Gründung des Deutschen Reichs 1871

Protestantischer Jubel und katholische Skepsis

08:23 Minuten
Holzschnitt der Proklamation Wilhelms I. zum ersten deutschen Kaiser.
Preußische Begeisterung: Am 18. Januar 1871 wird Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser des Deutschen Reiches proklamiert. © Imago / imagebroker
Von Christian Berndt · 17.01.2021
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Vor 150 Jahren wurde das Deutsche Reich gegründet. Katholiken und Protestanten blickten sehr unterschiedlich auf dieses Ereignis: Die Katholiken waren im neuen Reich in der Minderheit, für viele Protestanten erfüllte sich ein nationaler Traum.
Nach dem Choral schreitet der preußische König Wilhelm I. durch den Saal, um von Bismarck zum Kaiser ausgerufen zu werden. Die Kaiserproklamation 1871 im Spiegelsaal von Versailles läuft preußisch schlicht ab, mit den vielen Militärs wirkt der improvisierte Festakt wie ein Feldgottesdienst. Der anwesende Bruder des Bayernkönigs Ludwig II., Prinz Otto, schreibt:
"Die laute preußische Begeisterung, die vielen Stiefel, das alles macht mich unendlich traurig."

Katholiken in der Minderheit

Das katholische Bayern schaut skeptisch auf die Reichsgründung unter der Ägide des protestantischen Preußen. Und auch für die Mehrheit der deutschen Katholiken ist die Einheit nicht die Erfüllung ihrer Träume. Sie hingen der Idee einer großdeutschen Lösung mit Österreich an, das quasi die Schutzmacht der deutschen Katholiken war.
Nach dem preußisch-österreichischen Krieg 1866 aber blieben die Österreicher außen vor, im Deutschen Reich von 1871 machen die Katholiken nur noch ein Drittel der Bevölkerung aus. Im Protestantismus dagegen ist die Freude mehrheitlich groß, erklärt Frank Becker, Historiker an der Universität Duisburg-Essen:
"Beim Protestantismus haben wir im Grunde zwei Lager: Das liberale, das vor allem vom gebildeten Bürgertum getragen wurde, diese Liberalen waren sehr reichsgründungsfreundlich eingestellt, die waren Nationalisten, während der konservative Teil – das andere Lager, das eben stärker an die alten Obrigkeiten angelehnt war – der Reichsgründung eher skeptisch gegenüberstand."

Katholische Kirche gegen Säkularisierung

Laut Becker stand die evangelische Kirche seit der Reformation im engen Bündnis mit den Landesherren, was in den protestantischen deutschen Staaten eine privilegierte Stellung, allerdings auch eine Unterordnung unter die Obrigkeit mit sich brachte. Bei der Reichsgründung befürchtete man einen Verlust dieser Privilegien.
Die Probleme der katholischen Kirche hatten dagegen schon mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806 begonnen, als sie ihren Status als faktische Staatskirche verlor.
"Das haben sie als großen Verlust wahrgenommen, aber letztlich war es auch ein Gewinn", sagt Olaf Blaschke, Historiker an der Universität Münster. "Die Kirche konnte sich jetzt wieder konzentrieren auf ihr eigentliches Kerngeschäft, die Religion. Es gab sehr große Verunsicherung durch Revolution, durch Kriege, es stieg der Bedarf nach Sinnstiftung, nach Stabilität."
Gemälde von Napoleon Bonaparte, der mit verschränkten Armen vor Papst Pius VII. steht.
Nach dem Machtverlust: Papst Pius VII. versuchte vergeblich, Napoleon zur Wiederherstellung des Kirchenstaates zu bewegen. Dieser ließ ihn 1809 verhaften und im Schloss Fontainebleau internieren.© Picture Alliance / Heritage-Images / The Print Collector / Jean Paul Laurens
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Frömmigkeit zu, Wallfahrten erreichten Rekordzahlen. Die katholische Kirche orientierte sich nun stärker am Papst und wehrte sich deutlich gegen die Säkularisierungspolitik des preußischen Staates, so Blaschke:
"Wir haben ja in der Forschung die These, dass das 19. Jahrhundert ein zweites konfessionelles Zeitalter gewesen sei, also, Religion wird wieder stärker und fordert den Staat auch heraus."
Der Klerus mobilisierte die Massen, es kam zum Schulterschluss mit den Gläubigen. Im Protestantismus dagegen passierte das Gegenteil.

Protestantismus im Bunde mit der Moderne und dem Staat

"Es ist so, dass sich der Protestantismus stärker auf den Boden der Moderne gestellt hat im 19. Jahrhundert", erklärt Blaschke, "und um sich abzusetzen von der Modernefeindlichkeit der katholischen Kirche, hat man die eigene Religion sehr versachlicht. Kultus, Ritus schien gar nicht mehr nötig zu sein, das religiöse Bekenntnis verweltlichte immer mehr."
Um den Preis, dass sich die Bindung der Gläubigen an ihre Kirche lockerte. Trotzdem sehen die Protestanten mit der Reichsgründung ihre Stunde gekommen, der evangelische Wortführer Adolf Stoecker sieht gar das "Heilige evangelische Reich deutscher Nation" aufziehen. Als Bismarck 1871 den sogenannten Kulturkampf gegen die katholische Kirche beginnt, um eine stärkere Trennung von Kirche und Staat durchzusetzen, hat er die protestantische Mehrheit auf seiner Seite.
Zu den neuen Gesetzen gehören die vollständige Übertragung der Schulaufsicht auf den Staat und das Verbot politischer Predigten. Bismarcks Säkularisierungsgesetze passen in die Zeit.

Zentrumspartei als Gegenspieler Bismarcks

"Im Zuge der Säkularisierung, auf der anderen Seite der zunehmenden Erstarkung des Katholizismus, mussten diese Konflikte in allen europäischen Ländern gelöst werden", sagt Olaf Blaschke.
Zwar ist auch die evangelische Kirche von den neuen Gesetzen betroffen, aber nur die Katholiken reagieren mit Gegenwehr. 1870 hatte sich die Zentrumspartei als Interessenvertretung der deutschen Katholiken gegründet und war bei den ersten Reichstagswahlen auf Anhieb zweitstärkste Fraktion geworden. Sie entwickelt sich nun zum mächtigsten Gegenspieler Bismarcks. Der wiederum bezeichnet die Katholiken als Reichsfeinde und lässt den Konflikt eskalieren:
"Es sind ja sogar einige katholische Bischöfe verhaftet worden, da gab es dann Volksaufläufe, richtige Tumulte, das öffentliche Leben war ja teilweise regelrecht überschattet von diesen Auseinandersetzungen. Aber das alles diente eben Bismarcks politischen Zwecken, und er hat es in Kauf genommen.
Karikatur einer Person, die mit einem Schwert auf einem Cello mit der Aufschrift "Antrag Toleranz" spielt.
Katholiken im Kulturkampf: Die Zentrumspartei versuchte per "Toleranzantrag" fünfmal, die Religionsausübung von staatlicher Kontrolle zu befreien.© Picture Alliance / akg-images / Ludwig Stutz
Aber letztendlich wird man wohl sagen können, Bismarck hat den Kulturkampf verloren. Er wollte die Zentrumspartei und den Klerikalismus brechen, hat aber im Endeffekt nur das Gegenteil bewirkt, er hat die Zentrumspartei gestärkt. 80 Prozent der wahlberechtigten Katholiken wählten zum Teil die Zentrumspartei, das ist enorm viel, und er hat den Klerikalismus gestärkt, und er hat auch die katholische Kirche und das katholische Milieu gestärkt."

Kulturkampf vergiftet das gesellschaftliche Klima

Das gesellschaftliche Klima wurde durch den Kulturkampf allerdings nachhaltig vergiftet:
"Der Kulturkampf lässt Feindbilder entstehen und Explosionsmechanismen. Man warf sich alles Mögliche vor, man sei Reichsfeind, das ist ja eine Ausgrenzung. Und das Gleiche betraf dann ja auch die Juden, weil man sagte: Lasst uns Katholiken und Protestanten doch einfach zusammenstehen, gemeinsam als Deutsche, gegen die eigentlichen Feinde, das sind die Juden."
Zwar entspannt sich nach Beendigung des Kulturkampfes das Verhältnis zwischen Katholizismus und Staat. Eine neue Generation von Katholiken strebt nach stärkerer Integration in die Gesellschaft, aber das Trauma bleibt – mit Folgen bis 1933:
"Als Hitler Reichskanzler wurde, gab es Stimmen in der katholischen Kirche, die vor einem neuen Kulturkampf warnten und sagten: Wenn wir jetzt protestieren gegen Hitler, dann gelten wir wieder als die vaterlandslosen Gesellen und werden erneut ausgegrenzt. Es hätte vielleicht mehr Widerspruch gegen Hitler gegeben seitens der Zentrumspartei oder auch der katholischen Kirche, wenn es diese Kulturkampferfahrung nicht gegeben hätte."
Nationalsozialistisches Propagandaplakat mit einem Bild von Martin Luther, einem Hakenkreuz und der Aufschrift: "Hitlers Kampf und Luthers Lehr, des deutschen Volkes gute Wehr."
Unheilige Allianz: Ein Plakat der Nationalsozialisten zeigt das Konterfei von Martin Luther. Viele Protestanten erhofften sich von Hitler ein neues Bündnis der evangelischen Kirche mit dem Staat.© Imago / United Archives International
Dagegen identifiziert sich die evangelische Kirche ab 1871 mit dem Kaiserreich, dessen Führungsebenen in Militär und Bürokratie protestantisch sind. Die Staatsnähe entfremdet aber auch viele Gläubige von der Kirche, und anders als die Katholiken haben die Protestanten keine politische Heimat in einer Partei. Ein Teil neigt der SPD zu, die Mehrheit aber den Konservativen, und viele Protestanten teilen rassistisch-nationalistische und antisemitische Ideologien:
"Paradoxerweise gerade dadurch, dass der Protestantismus so fortschrittsgläubig war und so wissenschaftsgläubig war, denn diese rassistischen Konzepte kamen ja im Gewande moderner Wissenschaft daher."

Auswirkungen nach dem Ende der Monarchie

Das Ende der Monarchie 1918 ist für den Protestantismus eine Katastrophe – denn das alte Bündnis von Thron und Altar ist dahin. Viele Protestanten begrüßen daher das Ende der Demokratie 1933:
"Zunächst einmal haben wir eine große Begeisterung, als Hitler Reichskanzler wird. Das hängt damit zusammen, dass die Weimarer Republik von den evangelischen Kirchen so negativ beurteilt wurde, die Weimarer Verfassung hatte ja auch die Stellung der Kirchen geschwächt."
Sodass sich die evangelische Kirche von Hitler ein neues Bündnis von Protestantismus und Staat verspricht. Für den aufkommenden Nationalsozialismus sind die Katholiken während der Weimarer Republik insgesamt weniger empfänglich als die Protestanten, aber der Demokratie stehen sie ebenfalls distanziert gegenüber.
Beide Konfessionen haben im 19. Jahrhundert erstaunliche Modernisierungsschübe erlebt – der Katholizismus hat die Mobilisierung der Massen zu nutzen gelernt, der Protestantismus sich mit Rationalität und Säkularisierung auseinandergesetzt. Aber in Richtung Demokratie hat das die Kirchen noch lange nicht geführt.
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