Großpanorama zwischen Ernst, Hohn und Slapstick

16.07.2009
Kritiker bescheinigen dem Berliner Schriftsteller Norbert Zähringer "haarsträubende Komik". Zwischen Ernst, Hohn und Slapstick bewegt sich auch sein dritter Roman "Einer von vielen". Darin erzählt er den Lebensweg des 1923 geborenen Edison Frimm, verquickt mit weiteren Geschichten, die durch Zufall miteinander verbunden sind.
Am 1. September 1923 zerstörte ein schweres Erbeben die japanischen Städte Tokio und Yokohama zu 60 Prozent. Der 1. September 1923 ist das Datum, von dem alle Fäden in Norbert Zähringers drittem Roman "Einer von vielen" ausgehen. Das schwere Beben hatte Auswirkungen bis nach Kalifornien. Dort liegt am Morgen desselben Tages Mary Frimm mit starken Wehen auf dem Küchentisch der Firma Julius Raabe, Berlin. Um sie vor herabfallenden Decken- und Wandteilen zu schützen, zieht die Hebamme die Gebärende unter den Tisch, und Edison Frimm erblickt das Licht der Welt. Norbert Zähringer erzählt das Leben Frimms bis zu dessen Freitod 80 Jahre später. Es ist ein Erdbeben, das dem alten, kranken Eddi den entscheidenden Stoß beim Sprung von der Brücke versetzt.

Der Geschichtenerzähler Zähringer, der die Chaostheorie und das Wissen von der Gleichzeitigkeit ungleicher Ereignisse als Basis seines weitverzweigten Romans benutzt, erzählt viele Geschichten innerhalb der einen Lebensgeschichte und beweist durch seine Romanfiguren, dass die Macht des Zufalls nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern auf Verbindungslinien basiert. Deshalb spielt in der Lebensgeschichte Eddie Frimms die Berliner Tischfabrikantenfamilie Raabe genauso eine Rolle wie der abgewrackte Stummfilmheld LaMonte, der durch den "Dieb von Damaskus", einen Fantasy-Film der 1920er-Jahre, bekannt wurde. Denn der versoffene LaMonte erhält den Auftrag, mit einer Film-Spezialeinheit nach Deutschland zu fliegen und in Wochenschauen über den Zweiten Weltkrieg mitzuwirken. Der blonde und blauäugige Eddie Frimm könnte als typischer Deutscher gelten, bekommt deshalb beim Set eine Statistenrolle und erlebt, abgeschossen und mit dem Fallschirm gerettet, die letzten Tage des Krieges in Berlin.

Zwischen Ernst, Hohn und Slapstick wird drastisch von dem grauenerregenden Krieg und vom Angriff der Alliierten auf Berlin erzählt. Zähringer behandelt sein historisches Material und sein Personal mit dem Blick auf das Irreale, das Krieg und Tod für die Nachgeborenen haben. Er verknüpft die vielen anderen Lebensläufe wie den des Kommissars Mauser oder des ebenfalls am 1.9.1923 geborenen Deutschen Siegfried Heinze miteinander, beschreibt einzelne Stationen der irgendwie, und sei es nur durch ein Firmenschild unter einem Küchentisch miteinander verquickten Biographien und tut das mit dem Seitenblick aufs Kino. Geschichte, Dokumentation und Fiktion vermischen sich. Historisches Material ist für die Nachgeborenen immer durch Erzählungen vielfach gebrochener "Stoff". Einen Einblick in die Rekonstruktion der Realität bietet dieses Großpanorama. Norbert Zähringer erzählt farbig, packend mit vielen Schnitten. Das Lesen des Romans "Einer von vielen" verlangt vom Leser einige Anstrengung und vor allem größte Aufmerksamkeit. 80 Jahre Geschichte zwischen Japan, Amerika und Deutschland.

Besprochen von Verena Auffermann

Norbert Zähringer: Einer von vielen
Roman
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009
486 Seiten, 22,90 Euro