Groteske Szenen aus der Sowjetunion

Bei der Ausreise aus der Sowjetunion sind dem Emigranten nur drei Koffer erlaubt. Der Erzähler nimmt nur einen und erzählt anhand der Gegenstände darin allerlei Anekdoten und Seltsamkeiten aus dem Alltag der Sowjetunion. Sergej Dowlatow nimmt in lapidaren Tonfall und mit faulen Helden das bankrotte System aufs Korn.
Drei Koffer sind dem Emigranten bei der Ausreise aus der Sowjetunion erlaubt. Zu wenig, glaubt der 36-jährige zunächst. Doch dann passt sein ganzer Besitz nicht nur mühelos in einen Koffer, dieser wird im Ausland auch noch achtlos weggestellt und erst nach Jahren wieder geöffnet.

Ein Zweireiher taucht auf, der sich "auch für eine Nobelpreis-Zeremonie" eignet. Ein Popeline-Hemd, ein Paar Schuhe, eine Kordjacke, eine Wintermütze. Drei Paar finnische Acrylsocken, Autohandschuhe, ein Offiziersgürtel. Außerdem eine "Prawda"-Seite vom Mai 1980 mit der Schlagzeile: "Es lebe die große Lehre!" Nicht zu vergessen die Naphtalinkugeln.

Diesen Habseligkeiten ist in Sergej Dowlatows Band "Der Koffer" je ein Kapitel gewidmet, in dem geschildert wird, wie jedes Stück in den Besitz des Erzählers geriet. Die drei finnischen Acrylsocken? Reste des sich glänzend anlassenden Versuches, ein schwerreicher Schwarzhändler zu werden, wären da nicht die sowjetischen Kombinate gewesen, die die Mangelware plötzlich und im falschen Augenblick millionenfach herstellten.

Die Nomenklatur-Schuhe? Einem Bürgermeister bei der Einweihung eines Metro-Bahnhofes geklaut. Der Zweireiher? Ein Geschenk des Geheimdienstes, damit der schlecht gekleidete Redakteur ohne Aufsehen einen als Spion verdächtigten Ausländer ins Theater begleiten kann.

Schmuggel, Diebstahl, Spitzeldienste, dazu Mitbringsel aus dem westlichen Ausland, die Emigration der Ehefrau, Antisemitismus, Alkoholismus und künstlerische Scherze - "Der Koffer" enthält groteske Szenen aus der Sowjetunion in den 70er und 80er Jahren.

Viele davon hat der 1941 geborene Sergej Dowlatow wohl selbst erlebt. Nach dem Journalistikstudium schrieb er von 1972 bis 1975 für Zeitungen in Estland. Die klaffenden Abgründe zwischen Artikeln und sozialistischer Realität schildert der Roman "Der Kompromiss". Später arbeitete Dowlatow als Fremdenführer auf Puschkins Landgut.

Als der KGB 1978 ein bereits gesetztes, aber noch nicht gedrucktes Buch von ihm beschlagnahmte, reiste er in die USA aus. In russischen Emigrantenverlagen erreichten seine Bücher hohe Auflagen, auch der "New Yorker" druckte zehn Erzählungen. Dowlatow starb 1990 und erlebte nicht mehr den großen Erfolg seiner Bücher in Russland.

Der Intellektuelle rebellierte gegen den Staat in einer für die Sowjetunion ungewöhnlichen, nämlich pathosfreien Weise: Sein Tonfall ist lapidar, der Stoff alltäglich, der Held faul. Wann immer Dowlatow den Kalauer vermeidet und Umwege nimmt, nähern sich seine Erzählungen Sittenbildern.

Das Kapitel über die Wintermütze beginnt etwa mit dem Selbstmord einer Redaktionsschreibkraft, die antisemitisch beschimpft und sexuell bedrängt wurde, bevor der Erzähler dann, kaum motiviert, zwei alkolholträchtige Tage mit seinem Bruder schildert.

Dieser Bruder nimmt ihre beider einzige warme Mütze immer dann vom Kopf des Erzählers, wenn es nach draußen ins Kalte geht, um sie beim Übergang ins Warme wieder zurückzugeben. Am Ende prügelt sich der Bruder mit einem Antisemiten, nimmt diesem die Mütze ab - freilich nicht, ohne die eigene zu verlieren - und schenkt sie dem Erzähler. Finis.

Sergej Dowlatow ist ein sehr unterhaltender Geschichtenerzähler aus der kleinen Schar sowjetischer Tagediebe. Leider fügt sich der Reigen von Geschichten über die Dinge im Koffer nicht zur Biografie eines Außenseiters.

Rezensiert von Jörg Plath

Sergej Dowlatow: Der Koffer
Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer
DuMont Buchverlag, Köln 2008
160 Seiten. 17,90 Euro