Gründungsvater russischer Moderne
Von Daniil Charms wusste man lange Zeit fast nichts. Heute gilt er als einer der Gründungsväter der russischen Moderne, als einer der wichtigsten russischen Autoren überhaupt. Nur kurz fand er eine kleine Öffentlichkeit, wurde im Laufe der 30er Jahre immer mehr unterdrückt, bis er 1942 im Gefängnis starb.
Am 24. Januar 1928 trat die soeben gegründete Künstlergruppe Oberiu im Leningrader Haus der Presse auf. Das Programm hieß "Drei linke Stunden". Der 22-jährige Daniil Charms kam auf einem schwarzlackierten Schrank auf die Bühne gefahren. Er war bleich geschminkt, trug einen langen, mit einem roten Dreieck verzierten Mantel und eine goldene Fransenmütze auf dem Kopf. Später sagten die Beteiligten: Er sah aus wie eine fantastische Statue, wie ein Jongleur und Taschenspieler aus ungekannten Zeiten. Er las mit lauter Stimme, ein wenig singend, etwas vor, das er "phonetische Gedichte" nannte. Für die Zuschauer unsichtbar, befanden sich hinter Charms seine Mitstreiter, die den Schrank auf die Bühne geschoben hatten, und als Motto der Aktion konnte Charms’ Ausruf gelten: "Die Kunst ist ein Schrank!"
Dieser Auftritt, am Ende der bewegten 20er Jahre, wurde legendär. Schon zwei Jahre später verboten die Kulturfunktionäre weitere Auftritte der Gruppe Oberiu. Stalin hatte sich endgültig zum unumschränkten Alleinherrscher aufgeschwungen und erfand den sozialistischen Realismus als Herrschaftsinstrument. Für sämtliche verspielten, verstörenden, ungewohnten Kunstformen war kein Platz mehr. Aber Daniil Charms war ihr Prophet. Für viele russische Schriftsteller von heute ist er wie eine Vaterfigur, Wladimir Sorokin dekretierte sogar: "Mit Charms ist alles auszuhalten!"
Dabei durfte der Verfemte erst Ende der 80er Jahre in der Sowjetunion gedruckt werden. Als der Übersetzer Peter Urban Charms mit einem schmalen Band im Jahre 1970 zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich machte, hieß es lapidar: "Über sein Leben ist nichts bekannt." Heute wissen wir, dass Charms 1942 wahrscheinlich in einem Leningrader Gefängnis während der deutschen Blockade verhungert ist. Und dass er in seinen literarischen Texten die Absurditäten in der Sowjetunion so auf den Punkt gebracht hat wie kaum ein anderer.
"Er aber aß und aß und aß und aß und aß. Solange bis er irgendwo im Magen eine tödliche Schwere verspürte. Er schob die tückische Speise beiseite, dann fing er an zu zittern und zu weinen. "
So heißt es in seinem kurzen Prosastück "Schrecklicher Tod". Charms hat in den 30er Jahren eine Form entwickelt, in der er auf engstem Raum Alltagssatire, Nonsens-Dichtung und das existenzielle Spiel über dem Abgrund miteinander verwob. Er nannte diese Texte "Fälle": kleine, poetische, absurde Skizzen. Der Banalität und dem Terror des stalinistischen Regimes antwortete er mit einer eigenwilligen Weiterführung der avantgardistisch-revolutionären 20er Jahre.
Charms wurde nach dem gregorianischen Kalender am 12. Januar 1906 in Petersburg als Daniil Ivanowitsch Juwatschow geboren. Er kleidete und verhielt sich, wie die Zeitgenossen notierten, immer wie ein "Gentleman", und das Pseudonym "Charms", eine russisch intonierte Anverwandlung von "Charme", trug dem Rechnung. Der kurze Frühling der fröhlichen Anarchie, in dem die Kunst ein Schrank war und für vielerlei Kabinettstücke sorgen konnte, ging dann aber ziemlich schnell über in eine lange Zeit der Entbehrungen. Zu seinen Lebzeiten wurden von Charms ausschließlich Texte für Kinder veröffentlicht, mit denen er sich kaum über Wasser halten konnte.
In seinen "Fällen" jedoch, Höhepunkten der Moderne des 20. Jahrhunderts, wurde er immer radikaler. Sie sind ein Reflex auf die Leere und Sinnlosigkeit dieser sowjetischen Epoche, artifizielle Zeugnisse eines Außenseiters für Einsamkeit, Not und Hunger. Anfangs reicherte Charms die Worte mit neuen Lauten und Bedeutungen an, auf der Suche nach der größtmöglichen Komplexität – dann aber zog er die Konsequenz daraus, dass die Worte ihre Bedeutung völlig verloren hatten und das Gesprochene nichts mehr bezeichnete. Es ging nicht mehr um sprachliche Experimente. Es ging einfach um "Fälle".
"Die goldene Uhr in seiner Tasche hörte auf zu ticken. Seine Haare wurden plötzlich licht, der Blick klar. Seine Ohren fielen ab, wie im Herbst das gelbe Laub von der Pappel fällt. Und bald darauf war er tot. "
Dieser Auftritt, am Ende der bewegten 20er Jahre, wurde legendär. Schon zwei Jahre später verboten die Kulturfunktionäre weitere Auftritte der Gruppe Oberiu. Stalin hatte sich endgültig zum unumschränkten Alleinherrscher aufgeschwungen und erfand den sozialistischen Realismus als Herrschaftsinstrument. Für sämtliche verspielten, verstörenden, ungewohnten Kunstformen war kein Platz mehr. Aber Daniil Charms war ihr Prophet. Für viele russische Schriftsteller von heute ist er wie eine Vaterfigur, Wladimir Sorokin dekretierte sogar: "Mit Charms ist alles auszuhalten!"
Dabei durfte der Verfemte erst Ende der 80er Jahre in der Sowjetunion gedruckt werden. Als der Übersetzer Peter Urban Charms mit einem schmalen Band im Jahre 1970 zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich machte, hieß es lapidar: "Über sein Leben ist nichts bekannt." Heute wissen wir, dass Charms 1942 wahrscheinlich in einem Leningrader Gefängnis während der deutschen Blockade verhungert ist. Und dass er in seinen literarischen Texten die Absurditäten in der Sowjetunion so auf den Punkt gebracht hat wie kaum ein anderer.
"Er aber aß und aß und aß und aß und aß. Solange bis er irgendwo im Magen eine tödliche Schwere verspürte. Er schob die tückische Speise beiseite, dann fing er an zu zittern und zu weinen. "
So heißt es in seinem kurzen Prosastück "Schrecklicher Tod". Charms hat in den 30er Jahren eine Form entwickelt, in der er auf engstem Raum Alltagssatire, Nonsens-Dichtung und das existenzielle Spiel über dem Abgrund miteinander verwob. Er nannte diese Texte "Fälle": kleine, poetische, absurde Skizzen. Der Banalität und dem Terror des stalinistischen Regimes antwortete er mit einer eigenwilligen Weiterführung der avantgardistisch-revolutionären 20er Jahre.
Charms wurde nach dem gregorianischen Kalender am 12. Januar 1906 in Petersburg als Daniil Ivanowitsch Juwatschow geboren. Er kleidete und verhielt sich, wie die Zeitgenossen notierten, immer wie ein "Gentleman", und das Pseudonym "Charms", eine russisch intonierte Anverwandlung von "Charme", trug dem Rechnung. Der kurze Frühling der fröhlichen Anarchie, in dem die Kunst ein Schrank war und für vielerlei Kabinettstücke sorgen konnte, ging dann aber ziemlich schnell über in eine lange Zeit der Entbehrungen. Zu seinen Lebzeiten wurden von Charms ausschließlich Texte für Kinder veröffentlicht, mit denen er sich kaum über Wasser halten konnte.
In seinen "Fällen" jedoch, Höhepunkten der Moderne des 20. Jahrhunderts, wurde er immer radikaler. Sie sind ein Reflex auf die Leere und Sinnlosigkeit dieser sowjetischen Epoche, artifizielle Zeugnisse eines Außenseiters für Einsamkeit, Not und Hunger. Anfangs reicherte Charms die Worte mit neuen Lauten und Bedeutungen an, auf der Suche nach der größtmöglichen Komplexität – dann aber zog er die Konsequenz daraus, dass die Worte ihre Bedeutung völlig verloren hatten und das Gesprochene nichts mehr bezeichnete. Es ging nicht mehr um sprachliche Experimente. Es ging einfach um "Fälle".
"Die goldene Uhr in seiner Tasche hörte auf zu ticken. Seine Haare wurden plötzlich licht, der Blick klar. Seine Ohren fielen ab, wie im Herbst das gelbe Laub von der Pappel fällt. Und bald darauf war er tot. "