Grotesker Arztroman

Gunter und Adele werden beide am 6. September 1944 geboren. Nach dem Krieg heiraten sie und während Adele sich in Tagträume flüchtet, will Gunter Chirurg und Nobelpreisträger werden. Dafür benutzt er sogar seine Frau als Versuchskaninchen. MIt „Lärchenau“ schildert Kerstin Hensel eine bizarre Provinzgroteske.
Reizvoll eingebettet in Flora und Fauna liegt der märkische Ort Lärchenau. Dort wird am 6. September 1944 Gunter Rochus Konarske geboren. Einige hundert Kilometer von Lärchenau entfernt liegt ebenso idyllisch das Dorf Katzgrün. Dort erblickt ebenfalls am 6. September Adele das Licht der Welt.

Recht traditionell setzt Kerstin Hensel ihre Erzählmaschine in Gang, die sehr bald an Tempo gewinnt und ein ganzes Bündel an merkwürdigen Geschichten hervorbringt. Doch trotz verzweigter Handlungsstränge stehen Gunter und Adele im Zentrum des Erzählgeschehens. Während Gunter der Sohn des siebzigjährigen Doktor Rochus Lingott und seiner zwanzigjährigen Arzthelferin Rosie Konarske ist, behauptet Adeles Mutter Liese Möbius, dass ihr Kind vom „Fiehror“ (Führer) sei. Beide Kinder wachsen ohne ihre Väter auf. Doktor Lingott wird noch vor Gunters Geburt von der Gestapo abgeholt und die Suche nach dem „Fiehror“ hat sich bald erledigt.

Kerstin Hensel führt Adele und Gunter nach Kriegsende zusammen und lässt sie heiraten. Während sich die nur mäßig begabte Adele in weibliche Traumwelten flüchtet, strebt der hochintelligente Gunter eine steile Karriere an. Er träumt davon, ein berühmter Chefarzt und außerdem Nobelpreisträger zu werden. Aber ihn treibt kein holdes Berufsethos, sondern sein Interesse gilt vor allem den kalten Instrumenten und den mit Organen gefüllten Reagenzien.

Bereits für den Jungen war die Dorffleischerei mit den funkelnden Messern und dem frischen Blutgeruch ein Ort körperlicher Erregung. Für den Mediziner werden die Chirurgie und die Pathologie zu Wallfahrtsorten, an denen er seine abnormen Phantasien auslebt. Auch seine Frau Adele verschont er nicht. Sie wird zum Versuchsobjekt für seine medizinisch abwegigen Methoden. Er präpariert ihre Konfektschachteln mit stimulierenden Medikamenten und würde ihr Rektum gern in anatomisch freierer Weise nutzen.

Gunter ist ein pervers veranlagter Mediziner, der den hippokratischen Eid missachtet. Er erinnert an Ingeborg Bachmanns Dr. Körner aus dem Buch „Der Fall Franza“, der als Arzt zum Verbrecher wird. Der Zufall der späten Geburt bewahrt Konarske vor dieser Schuld, doch er richtet auch in Friedenszeiten noch genug Schaden an.

In Kerstin Hensels Geschichten geht es selten mit rechten Dingen zu. In „Lärchenau“ bilden Mythen und Sagen wichtige Ebenen, zwischen denen die Autorin mit dialektaler Rede vermittelt. Hensel gefällt sich aber nicht im Fabulieren. Vielmehr versteht sie es, die Absurdität scheinbar alltäglicher Ereignisse bewusst zu machen. Ein grotesker Roman ist „Lärchenau“ nicht wegen seiner Erzählweise, denn Hensel begründet das Groteske in den Handlungsverläufen, die allzu bekannt erscheinen.

Rezensiert von Michael Opitz

Kerstin Hensel: Lärchenau
Roman. Luchterhand 2008
446 Seiten, EUR 19,95