Grüne: Bundesregierung soll nicht zu EM-Spielen reisen
Die sportpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Viola von Cramon, hat die Bundesregierung aufgefordert, nicht zu den Spielen der Fußball-Europameisterschaft in die Ukraine zu reisen. Es sei wichtig, die Menschenrechtslage in der Ukraine auch über die EM hinaus zu beobachten.
André Hatting: Heute Abend, 18 Uhr, Nationalstadion in Warschau – knapp 60.000 Zuschauer in der ausverkauften Arena erleben den Anpfiff der Partie Polen gegen Griechenland, dem Auftaktmatch dieser Fußball-Europameisterschaft, und natürlich Millionen Menschen vor dem Fernseher und auf den Fanmeilen.
War sonst noch was? Ach ja, die Ukraine und ihr autoritärer Präsident Janukowitsch: Er bleibt für den Europäischen Fußballverband der Stachel im Fleisch. Als man die Ukraine neben Polen zum Austragungsort machte, da regierte noch Julia Timoschenko – die ist verurteilt und seit Monaten im Gefängnis.
Bei mir im Studio ist jetzt Viola von Cramon, sie ist Mitglied der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, deren sportpolitische Sprecherin und Osteuropa-Expertin. Guten Morgen, Frau von Cramon!
Viola von Cramon: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Timoschenko hat ihren Hungerstreik vor einem Monat beendet. Befürchten Sie, dass jetzt, mit dem Beginn der EM, das Thema in den Hintergrund tritt?
von Cramon: Ich glaube, es geht ja wirklich nicht so sehr um Frau Timoschenko selbst. Ich glaube, es geht ja insgesamt um die Situation der politisch Inhaftierten, der früheren Regierung und aber auch der Opposition, die sich jetzt demnächst zur Wahl stellt. Ich glaube, dass Frau Timoschenko sehr wohl dafür sorgen wird, dass ihre Person nicht aus der Vergessenheit gerät.
Ihre Tochter ist sehr bemüht, auch hier in Europa nicht nur für ihre Mutter zu werben, sondern insgesamt auf die Verhältnisse in der Ukraine aufmerksam zu machen, und daher muss ich ganz ehrlich sagen – ich war ja auch kürzlich in Rachiw, ich habe dort mit den Ärzten gesprochen, ich habe gesehen, dass man sich wirklich redlich bemüht, auch die medizinischen Verhältnisse deutlich zu verbessern im Vergleich zu dem, was man Ende letzten Jahres vorgefunden hat –, also um die Person von Frau Timoschenko mache ich mir angesichts dessen wenig Gedanken.
Hatting: Aber, das ist da herauszuhören, um die Situation der Menschenrechtsorganisationen. Wie ist die jetzt so, unmittelbar vor Anpfiff?
von Cramon: Na ja, man muss ehrlich gesagt sagen, dass natürlich im Moment der Sport im Vordergrund und uns hier im Westen aber auch eben der Menschenrechtsverteidiger. In der Ukraine kann es nur darum gehen, den Blick langfristig auf dieses Land zu lenken, und wir müssen uns darum kümmern, dass vor allen Dingen auch nach der Euro dieses Land nicht aus dem Fokus gerät. Die Parlamentswahlen Ende Oktober sind ein ganz besonderer Lackmustest.
Wir müssen schauen, dass wir es schaffen, die Zeit zwischen der Euro und den Parlamentswahlen so weit zu nutzen, dass wir faire, freie, unabhängige Wahlen nach OSZE-Standards gewährleisten können, und das wird noch viel Arbeit sein. Und ob die ukrainische Regierung das versteht, wie viel auf dem Spiel steht – das habe ich bisher noch nicht erkannt.
Hatting: Sie arbeiten daran, Sie arbeiten daran, dass auch nach dieser Fußball-Europameisterschaft das Thema Ukraine und Menschenrechtslage dort nicht aus dem Fokus gerät. Zum Beispiel hat Ihre Fraktion im Bundestag sich dafür eingesetzt, die Visa-Bestimmungen zu erleichtern. Was genau soll das bringen?
von Cramon: Ich glaube, das wäre ein ganz wichtiger Schritt, um vor allen Dingen der ukrainischen Bevölkerung zu zeigen, dass sie willkommen sind in Europa, dass wir, dass Deutschland, dass die Europäische Union möchte, dass es einen schnelleren Zugang, einen leichteren Zugang für die Bevölkerung, für die einfache Bevölkerung, für die Kulturschaffenden, für die Wissenschaftler gibt.
Denn diejenigen, die jetzt im Besitz eines Diplomatenpasses sind – und das sind ja zum Beispiel alle Abgeordneten, das ist ja ein Grund, weswegen auch die Sitze im Parlament so heiß umkämpft sind –, die sind nicht angewiesen auf diese Visa-Liberalisierung. Die können jederzeit zu ihren Häusern nach Wien, nach London oder nach Paris fliegen. Und das ist genau das Dilemma: Wir müssen schauen, dass wir Signale aussenden, sodass auch die Bevölkerung versteht: Welchen Vorteil hätten wir denn, wenn wir zum Beispiel das Assoziierungsabkommen, was ja im Moment noch nicht ratifiziert ist, ratifizieren könnten?
Und da hoffen wir sehr, dass es zum Beispiel im Zuge der nächsten Monate mehr Druck, auch innenpolitischen Druck in der Ukraine geben wird, damit man da genau die Forderung, die ja auch in dem Assoziierungsabkommen enthalten sind, damit man die erfüllt und dann letztendlich auch ratifizieren kann.
Hatting: Lassen Sie mich noch mal kurz zurückkommen zum Beginn der Europameisterschaft jetzt. Die Bundesregierung ist immer noch unentschlossen, was das Thema Boykott angeht. Letzter Stand, zumindest zu den Vorrundenspielen der DFB-Elf: In die Ukraine fährt sie nicht. Radikaler ist die EU-Kommission, sie hat angekündigt, alle Spiele in der Ukraine zu boykottieren. Finden Sie das richtig?
von Cramon: Ich fand, es wäre geschickt von Frau Merkel, sagen wir so, dass sie sich jetzt bei der Vorbereitung gezeigt hat, die Bilder vom gemeinsamen Abendessen sind ja auch durch die Medien gegangen. Es ist ein Signal, sie interessiert sich für die Mannschaft, sie interessiert sich für den Stand der Vorbereitung. Aber sie lässt es eben offen, ob sie am Ende reist. Ich glaube, es ist auch klar: Das Signal ist angekommen, dass sie beispielsweise beim G20-Gipfel Janukowitsch nicht die Hand gegeben hat. Auch das ist in der ukrainischen Presse sehr wohl registriert worden. Ich denke schon, dass diese Zeichen nicht unbedeutend sind. Und daher würde ich mir wünschen, dass die Regierung nach wie vor daran festhält, nicht zu den Spielen zu reisen.
Hatting: Lassen Sie mich den Handschlag aufgreifen: Am 1. Juli ist das Endspiel in Kiew. Angenommen, Deutschland erreicht das Finale – es ist ja nun kein unwahrscheinlicher Gedanke –, dann defiliert die Nationalmannschaft nach dem Spiel auch in der Ehrenloge am ukrainischen Präsidenten Janukowitsch vorbei. Millionen Menschen werden das live miterleben. Wie verhält sie sich dann richtig?
von Cramon: Das ist eine sehr, sehr wichtige und interessante Frage, und unabhängig davon, wer am Ende Europameister wird, muss man sich genau überlegen, ob man diesem Präsidenten mit einem Handschlag begegnen möchte und ob man den Pokal entgegennimmt und ihm ... oder diese Gratulation auch so möchte. Ich kann diese Entscheidung niemandem abnehmen, keinem Kapitän, auch Philipp Lahm nicht, aber ich denke, er ist schlau genug, um diese Entscheidung auch richtig zu fällen.
Hatting: 1978 hatte der damalige Weltmeistertrainer der Argentinier César Menotti dem Diktator Videla demonstrativ den Handschlag verweigert. Wünschen Sie sich das auch insgeheim am 1. Juli in Kiew, egal, wer Europameister wird?
von Cramon: Natürlich wünsche ich mir das, und ich könnte mir auch vorstellen, dass die deutsche Nationalmannschaft oder dass der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, wenn es Philipp Lahm sein sollte, sich ähnlich verhält, aber an der Stelle möchte ich lieber keine Tipps geben.
Hatting: Viola von Cramon, Mitglied der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und deren sportpolitische Sprecherin. Ich bedanke mich für Ihren Besuch im Studio!
von Cramon: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alles rund um die Fußball-Europameisterschaft finden Sie auf unserem UEFA EURO 2012 Portal
War sonst noch was? Ach ja, die Ukraine und ihr autoritärer Präsident Janukowitsch: Er bleibt für den Europäischen Fußballverband der Stachel im Fleisch. Als man die Ukraine neben Polen zum Austragungsort machte, da regierte noch Julia Timoschenko – die ist verurteilt und seit Monaten im Gefängnis.
Bei mir im Studio ist jetzt Viola von Cramon, sie ist Mitglied der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, deren sportpolitische Sprecherin und Osteuropa-Expertin. Guten Morgen, Frau von Cramon!
Viola von Cramon: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Timoschenko hat ihren Hungerstreik vor einem Monat beendet. Befürchten Sie, dass jetzt, mit dem Beginn der EM, das Thema in den Hintergrund tritt?
von Cramon: Ich glaube, es geht ja wirklich nicht so sehr um Frau Timoschenko selbst. Ich glaube, es geht ja insgesamt um die Situation der politisch Inhaftierten, der früheren Regierung und aber auch der Opposition, die sich jetzt demnächst zur Wahl stellt. Ich glaube, dass Frau Timoschenko sehr wohl dafür sorgen wird, dass ihre Person nicht aus der Vergessenheit gerät.
Ihre Tochter ist sehr bemüht, auch hier in Europa nicht nur für ihre Mutter zu werben, sondern insgesamt auf die Verhältnisse in der Ukraine aufmerksam zu machen, und daher muss ich ganz ehrlich sagen – ich war ja auch kürzlich in Rachiw, ich habe dort mit den Ärzten gesprochen, ich habe gesehen, dass man sich wirklich redlich bemüht, auch die medizinischen Verhältnisse deutlich zu verbessern im Vergleich zu dem, was man Ende letzten Jahres vorgefunden hat –, also um die Person von Frau Timoschenko mache ich mir angesichts dessen wenig Gedanken.
Hatting: Aber, das ist da herauszuhören, um die Situation der Menschenrechtsorganisationen. Wie ist die jetzt so, unmittelbar vor Anpfiff?
von Cramon: Na ja, man muss ehrlich gesagt sagen, dass natürlich im Moment der Sport im Vordergrund und uns hier im Westen aber auch eben der Menschenrechtsverteidiger. In der Ukraine kann es nur darum gehen, den Blick langfristig auf dieses Land zu lenken, und wir müssen uns darum kümmern, dass vor allen Dingen auch nach der Euro dieses Land nicht aus dem Fokus gerät. Die Parlamentswahlen Ende Oktober sind ein ganz besonderer Lackmustest.
Wir müssen schauen, dass wir es schaffen, die Zeit zwischen der Euro und den Parlamentswahlen so weit zu nutzen, dass wir faire, freie, unabhängige Wahlen nach OSZE-Standards gewährleisten können, und das wird noch viel Arbeit sein. Und ob die ukrainische Regierung das versteht, wie viel auf dem Spiel steht – das habe ich bisher noch nicht erkannt.
Hatting: Sie arbeiten daran, Sie arbeiten daran, dass auch nach dieser Fußball-Europameisterschaft das Thema Ukraine und Menschenrechtslage dort nicht aus dem Fokus gerät. Zum Beispiel hat Ihre Fraktion im Bundestag sich dafür eingesetzt, die Visa-Bestimmungen zu erleichtern. Was genau soll das bringen?
von Cramon: Ich glaube, das wäre ein ganz wichtiger Schritt, um vor allen Dingen der ukrainischen Bevölkerung zu zeigen, dass sie willkommen sind in Europa, dass wir, dass Deutschland, dass die Europäische Union möchte, dass es einen schnelleren Zugang, einen leichteren Zugang für die Bevölkerung, für die einfache Bevölkerung, für die Kulturschaffenden, für die Wissenschaftler gibt.
Denn diejenigen, die jetzt im Besitz eines Diplomatenpasses sind – und das sind ja zum Beispiel alle Abgeordneten, das ist ja ein Grund, weswegen auch die Sitze im Parlament so heiß umkämpft sind –, die sind nicht angewiesen auf diese Visa-Liberalisierung. Die können jederzeit zu ihren Häusern nach Wien, nach London oder nach Paris fliegen. Und das ist genau das Dilemma: Wir müssen schauen, dass wir Signale aussenden, sodass auch die Bevölkerung versteht: Welchen Vorteil hätten wir denn, wenn wir zum Beispiel das Assoziierungsabkommen, was ja im Moment noch nicht ratifiziert ist, ratifizieren könnten?
Und da hoffen wir sehr, dass es zum Beispiel im Zuge der nächsten Monate mehr Druck, auch innenpolitischen Druck in der Ukraine geben wird, damit man da genau die Forderung, die ja auch in dem Assoziierungsabkommen enthalten sind, damit man die erfüllt und dann letztendlich auch ratifizieren kann.
Hatting: Lassen Sie mich noch mal kurz zurückkommen zum Beginn der Europameisterschaft jetzt. Die Bundesregierung ist immer noch unentschlossen, was das Thema Boykott angeht. Letzter Stand, zumindest zu den Vorrundenspielen der DFB-Elf: In die Ukraine fährt sie nicht. Radikaler ist die EU-Kommission, sie hat angekündigt, alle Spiele in der Ukraine zu boykottieren. Finden Sie das richtig?
von Cramon: Ich fand, es wäre geschickt von Frau Merkel, sagen wir so, dass sie sich jetzt bei der Vorbereitung gezeigt hat, die Bilder vom gemeinsamen Abendessen sind ja auch durch die Medien gegangen. Es ist ein Signal, sie interessiert sich für die Mannschaft, sie interessiert sich für den Stand der Vorbereitung. Aber sie lässt es eben offen, ob sie am Ende reist. Ich glaube, es ist auch klar: Das Signal ist angekommen, dass sie beispielsweise beim G20-Gipfel Janukowitsch nicht die Hand gegeben hat. Auch das ist in der ukrainischen Presse sehr wohl registriert worden. Ich denke schon, dass diese Zeichen nicht unbedeutend sind. Und daher würde ich mir wünschen, dass die Regierung nach wie vor daran festhält, nicht zu den Spielen zu reisen.
Hatting: Lassen Sie mich den Handschlag aufgreifen: Am 1. Juli ist das Endspiel in Kiew. Angenommen, Deutschland erreicht das Finale – es ist ja nun kein unwahrscheinlicher Gedanke –, dann defiliert die Nationalmannschaft nach dem Spiel auch in der Ehrenloge am ukrainischen Präsidenten Janukowitsch vorbei. Millionen Menschen werden das live miterleben. Wie verhält sie sich dann richtig?
von Cramon: Das ist eine sehr, sehr wichtige und interessante Frage, und unabhängig davon, wer am Ende Europameister wird, muss man sich genau überlegen, ob man diesem Präsidenten mit einem Handschlag begegnen möchte und ob man den Pokal entgegennimmt und ihm ... oder diese Gratulation auch so möchte. Ich kann diese Entscheidung niemandem abnehmen, keinem Kapitän, auch Philipp Lahm nicht, aber ich denke, er ist schlau genug, um diese Entscheidung auch richtig zu fällen.
Hatting: 1978 hatte der damalige Weltmeistertrainer der Argentinier César Menotti dem Diktator Videla demonstrativ den Handschlag verweigert. Wünschen Sie sich das auch insgeheim am 1. Juli in Kiew, egal, wer Europameister wird?
von Cramon: Natürlich wünsche ich mir das, und ich könnte mir auch vorstellen, dass die deutsche Nationalmannschaft oder dass der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, wenn es Philipp Lahm sein sollte, sich ähnlich verhält, aber an der Stelle möchte ich lieber keine Tipps geben.
Hatting: Viola von Cramon, Mitglied der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und deren sportpolitische Sprecherin. Ich bedanke mich für Ihren Besuch im Studio!
von Cramon: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Julia Timoschenko zeigt ihre Verletzungen in einem Gefängnis in Charkow© dpa / picture alliance / Ukrpravda

Genau überlegen: Will man diesem Präsidenten mit einem Handschlag begegnen?© AP
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