Grünen-Politiker Beck: Urteil des Bundesverfassungsgerichtes schwächt den Bundestag

Moderation: Marie Sagenschneider |
Der parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis90/Die Grünen, Volker Beck, hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für Neuwahlen als Schwächung des Parlaments kritisiert. Er habe die Sorge, "dass die Auflösung des Bundestages durch den Bundeskanzler in den politischen Instrumentenkasten rutschen" könne, sagte Beck.
Marie Sagenschneider: ... nicht mehr allzu schwer sein, denn das Bundesverfassungsgericht hat gestern den Spielraum des Kanzlers in dieser Frage so erweitert, dass der Wahrheitsgehalt von Vertrauensfragen kaum noch überprüft werden kann. Und nun muss das Parlament im Gegenzug auch gestärkt werden, zum Beispiel durch ein Auflösungsrecht? Der Bundespräsident hat das gestern gefordert, kaum dass die Karlsruher Richter den Weg für Neuwahlen frei gemacht hatten. Und er ist nicht der Einzige. Darüber wollen wir nun auch hier im Deutschlandradio Kultur mit Volker Beck sprechen, er ist der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen und derzeit arg erkältet. Guten Morgen, Herr Beck.

Volker Beck: Guten Morgen.

Sagenschneider: Die Grünen hatten ja eigentlich keine Neuwahlen gewollt. Sind Sie jetzt dennoch zufrieden, dass das Bundesverfassungsgericht den Weg dazu frei gemacht hat?

Beck: Ja, selbstverständlich, wir hatten uns ja jetzt darauf eingestellt, sonst wäre jetzt alles ein ziemliches Gewirr geworden, wenn man uns jetzt gesagt hätte, jetzt müsst ihr noch ein Jahr lang regieren. Wir hätten es zwar gekonnt, aber ich glaube, die Stimmung im Land wäre nicht besonders zufrieden gewesen, wenn es so gekommen wäre, dass die beiden Klagen Recht bekommen hätten.

Sagenschneider: Die Kläger, die Abgeordneten Schulz und Hoffmann, die haben ja gestern beide davon gesprochen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes direkt in eine Kanzlerdemokratie führen würde, ein Begriff, den wir eigentlich noch aus Adenauers Zeiten kennen. Kanzlerdemokratie unter anderem deswegen, weil die Karlsruher Richter gesagt haben, man braucht keinen Beweis dafür, dass der Kanzler nicht mehr auf die Mehrheit des Bundestages bauen kann, es reicht, wenn er sagt, es könnte in Zukunft so sein, dass dies eintritt. Wie werten Sie das?

Beck: Ich finde, sie haben ein Stück weit Recht, diese Befürchtung teile ich. An sich ist es so, dass jeder Kanzler sagen kann, "Ich hatte Diskussionen in meiner Koalition" und ich bitte dann noch meine Regierungsmitglieder im Kabinett der Abstimmung über die Vertrauensfrage entweder fern zu bleiben, oder sich zu enthalten, dann kriege ich in aller Regel die Voraussetzung hin, um nach Artikel 68 über eine unechte Vertrauensfrage den Bundestag aufzulösen, und das war eigentlich von unserer Verfassung so nicht gewollt. Der Sündenfall für diese Rechtslage hat das Gericht 1983 herbeigeführt, als es damals in dem Fall der neuen christlich-liberalen Koalition denen ermöglicht hat, nach einem halben Jahr Neuwahlen zu veranstalten. Ich glaube, wir müssen jetzt darüber nachdenken, ob wir das wirklich wollen, oder ob wir verfassungsrechtlich hier eine neue Situation schaffen und wir dem einen Riegel vorschieben. Ich wäre sehr dafür, und das wäre dann eben die Diskussion um ein Selbstauflösungsrecht, ein Selbstauflösungsrecht, dass der Bundestag dann erhält und wo er dann mit einer qualifizierten Drei-Viertel- oder Zwei-Drittel-Mehrheit und womöglich in geheimer Wahl darüber befinden kann, abstimmen kann, ob er vor dem Ende der Wahlperiode sich auflöst, und dann würde man dem Kanzler diese Möglichkeit nehmen. Ich glaube, das wäre besser, es wäre eigentlich auch im Geiste unserer Verfassung, die eigentlich im Regelfall will, dass sich im Deutschen Bundestag immer wieder handlungsfähige Mehrheiten zusammenfinden und nicht, dass man einfach den Bettel hinschmeißt und einfach davonläuft.

Sagenschneider: Ein Selbstauflösungsrecht, sozusagen als Ausgleich, um als Parlament gegenüber dem Kanzlerrat fraktionsfähig zu sein.

Beck: Es geht ja nicht um Fraktionsfähigkeit. Es geht darum, was man mit der Verfassung will. Ich glaube, Deutschland ist mit der verfassungspolitischen Kultur ganz gut gefahren, wo man gesagt hat, so was will man eigentlich nicht. Es gibt ja erst den dritten Fall, dass mit einer unechten Vertrauensfrage die Auflösung angestrebt wurde. Zwei Fälle wurden vom Bundesverfassungsgericht nun entschieden. Meine Sorge ist ein bisschen, dass, wenn man nichts unternimmt, diese Auflösung des Bundestages durch den Bundeskanzler in den tagespolitischen Instrumentenkasten rutschen könnte, und ich finde, da hat es eigentlich nichts zu suchen.

Sagenschneider: Und was heißt das ganz konkret?

Beck: Die Gefahr ist, dass man jetzt, wo man es zum dritten Mal gemacht hat, wesentlich weniger Hemmungen hat, als nach 1983 und dass bis zum nächsten Mal dann eben nicht 22 Jahre oder 23 Jahre vergehen, sondern dass es dann in kürzeren Intervallen doch immer wieder dazu kommt, wenn es gerade opportun ist für eine politische Mehrheit, dann den Wahltermin anzusetzen.

Sagenschneider: Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie, dass das Bundesverfassungsgericht gestern eine Entscheidung verkündet hat, die das Parlament schwächt.

Beck: Ja, das Parlament ist eindeutig durch so eine Entscheidung dann gegenüber dem Bundeskanzler geschwächt, weil der Bundeskanzler eigentlich mit einer Kleintruppe von Gefolgsleuten auch gegen den Mehrheitswillen des Bundestages das Parlament auflösen kann und es besteht auch die Gefahr, dass die jeweilige politische Mehrheit sich dann den Wahltermin so legt, wie er ihr gerade passt und das kann dann dazu führen, dass politische Minderheiten auch in ihren Wahlchancen beschnitten werden.

Sagenschneider: Glauben Sie denn, dass das Parlament sich der Frage nach dem Selbstauflösungsrecht in der kommenden Legislaturperiode tatsächlich befassen wird, oder wird das Thema Neuwahlen doch wieder schnell vergessen sein, weil man sagt, nun ja so oft kommt es ja nun auch vor?

Beck: Natürlich wird man dann argumentieren, "Wir haben jetzt andere Probleme", aber ich finde, wir sollten gerade solche verfassungsrechtlichen Fragen dann diskutieren, wenn wir die Situation nicht unmittelbar vor der Nase haben und sagen, wir wollen für die jetzige Situation eine verfassungsrechtliche Lösung. Man sollte das im Lichte des Jahres 2005 diskutieren, aber eben doch unabhängig davon und letztendlich abstrakt, weil eine Verfassung muss eigentlich so ausgestaltet sein, dass sie in schwierigen wie in guten Zeiten funktioniert und dass sie etwas ist, worauf man sich verlassen kann, worauf der Bürger sich verlassen kann, worauf sich die Verfassungsorgane in ihrem Verhältnis untereinander verlassen können,