Grosser: Erfolg bei WM bietet auch politisch Chancen

Alfred Grosser im Gespräch mit Hanns Ostermann · 05.07.2010
Angesichts der vielen Spieler mit Migrationshintergrund in der Nationalmannschaft könnten die Deutschen verstehen, dass ihr Land ein Einwanderungsland sei. Das habe man lange vergeblich versucht, klarzumachen, sagt Alfred Grosser.
Hanns Ostermann: "Das ist eine Mannschaft", titelte "L'Équipe", die französische Sportzeitung. Von einem "perfekten Orchester" spricht der "Corriere dello sport". Was derzeit der deutsche Fußball in Südafrika leistet, findet international höchste Anerkennung, und freudetrunken feiern natürlich auch wir unsere Kicker. Die schwarz-rot-goldenen Fahnen oder Hüte haben wieder Hochkonjunktur. Viele sprechen nach 2006 schon von einem zweiten Sommermärchen. Entscheidenden Anteil daran haben insgesamt elf Spieler mit Migrationshintergrund. Der Fußball also ein Vorbild für die Gesellschaft? – Ich möchte darüber mit dem deutsch-französischen Soziologen und Politologen Alfred Grosser sprechen. Guten Morgen, Herr Grosser!

Alfred Grosser: Guten Morgen!

Ostermann: Was kann die Politik vom Fußball lernen?

Grosser: Freude zuerst einmal, denn ich habe noch nie gesehen, dass sich die Kanzlerin so freut, wie sie sich anscheinend dort gefreut hat – mit Recht. Und wenn heute Morgen die "FAZ" eine große Sonne auf Seite 1 bringt und sagt "Sonne über Deutschland", so ist das der Fußball, und ich finde es sehr schön, dass es diese Begeisterung gibt.

Ostermann: Gibt es vielleicht noch etwas, was möglicherweise die Politik vom Fußball lernen kann? Ich denke da an die Integration.

Grosser: Genau. Von den sagen wir mal 40 Millionen Deutschen, die keinen sogenannten Migrationshintergrund haben, werden vielleicht jetzt die Mehrzahl endlich verstanden haben, dass die Bundesrepublik ein Immigrationsland ist. Das hat man seit Jahren vergeblich versucht, in Deutschland klarzumachen. Es ist eine Immigration und das ist eine große Chance für die Bundesrepublik, ein Immigrationsland zu sein.

Ostermann: Das war vor vier Jahren bei Asamoah zum Beispiel noch anders. Jetzt werden Leistungen von Özil, Khedira, Cacao, der bei uns Helmut genannt wird, oder Boateng, das ist jetzt anders. Trotzdem glaube ich, es gibt immer noch eine erhebliche Kluft zwischen dem Sport und anderen Bereichen der Gesellschaft. Woran könnte denn das liegen?

Grosser: Zuerst mal, wenn die verlieren würde nicht mehr Titel sein – ich glaube, es war in der "Bildzeitung" -, dass "wir" so groß geworden sind, genauso wie "wir" Papst geworden sind, als Ratzinger Papst wurde. Ich glaube, das "wir" würde sich in "sie" verwandeln, wenn es eine richtige Niederlage gegeben hätte. So weit ist man noch nicht. Ich zitiere gerne einen Dialog, ein Interview von Wolfgang Schäuble im "Stern". Er wurde gefragt, kann ein Türke Kanzler werden, und Schäuble hat völlig im französischen Sinn geantwortet, sie meinen jedenfalls ein Deutscher mit türkischer Geburt, aber natürlich kann er Kanzler werden.

Ostermann: Wichtig ist dabei, denke ich, die Frage, ob man beispielsweise eine entsprechende Bildungslaufbahn durchlaufen hat. Das sehen wir jetzt ja auch im Kabinett in Niedersachsen. Das hat der deutsche Fußball vor zehn Jahren etwa erkannt. Aber die Gesellschaft hinkt doch, um dieses Beispiel zu übertragen, bildungsmäßig nach wie vor hinterher, oder sehen Sie das anders?

Grosser: Ja, es kommt darauf an, wer da spricht. Ich finde, im Gegensatz zu vielen deutschen Zeitungen, die sich den neuen Bundespräsidenten als Prügelknabe für die Kanzlerin genommen haben, dass in seiner Einführungsrede Wulff ganz hervorragend betont hat, was das alles bedeutet, zum Beispiel mit dem Vater der Ministerin, die türkischer Geburt ist, was für ihn eine Leistung gewesen ist, dadurch, dass seine Tochter so hochgestiegen ist, und er hofft nur – und das ist sehr schön in dieser Rede -, dass das verstanden wird, was das bedeutet.

Ostermann: Herr Grosser, auch Frankreichs Fußball hat einmal von seinen Einwandererkindern profitiert. 12 Jahre liegt es zurück, dass das Land Weltmeister wurde. Die sozialen Probleme mit Migranten allerdings brachen später massiv aus. Was können wir von diesen Erfahrungen lernen?

Grosser: Dass man gegen Niederlagen gefeit sein muss. Jetzt hat Frankreich sehr schlecht gespielt, die Mannschaft war schlecht, der Trainer war schlecht, das wusste man schon, und jetzt kommen sogar berühmte "Philosophen" - in Anführungszeichen -, die sagen, ja das kommt daher, dass die nicht in Frankreich geboren, in Wirklichkeit gar keine richtigen Franzosen sind und nicht als solche fühlen, was völliger Quatsch ist. Aber man sieht: Bei der Niederlage schlägt die Meinung wieder um, und dagegen muss man jetzt gefeit sein.

Ostermann: Es gibt ja die These, dass von einem erfolgreichen Abschneiden der Fußballer auch die Regierung profitiert. Sehen Sie das eigentlich auch so - oder eher nicht?

Grosser: Ach doch. Es ist höchste Zeit, dass diese Regierung von irgendwas profitieren kann. Also soll sie davon profitieren.

Ostermann: Und da ist die Frage, ob in der Tat Angela Merkel sich ein Beispiel an den Fußballern nehmen kann. Aber hinken diese Vergleiche nicht irgendwo, weil das Ziel im Sport ja eindeutiger definiert ist als in der Politik?

Grosser: Es hinkt völlig, denn in der Politik ist es ganz anders, und das hat mal ein gewisser Gauck wunderbar gesagt in einer Rede vor den Thüringer evangelischen Akademien. In der Politik ist die wenigste schlechte Lösung das bestmöglichste. Das will niemand einsehen, dass es keine guten Lösungen gibt, und man kann keiner Kanzlerin vorwerfen, keine gute Lösung zu finden, weil es diese Lösung einfach nicht gibt. Es muss weniger schlechte geben. Das ist im Fußball natürlich ganz anders.

Ostermann: Genau, und stattdessen freuen wir uns derzeit über das glänzende Abschneiden, eine positive Repräsentation des Landes, die in der Politik um ein Vielfaches schwieriger ist.

Grosser: Genau.

Ostermann: Der deutsch-französische Soziologe und Politologe Alfred Grosser. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Grosser: Bitte schön!