sein und dann muss es natürlich dabei bleiben, dass das Parlament, das heißt, die politischen Gesetzgeber weiterhin den Rahmen setzen. Dazu kommt, dass plötzlich Bilderbücher aus Pappe anders gewertet werden wie Bücher und dann plötzlich dem CEN unterliegen und er untersucht, ob hier nicht Ablösungsgefahren bestehen.
König: Wozu muss man überhaupt Traktorsitze normieren?
Rühle: Na ja, sagen wir mal so: Es gab da schon etliche Unfälle. Von daher macht es schon Sinn.
König: Unfälle, weil die Sitze nicht genormt waren?
Rühle: Weil die Sitze nicht sicher genug waren.
König: Ach so.
Rühle: Verstehen Sie, früher hat praktisch der Bundestag, haben das die Nationen gemacht. Heute durch den Binnenmarkt sind Produkte, die einmal auf dem Markt sind, in ganz Europa auf dem Markt. Deshalb ist es schon sinnvoller, wenn die Europäische Union diese Grenzwerte bestimmt, damit die Unfallgefahr gebannt ist. Aber wie gesagt, es liegt nicht an uns, da ins Detail zu gehen. Sondern für uns kommt es nur drauf an, dass wir sagen, da und da gibt es Risiken und die Risiken müssen gelöst werden.
König: Ja. In der Öffentlichkeit entsteht ja oft genug der Eindruck, dass bei dieser Normierung, deren Sinn Sie ja eben gerade sehr schön dargestellt haben, dass dabei nicht nur ein ja berechtigtes Sicherheitsding eine Rolle spielt, sondern dass es auch eine Normierungswut gibt, dass alles irgendwie einfach genormt werden muss, als sei das ein ehernes Gesetz. Für wie groß halten Sie innerhalb der EU die Lust zur Normung um ihrer selbst willen?
Rühle: Da gibt es natürlich zwei Probleme. Einmal solche Normierungsbüros haben natürlich auch eine Eigendynamik. Und ich habe ja vorher beschrieben, dass da vor allem die Prüfer, die Großindustrie sitzt, die haben teilweise auch das Interesse, andere vom Markt fernzuhalten. Deshalb bin ich schon immer der Meinung gewesen, man muss diesen Normierungsbüros mehr auf die Finger schauen, dass sie nicht aus Konkurrenzgründen plötzlich Normen erstellen, die gar nicht nötig wären. Das ist das eine Problem, die Bürokratie verselbständigt sich und da muss der Politiker immer wieder drauf schauen, dass es hier nicht in die falsche Richtung geht.
Das andere Problem ist natürlich auch, dass Mitgliedsstaaten häufig das Interesse dran haben, dass die Europäische Union in einem bestimmten Bereich tätig wird, damit sie ihren eigenen Produzenten einen Vorteil verschaffen. Das kennen wir auch von Deutschen, von deutschen Regierungen. Übrigens auch der oberste Bürokratiebekämpfer, Herr Stoiber, hat in der Zeit, als er bayerischer Ministerpräsident war, sich sehr stark dafür eingesetzt, dass der Traktorsitz normiert wird, um einem bestimmten Hersteller, der in Bayern saß, einen Vorteil zu verschaffen.
König: Und dieser Edmund Stoiber leitet seit über einem Jahr eine 15-köpfige Expertengruppe, die die EU-Kommission beim Bürokratieabbau in der EU beraten soll. Wie viele Bürokratenstellen wurden eigentlich schon abgebaut in dieser Zeit?
Rühle: Bisher noch nichts. Er hat jetzt einen Vorschlag vorgelegt, und auch da bezweifeln wir, dass der wirklich wirkt.
König: Das ist das Ergebnis von, wie viel sind es, 15 Monaten Tätigkeit?
Rühle: Ja.
König: Von 15 Menschen?
Rühle: Ja, so kann man das sagen. Ich meine, diese krumme Gurke kommt dann supertoll rüber.
König: Ich meine, auch da denkt man sich natürlich seinen Teil und schüttelt den Kopf und um mich herum, mein Kollege Andreas Müller, wenn ich das richtig deute, kann sich das Lachen kaum verkneifen.
Rühle: Na ja, man muss natürlich sagen, da hatte die deutsche Regierung Interesse, jemand auf eine Stelle nach Brüssel zu hieven. Man hat da natürlich auch jemand mehr oder weniger entsorgt. Das ist das Problem.
König: Na gut, aber er will ja schon als Bürokratieabbauer auch ernst genommen werden oder als Steuerzahler hat man ein Recht darauf, dass er seinen Job nun auch wirklich ernsthaft ausübt.
Rühle: Da gebe ich Ihnen recht. Da müsste er mehr tun. Aber es ist natürlich immer das Gleiche. So einfach ist es nicht, wenn einer auf so einer Stelle sitzt. Er müsste sehr viel mehr mit dem Parlament zusammenarbeiten. Das tut er viel zu wenig. Er müsste mit den anderen Stellen zusammenarbeiten. Ich meine, so wird es relativ wirkungslos. Außerdem muss man natürlich sagen, wenn wir versuchen, was auf Brüsseler Ebene zu reduzieren, dann stehen uns meistens die Mitgliedsstaaten auf den Füßen. Denn irgendeinen gibt es immer, der sich davon einen Vorteil verspricht und der dann wieder für die Erhaltung der Norm kämpft.
König: Das klingt, als gebe es für dieses Problem letztlich keine Lösung?
Rühle: Na, es gibt immer wieder Teilfortschritte. Diese krumme Gurke ist ja einer. Oder wir haben vor zwei Jahren die DIN-Normen für Lattenholz abgeschafft, weil die Industrie eigentlich das besser kann. Aber man muss dazu sagen, die Industrie hat damals, das war in den 60er-Jahren, verlangt, dass solche Normen aufgestellt werden, weil sie sich gegenseitig nicht vertraut haben, sie hat sich nicht vertraut und war dann der Meinung, damit hier keine Probleme entstehen, müsste die EU eine Norm entwickeln über Löcher in Lattenholz.
König: Nehmen Sie es mir nicht übel, aber, ich meine, Sie sind ja sozusagen auf unserer Seite. Man sitzt schon ein bisschen kopfschüttelnd vor alledem?
Rühle: Ja, da ist richtig. Es ist ein mühsamer Kampf, ein Kleinkampf.
König: Ja, richtig. Ich beneide Sie nicht um diesen Job.
Rühle: Manchmal werden auch Normen abgebaut, die durchaus Sinn machen. Zum Beispiel hat Herr Verheugen sich intensiv für die Verpackungsverordnung eingesetzt, um die Verpackungsgrößen nicht mehr festzulegen. Aber da, ich meine, in manchen Bereichen hat der Verbraucher auch Vorteile. Gerade ältere Verbraucher müssen jetzt mit der Lesebrille vergleichen, wenn in der einen Verpackung plötzlich nicht mehr 500 Gramm sind, sondern 400 Gramm. So leicht lässt sich das nicht feststellen. Eine Normung von Verpackungen macht durchaus auch Sinn.
König: Vielen Dank. Von Pappbilderbuchecken und genormten Traktorsitzen, ein Gespräch mit Heide Rühle. Sie ist binnenmarktpolitische Sprecherin der Grünen innerhalb der Europäischen Freien Allianz im Europäischen Parlament. Frau Rühle, vielen Dank und einen schönen Tag.
Rühle: Ihnen auch, Wiederhören.