Großes Geld oder Heile Welt?
Bis auf knapp 1.300 Meter hinauf schafft Peter Petras es ganz leicht – mit dem Auto. Der Sherpa parkt seinen Jeep auf dem Hrebienok, einem Aussichtspunkt mit spektakulärem Bergpanorama. Hier geht es nur noch zu Fuß weiter. Alles, was Petras für die Gäste auf seiner Berghütte braucht, muss er selbst hinauf tragen.
Heute zurrt Petras auf seinem hölzernen Tragegestell drei Kästen Bier fest, einen Rucksack mit Schnapsflaschen und allerlei Kleinigkeiten – und zuletzt noch einen Regenschirm. Etwa 75 Kilo, schätzt er. Sein persönlicher Rekord sind 132. Ein Kollege hat sogar 207 geschafft.
Auf seinen Wanderungen genießt der Sherpa die spektakulären Ausblicke: Auf die Gerlsdorfer Spitze, den mit 2.655 Metern höchsten Gipfel der Slowakei - und den Berg Krivan, eine Art Nationalheiligtum. Wie in allen Hochgebirgen der Welt, sind auch hier professionelle Lasten-Träger unterwegs. Die Hüttenwirte geben bei ihnen ihre Bestellung auf und werden von den Sherpas mit Lebensmitteln, Getränken oder Baumaterial beliefert. 25 Cent pro Kilogramm bekommen sie dafür. Doch der eigentliche Lohn ist ein anderer:
"Wenn ich morgens aufstehe und aus dem Fenster sehe, habe ich das Gefühl, hier her zu gehören. Die Berggipfel fordern mich geradezu heraus, sie zu bezwingen. Selbst wenn man tausendmal dort war, entdeckt man immer etwas Neues."
Petras ist kein Muskelmann, sondern ein drahtiger Asket. Er hat einen Doktortitel in Philosophie und hat bis vor wenigen Jahren als Lehrer gearbeitet.
"Manche Leute meinen, der ideale Sherpa müsse stark und dumm sein – stark, um viel tragen zu können, und dumm, damit er wenig Geld dafür haben will. Aber das Gegenteil stimmt: Zwei Drittel der Sherpas hier haben eine Hochschulausbildung - es sind Lehrer, Ärzte oder Rechtsanwälte."
Heute ist Petras auf dem Weg zu seiner eigenen Hütte: Die "Rainerova Chata" ist die älteste Gebirgshütte in der Tatra: 1.863 wurde das winzige Häuschen erbaut. Seit zehn Jahren bewirtet der einstige Pädagoge hier Wanderer und Skifahrer aus aller Welt.
Zwei lange Tische mit Holzbänken bieten den Gästen in der dunklen Stube Platz zum Sitzen. Im Kachelofen knistert ein Feuer, auf den eisernen Ofenplatten kocht Petras Tee und Kaffee. Die Spezialität des Hauses – ein süßer Tee aus Tatrakräutern.
"Das ist unser Tee, aus Kräutern, die wir selbst pflücken: Minze, Holunder, Majoran, Ackerklette, schwarze Johannesbeeren - und ein bisschen gekaufter Schwarztee. Deshalb kommen so viele Menschen hier her - und alle loben unsere Tee."
Eine Reise in die Hohe Tatra ist für die Slowaken selbst mehr als ein gewöhnlicher Urlaub. Vor 17 Jahren, mit der Trennung von Tschechien, wurde das kleine Land erstmals ein eigenständiger Staat. Türken, Ungarn, Österreicher, Deutsche haben hier über Jahrhunderte regiert. Trotzdem ist es dem Fünf-Millionen-Volk gelungen, die eigene Sprache und Kultur zu bewahren. Und die Gipfel der Tatra, die auch in der Nationalhymne besungen werden, sind ein wichtiger Teil der slowakischen Identität, sagt ein Tourist, der bei Peter Petras eine Tasse Tee schlürft.
"Die Berge waren für die Slowaken immer ein Zufluchtsort - als die Tataren kamen, die Türken, Napoleon und so weiter. Sogar die Mongolen sind an der Nordseite der Tatra entlang gezogen. Und die Menschen haben sich immer in die Berge gerettet."
Die Rainerova Chata ist mit dieser Geschichte eng verbunden: historische Fotos zieren die Wände, ein buntes Sammelsurium aus nostalgischen Küchenutensilien, alten Ski- und Wanderausrüstungen und Schnitzereien dient als Dekoration, von der Decke baumelt Peter Petras’ Kuhglocken-Sammlung:
Doch die größte Attraktion ist Peter Petras selbst: Viele Gäste bitten den Sherpa um ein gemeinsames Foto oder sogar um Autogramme. Die Touristen seien ihm willkommen, sagt der Chata-Wirt, anders als die vielen Investoren aus der Hauptstadt Bratislava, die die Schönheit der Hohen Tatra mit immer neuen Bauprojekten zerstörten…
"Das ist schwachsinnig – die Kapazitäten können nicht immer weiter ausgebaut werden. Das ist ganz verheerend. Das Problem ist, dass nicht Einheimische hier bauen, sondern die Unternehmer aus Bratislava. Die bekommen große Augen und glauben, hier könne man reich werden. Aber das geht auf Kosten der Qualität und der ursprünglichen Natur."
Zum Beispiel im Touristenort Lomnica. Das Dorf gleicht in der Hauptsaison einem überdimensionierten Parkplatz. Jeder freie Fleck rund um die Talstation der Seilbahn ist zugeparkt. Bald sollen hier noch mehr Autos stehen – und mit einer neuen Seilbahn sollen noch mehr Menschen noch schneller hinauf katapultiert werden zum kristallklaren Bergsee Skalnate Pleso auf 1.750 Meter Höhe. Das ganze Areal ist eine Großbaustelle – zur Begeisterung von Michal Krolak.
"Hier entstehen eine neue Seilbahn für 2600 Menschen pro Stunde, ein neuer Gratis-Parkplatz für 400 Autos und ein neues Beschneiungssystem für die Skipisten."
Ideen hat der junge Manager in Hülle und Fülle: Michal Krolak träumt von stilvoll renovierten Hotels, hochmodernen, windsicheren Sesselliften und blitzblanken Selbstbedienungsrestaurants auf den Gipfeln. Krolak arbeitet für die slowakische Finanzgruppe J&T mit Sitz in Bratislava. Bei der Tochtergesellschaft Tatry Mountain Resorts ist der junge Mann in Jeans und legerem Sacko für die Abteilung Dienstleistungen zuständig. Genau da, meint er, gebe es noch viel zu tun, wenn die Tatra mit Urlaubsgebieten wie den Alpen konkurrieren wolle:
"Das Angebot an Dienstleistungen kann doch nicht auf dem Niveau von vor 40 Jahren stehen bleiben. Wenn die Menschen herkommen, haben sie gewisse Erwartungen: Wie Sie sehen, haben viele Touristen hier nicht einmal einen Rucksack dabei. Die Leute erwarten, dass sie sich irgendwo hinsetzen und etwas trinken können, dass sie auf die Toilette gehen können und etwas zu Essen bekommen."
Zum Beispiel in dem neuen, etwas steril wirkenden Cafe am Skalnate Pleso, mit Blick auf das schroffe Massiv der Lomnitzer Spitze. Hier, sagt der junge Manger stolz, müssten die Touristen nicht von Papptellern und mit Plastikbesteck essen. Und die Kuchen seien alle frisch gemacht. Ein Kompromiss aus Masse und Klasse.
Mehr Touristen, so die einfache Gleichung, bedeuten mehr Arbeitsplätze und Wohlstand in der ansonsten eher armen Provinz. Die großartigen Landschaften sind das einzige Kapital im Norden und Osten der Slowakei. Auch Manager Krolak schwärmt von dieser Wildnis mitten in Europa – Lebensraum für Bären, Wölfe, Füchse, Luchse und Steinadler. Das gelte es zu schützen, aber auch zu nutzen:
"Wir können hier keine kleinen Schritte machen, sondern nur große Sprünge. Wir müssen in kurzer Zeit das Niveau unserer Angebote um einige Stufen erhöhen. Nur so können wir gewährleisten, dass unsere Investitionen sich auch lohnen."
Den Vorwurf von Umweltschützern, die Investoren von J&T zerstörten die Landschaft mit immer neuen Parkplätzen und Apartmentblocks weist Michal Krolak von sich. Die Umweltschützer in der Slowakei seien nun mal besonders radikal.
Über diese Behauptung kann Tomas Vancura nur lachen. Für ihn sind die goldenen Pläne der Investoren, die rund um die Talstation in Lomnica Gestalt annehmen, ein Alptraum:
"Es ist unbegreiflich: Wir stehen hier auf staatlichen Grundstücken. Ich habe so etwas noch nirgendwo auf der Welt gesehen. Wenn die Flächen dem Staat gehören, ist das eigentlich der Idealzustand – da könnte die Regierung ihre Naturschutzfunktion ohne Einschränkung wahrnehmen. Stattdessen ermöglicht man es einer Privatfirma hier, etwas Derartiges anzustellen. - Völliger Wahnsinn."
Tomas Vancura war bis vor drei Jahren (2007) Chef des Nationalparks Hohe Tatra – dann musste er den Hut nehmen. In seinem Fall: die dunkelgrüne Schirmmütze, an der die Nationalparkwächter zu erkennen sind.
"Von mir ist bekannt, dass ich meine Ansichten nicht ändere. Und mein Konzept war, die Natur im Nationalpark zu schützen - als das letzte Gebiet, wo sie für sich selbst sorgt und die Menschen sie nur besuchen und betrachten, wie eine Kathedrale. Für mich kam es nicht in Frage, dass wir aus dem Nationalpark ein weiteres gewöhnliches Skigebiet werden lassen."
Zu unbequem – befand man in Bratislava. Vancura lächelt zynisch. Seine Stelle sei neu ausgeschrieben worden, und der "Beste" habe sie bekommen. Der sportliche 48-jährige ist seiner Mission trotzdem treu geblieben. Er kämpft als Privatmann weiter – keine einfache Aufgabe in einem Land, in dem Öko-Projekte oft noch als Luxus betrachtet werden:
"Es gibt hier keine Regierung und keine Partei, die dem Umweltschutz zugeneigt wäre – in dieser Hinsicht ist egal, wer in Bratislava am Ruder ist. Aber das, was in den vergangenen vier Jahren geschehen ist, hat die schlimmsten Erwartungen übertroffen. Da wurden ganz bewusst Gesetze zugunsten von Investoren geändert - aus meiner Sicht absoluter Schwachsinn."
Alle paar Tage ist Tomas Vancura mit dem Auto in der Tatra unterwegs – er besichtigt die neuen Bauprojekte, spricht mit den Einwohnern in den Dörfern und beobachtet alle Veränderungen. Eine mühsame Lobbyarbeit auf kleinster Ebene. Die Menschen kennen ihn –inzwischen glauben sie ihm auch, sagt er:
"Als ich noch den Nationalpark geleitet habe, haben uns viele vorgeworfen, dass wir die Natur zu sehr schützen, dass wir die Bedürfnisse der Menschen nicht sehen und die Entwicklung der Tatra blockieren. Heute kommen viele zu mir und sagen: Jetzt wissen wir genau, was du gemeint hast."
Die Hohe Tatra hat in den vergangenen Jahren zwei Katastrophen erlebt, sagt der studierte Forstwirt: Die erste war der verheerende Orkan im November 2004, bei dem fast die Hälfte der Waldflächen förmlich abrasiert wurde. Doch die viel größere Katastrophe, sagt Vancura, kam danach: der Sturm der Investoren. Die ohnehin zerstörten Landschaften, so deren Argument, könne man nun doch sinnvoll nutzen.
Tomas Vancura will es bei dieser pessimistischen Note aber nicht belassen. Er fährt seine Gäste noch ein Stückchen weiter. In den Teil der Tatra, wo er aufgewachsen ist. Er parkt den Wagen auf einer Anhöhe und steigt aus. Die Gegend um Podbanske, sagt er, sei das Herz des Nationalparks.
"Dieses Gebiet ist interessant, weil hier alles erhalten geblieben ist. Die Täler sind langgestreckt, 15 Kilometer – so weit wandern die wenigstens Touristen. Hier sind also wenige Touristen, deshalb ist das Gebiet noch ein echter Schutzraum für die Wildtiere. Das ist das Herz des Nationalparks."
Hier hat die heile Welt den Traum vom großen Geld unbeschadet überstanden. Und er werde alles daran setzen, so Vancura, dass das auch so bleibt.
"Dieser Anblick hier ist für mich das Schönste - seit meiner Kindheit. Wir sehen die Täler Koprova und Ticha vor uns, den majestätischen Krivan im Nebel. Hier habe ich die schönsten Momente meiner Kindheit verbracht…als Kind sieht man alles aus der schönsten Perspektive. Vielleicht denken die Kinder auch heute, es sei alles in Ordnung hier. Man sollte ihnen diese Illusion nicht nehmen."
Dafür sorgt Pavel Ballo auf seine Weise. Noch bevor es hell wird, macht sich der Zoologe auf den Weg. Der felsige Pfad führt steil bergauf. Trotzdem hat Pavel Ballo es eilig: Je früher man oben ankommt, desto besser.
"Der Aufstieg zu den Murmeltierkolonien dauert vier bis viereinhalb Stunden. Dann bleibe ich fünf bis acht Stunden hier oben. Und dann geht’s wieder runter. Mein Arbeitstag beginnt um vier Uhr morgens und dauert etwa bis neun Uhr abends."
Marmota marmota latirostris: das Tatra-Murmeltier ist Pavel Ballos Passion. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den "gesprächigen Schläfern", wie er sie liebevoll nennt.
"Und vor einem Jahr hat mich der Direktor des Nationalparks Hohe Tatra angerufen und mir gesagt, dass er einen Verrückten für die Murmeltiere braucht. Jemanden, der sich nur darum kümmert."
Seitdem steigt Pavel Ballo alle zwei, drei Tage in der Dunkelheit hinauf zu den Murmeltieren der westlichen Tatra. In circa 1800 Metern Höhe (+-200) bauen sie ihre Höhlen und Gänge.
"Die Landschaft hier sieht aus wie ein Schweizer Käse, alles ist voller Murmeltierlöcher. 1500 Erdlöcher auf einem so kleinen Gebiet, das ist einmalig."
Die Murmeltiere waren in einigen Gebieten der Tatra ausgestorben und werden deshalb genau überwacht – nicht nur mit Kameras und Ferngläsern, sondern auch per Satellit. Zoologe Ballo trägt bei seinen Bergtouren deshalb bis zu 20 Kilo an technischer Ausrüstung hinauf – Batterien und Ersatzteile für das GPS-System, mit dem er genau kartieren kann, wo wie viele Murmeltiere leben. Sviste heißen sie auf Slowakisch. Und Pavel Ballo scheint von den rund 600 Tieren jedes zu kennen…
"Dieses Murmeltier, das uns gerade ansieht, ist etwa drei Jahre alt. Das heißt, es wird gerade Erwachsen. Ein Murmeltier wird 18 Jahre alt, das hier ist also ein jüngeres. Es pfeift nicht, es passt nur auf und wartet, bis wir weggehen."
"Und dort sitzt eine Mutter vor ihrem Bau, da sieht man eine große ausgescharrte Erdfläche. Ich nenne das immer den Kinderspielplatz. Die Mutter war sicher hier weiden, damit sie genug Milch für die Jungtiere hat. Und jetzt wartet sie, bis das Wetter besser wird, damit sie weiter fressen kann."
Marmota marmota ist ein Relikt der Eiszeit. Die Pelztiere leben oberhalb der Baumgrenze – zwischen Geröllfeldern und Flächen mit Gras und niederen Sträuchern. Immer wieder zeigt der Murmeltier-Experte auf schmale Schneisen im Gestrüpp, die von einem Erdloch zum nächsten führen:
"Und sehen Sie diesen kleinen Weg im Gras? Das ist die Murmeltierautobahn."
Früh morgens herrscht auf den "Murmeltierautobahnen" reger Verkehr: Am liebsten sonnen sich die Tiere erst einmal ausgiebig, dann grasen und spielen sie. Ihre Leibspeise: gentiana punctata – der Tüpfel-Enzian. Von den gelben Blüten ist kaum noch etwas zu sehen – nur die abgenagten Stengel sind übrig.
Mercun heißt das Murmeltier hier im Volksmund – der Name stamm vom deutschen Wort "merken". Mercun, das ist der "Schnellmerker". Die Tiere sind äußerst scheu – und ebenso kommunikativ, erklärt Zoologe Pavel Ballo. Mit ihren Pfiffen warnen sie sich gegenseitig vor verschiedenen Bedrohungen.
"Jeder Pfiff bedeutet etwas: Wenn es ein kurzer, abgeschnittener Pfiff ist, heißt das: Da fliegt ein Steinadler, versteckt euch. Wenn er langgezogen pfeift, bedeutet es, da fliegt ein Raabe. Wenn Touristen den Weg entlang gehen, pfeift das Murmeltier etwas länger, was soviel heißt wie: Alles in Ordnung, es ist nur ein Tourist, ihr könnt weiter grasen. Wenn der Wanderer aber abbiegt vom Weg, pfeift er: Vorsicht – alle aufpassen."
Ein halbes Jahr lang schlafen die Pelztiere – von Oktober bis April. Dann schaufeln sie sich aus ihren mit Steinbrocken zugemauerten Höhlen heraus, futtern ordentlich und suchen sich einen Partner.
"Das ist die heikelste Zeit. Ein Murmeltier ist nur drei, vier Stunden im Jahr fähig sich zu paaren. Und wenn die Tiere gerade in diesem Moment gestört werden, z.B. von Skifahrern, gibt es keinen Nachwuchs."
Nichts sei wichtiger, als die ursprünglichen Lebensräume der Hohen Tatra zu schützen sagt der Zoologe. Es sei einer der wenigen Orte in Europa, wo es noch eine echte Wildnis gebe:
"Einmal habe ich hier vor einer Felsenhöhle gestanden und eine Pause gemacht. Und dann sind plötzlich zwei Bärenjunge auf mich zu gerannt. Die sind so verspielt. Aber mir war klar, dass gleich die Mutter um die Ecke biegen würde. Da muss man dann einen kühlen Kopf bewahren: nicht dem Bär in die Augen schauen, langsam rückwärts gehen. Und das hat geklappt - aber es war verdammt knapp."
Und so pilgert Murmeltiermann Pavel Ballo weiter die Berge der Tatra hinauf, um die Lebensräume von Marmota marmota in der Hohen Tatra zu erforschen und zu schützen:
"Ich kann über gar nichts anderes reden als über Murmeltiere. Beim Bier, oben in den Bergen oder im Büro… Bei mir dreht sich alles nur um Murmeltiere."
Auf seinen Wanderungen genießt der Sherpa die spektakulären Ausblicke: Auf die Gerlsdorfer Spitze, den mit 2.655 Metern höchsten Gipfel der Slowakei - und den Berg Krivan, eine Art Nationalheiligtum. Wie in allen Hochgebirgen der Welt, sind auch hier professionelle Lasten-Träger unterwegs. Die Hüttenwirte geben bei ihnen ihre Bestellung auf und werden von den Sherpas mit Lebensmitteln, Getränken oder Baumaterial beliefert. 25 Cent pro Kilogramm bekommen sie dafür. Doch der eigentliche Lohn ist ein anderer:
"Wenn ich morgens aufstehe und aus dem Fenster sehe, habe ich das Gefühl, hier her zu gehören. Die Berggipfel fordern mich geradezu heraus, sie zu bezwingen. Selbst wenn man tausendmal dort war, entdeckt man immer etwas Neues."
Petras ist kein Muskelmann, sondern ein drahtiger Asket. Er hat einen Doktortitel in Philosophie und hat bis vor wenigen Jahren als Lehrer gearbeitet.
"Manche Leute meinen, der ideale Sherpa müsse stark und dumm sein – stark, um viel tragen zu können, und dumm, damit er wenig Geld dafür haben will. Aber das Gegenteil stimmt: Zwei Drittel der Sherpas hier haben eine Hochschulausbildung - es sind Lehrer, Ärzte oder Rechtsanwälte."
Heute ist Petras auf dem Weg zu seiner eigenen Hütte: Die "Rainerova Chata" ist die älteste Gebirgshütte in der Tatra: 1.863 wurde das winzige Häuschen erbaut. Seit zehn Jahren bewirtet der einstige Pädagoge hier Wanderer und Skifahrer aus aller Welt.
Zwei lange Tische mit Holzbänken bieten den Gästen in der dunklen Stube Platz zum Sitzen. Im Kachelofen knistert ein Feuer, auf den eisernen Ofenplatten kocht Petras Tee und Kaffee. Die Spezialität des Hauses – ein süßer Tee aus Tatrakräutern.
"Das ist unser Tee, aus Kräutern, die wir selbst pflücken: Minze, Holunder, Majoran, Ackerklette, schwarze Johannesbeeren - und ein bisschen gekaufter Schwarztee. Deshalb kommen so viele Menschen hier her - und alle loben unsere Tee."
Eine Reise in die Hohe Tatra ist für die Slowaken selbst mehr als ein gewöhnlicher Urlaub. Vor 17 Jahren, mit der Trennung von Tschechien, wurde das kleine Land erstmals ein eigenständiger Staat. Türken, Ungarn, Österreicher, Deutsche haben hier über Jahrhunderte regiert. Trotzdem ist es dem Fünf-Millionen-Volk gelungen, die eigene Sprache und Kultur zu bewahren. Und die Gipfel der Tatra, die auch in der Nationalhymne besungen werden, sind ein wichtiger Teil der slowakischen Identität, sagt ein Tourist, der bei Peter Petras eine Tasse Tee schlürft.
"Die Berge waren für die Slowaken immer ein Zufluchtsort - als die Tataren kamen, die Türken, Napoleon und so weiter. Sogar die Mongolen sind an der Nordseite der Tatra entlang gezogen. Und die Menschen haben sich immer in die Berge gerettet."
Die Rainerova Chata ist mit dieser Geschichte eng verbunden: historische Fotos zieren die Wände, ein buntes Sammelsurium aus nostalgischen Küchenutensilien, alten Ski- und Wanderausrüstungen und Schnitzereien dient als Dekoration, von der Decke baumelt Peter Petras’ Kuhglocken-Sammlung:
Doch die größte Attraktion ist Peter Petras selbst: Viele Gäste bitten den Sherpa um ein gemeinsames Foto oder sogar um Autogramme. Die Touristen seien ihm willkommen, sagt der Chata-Wirt, anders als die vielen Investoren aus der Hauptstadt Bratislava, die die Schönheit der Hohen Tatra mit immer neuen Bauprojekten zerstörten…
"Das ist schwachsinnig – die Kapazitäten können nicht immer weiter ausgebaut werden. Das ist ganz verheerend. Das Problem ist, dass nicht Einheimische hier bauen, sondern die Unternehmer aus Bratislava. Die bekommen große Augen und glauben, hier könne man reich werden. Aber das geht auf Kosten der Qualität und der ursprünglichen Natur."
Zum Beispiel im Touristenort Lomnica. Das Dorf gleicht in der Hauptsaison einem überdimensionierten Parkplatz. Jeder freie Fleck rund um die Talstation der Seilbahn ist zugeparkt. Bald sollen hier noch mehr Autos stehen – und mit einer neuen Seilbahn sollen noch mehr Menschen noch schneller hinauf katapultiert werden zum kristallklaren Bergsee Skalnate Pleso auf 1.750 Meter Höhe. Das ganze Areal ist eine Großbaustelle – zur Begeisterung von Michal Krolak.
"Hier entstehen eine neue Seilbahn für 2600 Menschen pro Stunde, ein neuer Gratis-Parkplatz für 400 Autos und ein neues Beschneiungssystem für die Skipisten."
Ideen hat der junge Manager in Hülle und Fülle: Michal Krolak träumt von stilvoll renovierten Hotels, hochmodernen, windsicheren Sesselliften und blitzblanken Selbstbedienungsrestaurants auf den Gipfeln. Krolak arbeitet für die slowakische Finanzgruppe J&T mit Sitz in Bratislava. Bei der Tochtergesellschaft Tatry Mountain Resorts ist der junge Mann in Jeans und legerem Sacko für die Abteilung Dienstleistungen zuständig. Genau da, meint er, gebe es noch viel zu tun, wenn die Tatra mit Urlaubsgebieten wie den Alpen konkurrieren wolle:
"Das Angebot an Dienstleistungen kann doch nicht auf dem Niveau von vor 40 Jahren stehen bleiben. Wenn die Menschen herkommen, haben sie gewisse Erwartungen: Wie Sie sehen, haben viele Touristen hier nicht einmal einen Rucksack dabei. Die Leute erwarten, dass sie sich irgendwo hinsetzen und etwas trinken können, dass sie auf die Toilette gehen können und etwas zu Essen bekommen."
Zum Beispiel in dem neuen, etwas steril wirkenden Cafe am Skalnate Pleso, mit Blick auf das schroffe Massiv der Lomnitzer Spitze. Hier, sagt der junge Manger stolz, müssten die Touristen nicht von Papptellern und mit Plastikbesteck essen. Und die Kuchen seien alle frisch gemacht. Ein Kompromiss aus Masse und Klasse.
Mehr Touristen, so die einfache Gleichung, bedeuten mehr Arbeitsplätze und Wohlstand in der ansonsten eher armen Provinz. Die großartigen Landschaften sind das einzige Kapital im Norden und Osten der Slowakei. Auch Manager Krolak schwärmt von dieser Wildnis mitten in Europa – Lebensraum für Bären, Wölfe, Füchse, Luchse und Steinadler. Das gelte es zu schützen, aber auch zu nutzen:
"Wir können hier keine kleinen Schritte machen, sondern nur große Sprünge. Wir müssen in kurzer Zeit das Niveau unserer Angebote um einige Stufen erhöhen. Nur so können wir gewährleisten, dass unsere Investitionen sich auch lohnen."
Den Vorwurf von Umweltschützern, die Investoren von J&T zerstörten die Landschaft mit immer neuen Parkplätzen und Apartmentblocks weist Michal Krolak von sich. Die Umweltschützer in der Slowakei seien nun mal besonders radikal.
Über diese Behauptung kann Tomas Vancura nur lachen. Für ihn sind die goldenen Pläne der Investoren, die rund um die Talstation in Lomnica Gestalt annehmen, ein Alptraum:
"Es ist unbegreiflich: Wir stehen hier auf staatlichen Grundstücken. Ich habe so etwas noch nirgendwo auf der Welt gesehen. Wenn die Flächen dem Staat gehören, ist das eigentlich der Idealzustand – da könnte die Regierung ihre Naturschutzfunktion ohne Einschränkung wahrnehmen. Stattdessen ermöglicht man es einer Privatfirma hier, etwas Derartiges anzustellen. - Völliger Wahnsinn."
Tomas Vancura war bis vor drei Jahren (2007) Chef des Nationalparks Hohe Tatra – dann musste er den Hut nehmen. In seinem Fall: die dunkelgrüne Schirmmütze, an der die Nationalparkwächter zu erkennen sind.
"Von mir ist bekannt, dass ich meine Ansichten nicht ändere. Und mein Konzept war, die Natur im Nationalpark zu schützen - als das letzte Gebiet, wo sie für sich selbst sorgt und die Menschen sie nur besuchen und betrachten, wie eine Kathedrale. Für mich kam es nicht in Frage, dass wir aus dem Nationalpark ein weiteres gewöhnliches Skigebiet werden lassen."
Zu unbequem – befand man in Bratislava. Vancura lächelt zynisch. Seine Stelle sei neu ausgeschrieben worden, und der "Beste" habe sie bekommen. Der sportliche 48-jährige ist seiner Mission trotzdem treu geblieben. Er kämpft als Privatmann weiter – keine einfache Aufgabe in einem Land, in dem Öko-Projekte oft noch als Luxus betrachtet werden:
"Es gibt hier keine Regierung und keine Partei, die dem Umweltschutz zugeneigt wäre – in dieser Hinsicht ist egal, wer in Bratislava am Ruder ist. Aber das, was in den vergangenen vier Jahren geschehen ist, hat die schlimmsten Erwartungen übertroffen. Da wurden ganz bewusst Gesetze zugunsten von Investoren geändert - aus meiner Sicht absoluter Schwachsinn."
Alle paar Tage ist Tomas Vancura mit dem Auto in der Tatra unterwegs – er besichtigt die neuen Bauprojekte, spricht mit den Einwohnern in den Dörfern und beobachtet alle Veränderungen. Eine mühsame Lobbyarbeit auf kleinster Ebene. Die Menschen kennen ihn –inzwischen glauben sie ihm auch, sagt er:
"Als ich noch den Nationalpark geleitet habe, haben uns viele vorgeworfen, dass wir die Natur zu sehr schützen, dass wir die Bedürfnisse der Menschen nicht sehen und die Entwicklung der Tatra blockieren. Heute kommen viele zu mir und sagen: Jetzt wissen wir genau, was du gemeint hast."
Die Hohe Tatra hat in den vergangenen Jahren zwei Katastrophen erlebt, sagt der studierte Forstwirt: Die erste war der verheerende Orkan im November 2004, bei dem fast die Hälfte der Waldflächen förmlich abrasiert wurde. Doch die viel größere Katastrophe, sagt Vancura, kam danach: der Sturm der Investoren. Die ohnehin zerstörten Landschaften, so deren Argument, könne man nun doch sinnvoll nutzen.
Tomas Vancura will es bei dieser pessimistischen Note aber nicht belassen. Er fährt seine Gäste noch ein Stückchen weiter. In den Teil der Tatra, wo er aufgewachsen ist. Er parkt den Wagen auf einer Anhöhe und steigt aus. Die Gegend um Podbanske, sagt er, sei das Herz des Nationalparks.
"Dieses Gebiet ist interessant, weil hier alles erhalten geblieben ist. Die Täler sind langgestreckt, 15 Kilometer – so weit wandern die wenigstens Touristen. Hier sind also wenige Touristen, deshalb ist das Gebiet noch ein echter Schutzraum für die Wildtiere. Das ist das Herz des Nationalparks."
Hier hat die heile Welt den Traum vom großen Geld unbeschadet überstanden. Und er werde alles daran setzen, so Vancura, dass das auch so bleibt.
"Dieser Anblick hier ist für mich das Schönste - seit meiner Kindheit. Wir sehen die Täler Koprova und Ticha vor uns, den majestätischen Krivan im Nebel. Hier habe ich die schönsten Momente meiner Kindheit verbracht…als Kind sieht man alles aus der schönsten Perspektive. Vielleicht denken die Kinder auch heute, es sei alles in Ordnung hier. Man sollte ihnen diese Illusion nicht nehmen."
Dafür sorgt Pavel Ballo auf seine Weise. Noch bevor es hell wird, macht sich der Zoologe auf den Weg. Der felsige Pfad führt steil bergauf. Trotzdem hat Pavel Ballo es eilig: Je früher man oben ankommt, desto besser.
"Der Aufstieg zu den Murmeltierkolonien dauert vier bis viereinhalb Stunden. Dann bleibe ich fünf bis acht Stunden hier oben. Und dann geht’s wieder runter. Mein Arbeitstag beginnt um vier Uhr morgens und dauert etwa bis neun Uhr abends."
Marmota marmota latirostris: das Tatra-Murmeltier ist Pavel Ballos Passion. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den "gesprächigen Schläfern", wie er sie liebevoll nennt.
"Und vor einem Jahr hat mich der Direktor des Nationalparks Hohe Tatra angerufen und mir gesagt, dass er einen Verrückten für die Murmeltiere braucht. Jemanden, der sich nur darum kümmert."
Seitdem steigt Pavel Ballo alle zwei, drei Tage in der Dunkelheit hinauf zu den Murmeltieren der westlichen Tatra. In circa 1800 Metern Höhe (+-200) bauen sie ihre Höhlen und Gänge.
"Die Landschaft hier sieht aus wie ein Schweizer Käse, alles ist voller Murmeltierlöcher. 1500 Erdlöcher auf einem so kleinen Gebiet, das ist einmalig."
Die Murmeltiere waren in einigen Gebieten der Tatra ausgestorben und werden deshalb genau überwacht – nicht nur mit Kameras und Ferngläsern, sondern auch per Satellit. Zoologe Ballo trägt bei seinen Bergtouren deshalb bis zu 20 Kilo an technischer Ausrüstung hinauf – Batterien und Ersatzteile für das GPS-System, mit dem er genau kartieren kann, wo wie viele Murmeltiere leben. Sviste heißen sie auf Slowakisch. Und Pavel Ballo scheint von den rund 600 Tieren jedes zu kennen…
"Dieses Murmeltier, das uns gerade ansieht, ist etwa drei Jahre alt. Das heißt, es wird gerade Erwachsen. Ein Murmeltier wird 18 Jahre alt, das hier ist also ein jüngeres. Es pfeift nicht, es passt nur auf und wartet, bis wir weggehen."
"Und dort sitzt eine Mutter vor ihrem Bau, da sieht man eine große ausgescharrte Erdfläche. Ich nenne das immer den Kinderspielplatz. Die Mutter war sicher hier weiden, damit sie genug Milch für die Jungtiere hat. Und jetzt wartet sie, bis das Wetter besser wird, damit sie weiter fressen kann."
Marmota marmota ist ein Relikt der Eiszeit. Die Pelztiere leben oberhalb der Baumgrenze – zwischen Geröllfeldern und Flächen mit Gras und niederen Sträuchern. Immer wieder zeigt der Murmeltier-Experte auf schmale Schneisen im Gestrüpp, die von einem Erdloch zum nächsten führen:
"Und sehen Sie diesen kleinen Weg im Gras? Das ist die Murmeltierautobahn."
Früh morgens herrscht auf den "Murmeltierautobahnen" reger Verkehr: Am liebsten sonnen sich die Tiere erst einmal ausgiebig, dann grasen und spielen sie. Ihre Leibspeise: gentiana punctata – der Tüpfel-Enzian. Von den gelben Blüten ist kaum noch etwas zu sehen – nur die abgenagten Stengel sind übrig.
Mercun heißt das Murmeltier hier im Volksmund – der Name stamm vom deutschen Wort "merken". Mercun, das ist der "Schnellmerker". Die Tiere sind äußerst scheu – und ebenso kommunikativ, erklärt Zoologe Pavel Ballo. Mit ihren Pfiffen warnen sie sich gegenseitig vor verschiedenen Bedrohungen.
"Jeder Pfiff bedeutet etwas: Wenn es ein kurzer, abgeschnittener Pfiff ist, heißt das: Da fliegt ein Steinadler, versteckt euch. Wenn er langgezogen pfeift, bedeutet es, da fliegt ein Raabe. Wenn Touristen den Weg entlang gehen, pfeift das Murmeltier etwas länger, was soviel heißt wie: Alles in Ordnung, es ist nur ein Tourist, ihr könnt weiter grasen. Wenn der Wanderer aber abbiegt vom Weg, pfeift er: Vorsicht – alle aufpassen."
Ein halbes Jahr lang schlafen die Pelztiere – von Oktober bis April. Dann schaufeln sie sich aus ihren mit Steinbrocken zugemauerten Höhlen heraus, futtern ordentlich und suchen sich einen Partner.
"Das ist die heikelste Zeit. Ein Murmeltier ist nur drei, vier Stunden im Jahr fähig sich zu paaren. Und wenn die Tiere gerade in diesem Moment gestört werden, z.B. von Skifahrern, gibt es keinen Nachwuchs."
Nichts sei wichtiger, als die ursprünglichen Lebensräume der Hohen Tatra zu schützen sagt der Zoologe. Es sei einer der wenigen Orte in Europa, wo es noch eine echte Wildnis gebe:
"Einmal habe ich hier vor einer Felsenhöhle gestanden und eine Pause gemacht. Und dann sind plötzlich zwei Bärenjunge auf mich zu gerannt. Die sind so verspielt. Aber mir war klar, dass gleich die Mutter um die Ecke biegen würde. Da muss man dann einen kühlen Kopf bewahren: nicht dem Bär in die Augen schauen, langsam rückwärts gehen. Und das hat geklappt - aber es war verdammt knapp."
Und so pilgert Murmeltiermann Pavel Ballo weiter die Berge der Tatra hinauf, um die Lebensräume von Marmota marmota in der Hohen Tatra zu erforschen und zu schützen:
"Ich kann über gar nichts anderes reden als über Murmeltiere. Beim Bier, oben in den Bergen oder im Büro… Bei mir dreht sich alles nur um Murmeltiere."