Gründung einer Stadt in Hessen

Hat Oberzent sich neu erfunden?

Ein Ortschild mit der Aufschrift "Beerfelden - Stadt Oberzent - Odenwaldkreis" steht am Ortseingang.
Vier Gemeinden haben sich vor etwa einem Jahr zur neuen Stadt Oberzent zusammengeschlossen. © dpa picture alliance/ Uwe Anspach
Von Ludger Fittkau · 13.11.2018
Fast ein Jahr ist sie nun alt – die Stadt Oberzent im hessischen Odenwald. Vier kleine und arme Kommunen haben sich zusammengetan. Ein Ortsbesuch zeigt: Da bewegt sich etwas, aber es bleibt noch viel zu tun.
"In Mainz am schönen Rhein, da haben wir alles gemacht,
was schmeckt der Wein so gut, da geht jeder Tropfen ins Blut."
Die südhessischen Landfrauen sitzen in fröhlicher Runde auf einem Planwagen, der von einem Traktor über die Landstraßen von Oberzent gezogen wird. An Wein mangelt es nicht, es ist der 11.11.2018. Fassnachtsbeginn auch im Dorf Nauheim nicht weit von Mainz, aus dem die Landfrauengruppe stammt. An diesem Wochenende gönnt man sich wie schon in den letzten anderthalb Jahrzehnten regelmäßig einen Wellness-Kurzurlaub im nahegelegenen Odenwald.
Am Abend ging es in die Sauna, nun am nächsten Morgen mit dem Planwagen zum großen mittelalterlichen Galgen auf dem Hügel oberhalb von Oberzent-Beerfelden. Die steinerne Richtstätte ist zwar gruselig, aber der Stimmung tut das keinen Abbruch.
Die Nauheimer Landfrauen bei ihrem Ausflug im Odenwald auf dem Pferdewagen.
Die Nauheimer Landfrauen bei ihrem Ausflug im Odenwald auf dem Pferdewagen.© Deutschlandradio/ Ludger Fittkau
Anne Dammel ist die Vorsitzende der Nauheimer Landfrauen und lobt die klar konturierte Oberzenter Hügellandschaft mit dem weiten Blick, die sie an das Biosphärenreservat Rhön erinnert:
"Ich finde einfach die Landschaft geografisch ganz klar. Dann gehen die Uhren irgendwie halt ein bisschen anders. Wir kommen ja aus dem Rhein-Main-Gebiet, aus dem Ballungsgebiet. Und hier hat man ja doch mehr Ruhe, man hat Besinnung und kommt halt eben einfach ein bisschen auf andere Gedanken. Lässt die Seele baumeln, ja."

In den Dörfern fehlen Bäcker, Metzger und Ärzte

Doch die Gruppe diskutiert das Landleben auch kontrovers hier oben auf dem Gebiet der neuen Stadt Oberzent. Die Gemeinden, die sich vor knapp einem Jahr zur flächenmäßig nun drittgrößten Stadt Hessen zusammengeschlossen haben, litten ja in den letzten Jahrzehnten unter starkem Bevölkerungsschwund:
Landfrau 1: "Wenn sie im Odenwald sind, in einer Gemeinde, da ist kein Bäcker, da ist kein Metzger, da ist kein Arzt. Sie müssen immer mit dem Bus oder mit dem Auto irgendwo hinfahren, praktisch so zehn, fünfzehn Kilometer, bis sie beim Arzt sind. Das ist halt auch ein großer Nachteil, wo auch die jungen Leute nicht hier her wollen, weil das halt gar nicht gegeben ist. Aber es ändert sich.
Landfrau 2: " Ja, aber ist doch eine andere Wohnqualität, eine andere Lebensqualität, die halt hier geboten wird. Die Kinder wachsen ganz anders auf, das sind andere Strukturen. Die Nachbarschaftshilfe ist hier noch groß geschrieben. Bei uns - das sind halt so Einzelkämpfer im Endeffekt."
Es könnte in der Tat bald eine Renaissance des Landlebens auch hier in Oberzent - Beerfelden geben, sagt eine Frau der Gruppe, die ungenannt bleiben will: "Wir haben gestern zum Beispiel mit einem jungen Pärchen in der Sauna zusammen gesessen. Gestern Abend, die waren aus Beerfelden. Und da haben die halt auch gesagt: Wenn Du hier für 400.000 Euro ein Haus kaufst, dann hast Du eine Villa. Und bei uns, da kriegst du gerade mal ein Reihenhäuschen." Eine andere Frau ergänzt: "Wenn überhaupt."
Landfrau 3: "Und viele ziehen wieder aufs Land, weil sie es sich finanziell mehr leisten können. Und hier im Odenwald ist halt auch der Vorteil, der Rhein-Main-Neckar-Kreis, dann das Rhein-Main-Gebiet, das ist halt alles nah bei und da müssen die vor Ort sehen, das sie da ein bisschen mehr tun."
Eine Schafsherde auf einer großen grünen Wiese bei Oberzent, im Hintergrund Wald, der Himmel ist blau, die Sonne scheint.
Landschaftlich gesehen hat der Odenwald viele Vorteile. © Deutschlandradio/ Ludger Fittkau
Die Landfrauen aus Nauheim bei Mainz empfehlen der neuen Stadt Oberzent ein knappes Jahr nach der Gründung, sich in Sachen touristischer Infrastruktur ein wenig mehr vom Biosphärenreservat Rhön abzuschauen. Hinter der Rhön müsse sich das Beerfelderer Land eigentlich nicht verstecken, glaubt die Gruppe:
"Die Rhön, die tun ja sehr viel, dass die Gäste kommen. Sie machen auch viel Reklame, das ist halt im Odenwald überhaupt nicht so."
Andere Frau: "Im Odenwald ist ja auch vieles noch privat, von den Gaststätten her."
Dritte Frau: "Und das ist halt auch für die Leute ein großer Aufwand, die Menschen wollen einfach in dem Bereich nicht mehr so tätig sein. Das ist einfach rückläufig. Da kannst du sagen was du willst, weil die Arbeit auch entsprechend intensiv ist."

In Oberzent-Beerfelden macht das erste Bistro seit Jahren auf

Ein paar Kilometer weiter nordöstlich zeigt sich jedoch, dass ein knappes Jahr nach der Stadtgründung von Oberzent im Gastronomiebereich nicht mehr alles rückläufig ist. In einer ehemaligen italienischen Eisdiele in der Ortsmitte von Oberzent-Beerfelden hat vor vierzehn Tagen die erste neue Gaststätte seit Jahren aufgemacht. Sehr zur Freude von Silvio Giovanelli, dem das Haus gehört und der bis zu seiner Pensionierung hier fast ein halbes Jahrhundert lang die Eisdiele geführt hat:
"Drei Jahre lang war das Lokal zu und dann haben wir Arthur gefunden, der sich interessiert hat für ein Bistro. Dann sind wir zu einem Vertrag gekommen."
Arthur ist Franzose und an diesem Mittag nicht in seinem neuen Lokal. Doch Silvio Giovanelli hilft nun wieder ein wenig hinter dem Tresen aus und hat Arthur versprochen, dass er ihm im Frühjahr das Eismachen beibringt. Schließlich will man im kommenden Sommer wieder den Platz draußen vor dem Bistro nutzen, der an zentraler Stelle im Ortskern liegt. Außengastronomie passt hier gut hin.
Silvio Giovanelli musste vor rund zwei Jahrzehnten die Schließung der Industriebetriebe in seinem Beerfelden erleben. Dies brachte den wirtschaftlichen Niedergang für die heutige Kernstadt von Oberzent mit sich - samt Leerstand in vielen Häusern, der bis heute anhält:
"Die gute, die sehr gute Zeit ging bis zum Jahr 2000. Früher war in Beerfelden alles da, zirka 35 bis 39 Gaststätten. Wohlgemerkt ein Café und Speisegaststätten und so. Jetzt sind es mittlerweile zehn Gaststätten, vielleicht."
Nun hofft Silvio Giovanelli auf einen neuen Aufschwung durch den Elan, den die Stadtneugründung in der Bürgerschaft der 10.000-Einwohner-Stadt freigesetzt hat. Er kann sich auch gut vorstellen, dass demnächst der Trend umgekehrt werden kann, dass Beerfelden immer leerer wird, weil die Einwohner die Landstadt verlassen und in die Metropolen ziehen:
"Weil - erst mal sind die Mieten in den Städten fast gar nicht mehr zu bezahlen. In unserer Gegend sind die Wohnungen noch zu bezahlen. Und dann: Die Schönheit von Oberzent, vom Beerfeldener Land. Das ist wichtig. Biketouren, Laufen, Wandern und so Sachen. Ich finde das super! Dass irgendwann mal wieder ein Zurückkommen ist. Weil wirklich in den letzten zehn Jahren sind die Leute verschwunden von hier."

Aufbruchsstimmung auch im Oberzenter Rathaus

Auf der anderen Straßenseite steht das Rathaus von Oberzent. Seit fünf Monaten ist Christian Kehrer der erste gewählte Bürgermeister der neuen Stadt im Odenwald.
Noch hängen die neuen Stromleitungen ohne Lampenfassungen aus der Decke seines Büros, das nach Jahrzehnten zum ersten Mal umfassend saniert wurde. Aufbruchsstimmung auch im Rathaus. Christian Kehrer freut sich besonders über die sogenannte "Oberzent-Expo" - eine neu konzipierte Gewerbeausstellung örtlicher Betriebe.
Ein orange-rotes Werbeplakat mit der Aufschrift "Schlaue Füchse gesucht - Belebt die Oberzent."
Werbeplakat in Oberzehnt: Die neu gegründete Stadt braucht Arbeitsgeber.© Deutschlandradio/ Ludger Fittkau
Frischen Schwung bringe auch die Initiative "Oberzent Revive", so der Bürgermeister. Aus dieser Gruppe kämen pfiffige neue Unternehmensideen:
"Das fängt klein an - Orient küsst Oberzent zum Beispiel! Das ist hier eine engagierte Frau in Falken-Gesäß, die mit Produkten aus dem Orient gemischt mit Produkten aus der Oberzent hier so kleine Appetit-Häppchen macht. Und das ist ganz toll. Und da sieht man, wie groß die Begeisterung ist und das Unternehmertum, das ist schon beeindruckend."
Allerdings, so Christian Kehrer, vor allem die Lage der Stadtfinanzen sei aktuell doch nicht so gut, wie man es sich vor der Fusion ausgerechnet hatte. Mit 900.000 Euro mehr pro Jahr hatte man in Oberzent kalkuliert. Doch insbesondere der trockene Sommer mit guten Lebensbedingungen für den Holzschädling Borkenkäfer lässt die Einnahmen für die Stadt in diesem Jahr um mehrere hunderttausend Euro zurückgehen. Denn Oberzent habe noch viel Kommunalwald, so Bürgermeister Christian Kehrer:
"Der Borkenkäfer hat voll zugeschlagen. Die Holzpreise sind in den Keller gesunken. Und das hat eben Auswirkungen auf die Finanzen unserer Stadtkasse."
Aber ohne Fusion, betont der Bürgermeister, hätte es eben noch mehr Probleme gegeben als jetzt mit Fusion. Den Borkenkäfer interessieren Gemeindegrenzen nicht.
In wenigen Tagen wird Christian Kehrer das ebenfalls neu gewählte Stadtparlament von Oberzent auf eine ganztägige Bustour durch das riesige, waldreiche Gemeindegebiet einladen. Denn viele im Wald versteckte kommunale Aufgaben wie die Wasserversorgung oder löchrige Gemeindestraßen auf abgelegenen Hügeln können die fusionierten Oberzent-Parlamentarier aus den weit verstreuten 19 Ortsteilen kaum kennen, so Kehrer. Doch da sie ja über die Finanzen der neuen Stadt maßgeblich mitentscheiden, ist jetzt noch Stadterkundung angesagt. Wichtig sei für die Lokalpolitiker etwa zu wissen, welche Verpflichtungen aus der Zeit vor der Fusion noch zu erfüllen seien, bevor man kostspielige neue Projekte anstößt, so der Bürgermeister:
"Wir haben aus unseren ehemaligen Kommunen insgesamt Baumaßnahmen in Höhe von sechs Millionen Euro übernommen. Das gilt es jetzt erst mal abzuarbeiten, bevor man jetzt groß an die Zukunft denken kann. Erst mal Vergangenheitsbewältigung, das sind alles angestoßene Projekte, die jetzt umgesetzt werden."

Neuer Verein will Zusammenhalt der Generationen fördern

Vergangenheitsbewältigung der ganz anderen Art - die betreibt unterdessen ein im September gegründeter Verein mit Namen "Generation Oberzent" - kurz GO! Auch der Name der aktuell rund 70 Mitglieder zählenden Neugründung versprüht Aufbruchsstimmung. Doch vor wenigen Tagen hatte der Verein einen Autor in einem Hotel in Oberzent-Rothenberg eingeladen, der über die Geschichte der "Roten Armee Fraktion" berichtete. Dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen sei, habe sicher auch damit etwas zu tun gehabt, dass das Gebiet von Oberzent einst für die "RAF" von besonderem Interesse gewesen sei. Das berichtet Erich Kadesch, der Vorsitzende der "Generation Oberzent", der die Lesung organisiert hatte:
"Christian Klar war mit dem Flugzeug vom Flughafen Michelstadt, es ist kein großer Flughafen, mit einem Sportflugzeug unterwegs und hat sich hier offensichtlich Örtlichkeiten angeguckt, um Waffen zu verstecken."
Der von der RAF im "Deutschen Herbst" 1977 ermordete Frankfurter Bankier Jürgen Ponto ist auf einem schön gelegenen Waldfriedhof auf dem Gebiet der heutigen Stadt Oberzent begraben. Ponto hatte sich in der idyllischen Hügellandschaft oftmals vom Bankeralltag in der Mainmetropole erholt und das heutige Oberzent zur zweiten Heimat erklärt.
"Ja genau, der hat hier seine Grabstätte. Und so ist der Odenwald schon in engem Bezug mit der RAF zu sehen. Und deshalb auch wahrscheinlich diese große Anteilnahme an der Veranstaltung."
Erich Kadesch, von Beruf Kriminalbeamter in Darmstadt, erklärt, dass sein neuer Verein "Generation Oberzent" über Kulturveranstaltungen hinaus vor allem Besuche in Altenpflegeeinrichtungen durchführen will. Der Zusammenhalt der Generationen in der neuen Stadt soll gestärkt werden. Damit habe man schon begonnen:
"Wir gehen in Pflegeeinrichtungen, das soll keine einmalige Sache sein — Kontinuität rein bringen. Dass die Leute auch wissen, da kommen Menschen, die spielen mit uns, die spielen Schach, die spielen Mensch ärgere Dich nicht, die basteln mit uns. Das haben wir ja begonnen. Genauso wird das Projekt Lesungen weitergeführt. Und da haben wir im Kopf, die Lesungen immer an verschiedenen Orten in Oberzent durchzuführen. Weil ich glaube, wir erreichen da einen Bereich von Menschen, die sich grundsätzlich für das Thema interessieren und mit diesen Lesungen führen wir sie durch die Stadt Oberzent und gehen in verschiedene Gaststätten."

Google Maps lässt noch auf sich warten

Das "Bunte Lädchen" ist keine Gaststätte, sondern ein Trödelladen von beachtlichem Umfang. Die fast zwanzig Meter hohe Hofremise, also eine Art Garage für Pferdewagen, liegt mitten in Beerfelden. Das Anwesen ist vollgestopft mit alten Kutschen, Schlitten und Antiquitäten aller Art. Wer die alte Wagenhalle des heute etwas windschiefen Gutshofes betritt, begibt sich auf eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert.
Auch der Filmregisseur Edgar Reitz sei hier fündig geworden, als er Requisiten für die Ausstattung seiner "Heimat" - Filme im nicht allzu weit entfernten Hunsrück suchte. Das erzählt Kurt Schulz, der das "Bunte Lädchen" betreibt:
"Ich habe insgesamt sechszehn Kutschen, historische Kutschen mit Leichenwagen, was man früher alles so hatte."
Kurt Schulz hat nun am Eingang zum überdachten Hof einen mächtigen Weihnachtsbaum aufgestellt. Erste Krippenfiguren werden drapiert. Bald lädt er ein zu einem Weihnachtsmarkt in seiner Trödel- und Theaterkulissenwelt, die seit langem weit über Oberzent hinaus bekannt ist:
"Unser Weihnachtsmarkt ist immer am 1. und am 3. Advent. Immer jeweils am Samstag und Sonntag. Geht samstags um 14.00 Uhr los und das Ende ist immer, wenn der letzte Gast geht."
Eines aber sollte man bedenken, wenn man aus dem Rhein- Main- Gebiet oder aus dem fast noch näher gelegenen Ballungsraum Mannheim/Heidelberg in die neue Stadt fahren will: Manche Navigationssysteme kennen sie noch nicht. Dies musste jetzt ein Paar aus Bad Homburg erfahren, das den Weg nach Oberzent-Beerfelden im Auto in das Navi eintippen wollte:
"Ja, wir hatten anfangs Schwierigkeiten bei der Suche, auch bei Google-Maps zum Beispiel, dort Oberzent zu finden. Da haben wir eingegeben: Michelstadt, um überhaupt irgendwie nach Oberzent zu finden."
Zwar hat auch das rund 15 Kilometer entfernte malerische Michelstadt einen schönen Weihnachtsmarkt. Aber Oberzents Bürgermeister Christian Kehrer ist dennoch von den Internet-Technikriesen genervt:
"Da sind wir auch schon seit Mitte letzten Jahres am Kontakte pflegen, mit Tom-Tom sind wir sehr weit gekommen, mit dem Navigationsgeräte-Hersteller. Allerdings, bei anderen stoßen wir da wirklich auf Granit. Google-Maps ist so ein Punkt, wo wir wirklich große Probleme haben. Das interessiert die eben nicht, dass wir hier mit 10.000 Einwohnern eine Fusion gemacht haben. Das ist leider so. Und wir sind auch bemüht, es gibt ja auch eine Share-Map, wo wir was selber eintragen können. Aber auch die Umsetzung dauert viel zu lange."
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