Großer Erfinder von guten siegreichen Helden

Hans-Jürgen Syberberg im Gespräch mit André Hatting · 30.03.2012
Zwischen Ludwig II. und Adolf Hitler situierte der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg den Erfolgsschriftsteller Karl May: In seiner Trilogie widmete er ihm 1974 eine monumentale Filmbiografie. Heute sagt Syberberg über den Autor: "Auch nach langer Zeit hält er stand."
André Hatting: In den 60er- und 70er-Jahren standen sie in fast jedem Kinderzimmer: die grün-braunen Karl-May-Bücher. Er war lange das, was Goethe immer gern sein wollte, aber nie wirklich war: ein Volksschriftsteller. Die weltweite Auflage seiner Werke wird auf 200 Millionen geschätzt, davon gut die Hälfte allein in Deutschland. Laut UNESCO ist Karl May einer der am häufigsten übersetzten deutschen Schriftsteller. Am 30. März 1912, also vor genau 100 Jahren, starb der Erfinder von Winnetou und Co.

Wenn Sie jetzt sagen, was soll denn diese Trivialliteratur im seriösen Deutschlandradio Kultur, dann verkennen Sie die enorme Faszination, die Karl May auch auf Intellektuelle ausgeübt hat. Arno Schmidt, Thomas Mann, Hans Wollschläger, sie alle waren begeisterte May-Leser. Und einer hat ihm sogar ein künstlerisches Denkmal gesetzt: 1974 drehte der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg eine monomentale Drei-Stunden-Biografie über Karl May. Guten Morgen, Herr Syberberg!

Hans-Jürgen Syberberg: Ja, guten Morgen!

Hatting: Karl May war Teil Ihrer Deutschen Trilogie. Die anderen hatten Ludwig II. und Adolf Hitler beziehungsweise das "Dritte Reich" zum Thema. Welche Rolle nimmt May ausgerechnet zwischen zwei Psychopaten ein?

Syberberg: Na ja, das mit dem Psychopaten würde ich auch gerne relativieren. Genau wie bei Karl May könnte man ja auch ihn so nennen und so ihn umarmen. Es sind halt in ihrer Gemeinsamkeit sehr aus der Norm geratene Figuren, sagen wir mal so. Karl May hat ja über Ludwig II. einen großen Roman geschrieben, und so bin ich auf ihn gekommen, und Hitler war ein eifriger Karl-May-Leser, der seinen Offizieren vor Stalingrad Karl May empfahl, wie man siegen soll. Also es gehört irgendwie doch zusammen, wenn man halt sehr aufmerksam und sehr sensibel ist.

Hatting: "Der Spiegel" hat damals in einer Rezension geschrieben: Karl May, das sei so etwas wie die Relais-Station der deutschen Volksseele. Können Sie damit was anfangen?

Syberberg: Ja, damit kann ich schon was anfangen. Er kam ja aus Sachsen und war ein sehr bedürftiger Mensch in seiner Frühzeit und dann eine bewegte Jugend mit Gefängnissen und so weiter. Aber das war ja nur die eine Seite dessen, was dann da noch drin war, und man könnte natürlich rückblickend auf die Deutschen sagen, dass sie so manche Abgründe kennen gelernt haben, und trotzdem gebührt ihnen wohl ein gewisses Maß an Achtung in Sachen über die Grenzen gehende Fantasie, und in der Fantasie sind es dann eben in Form von Büchern schöne Sachen.

Hatting: Das was Sie jetzt gerade beschrieben haben, gesagt haben über Karl May, das hätte man vielleicht auch in einer normalen Spielfilmlänge in einer Biografie darstellen können. Sie haben etwas anderes gemacht: Sie haben ganz, ganz viel ausgewertet an Dokumenten, Sie waren sehr detailgetreu und detailgenau. Warum genau das im Falle Karl Mays?

Syberberg: Ja, die Frühgeschichte von ihm mit den kriminellen Taten, die habe ich versucht, herauszuarbeiten und da nun auch gerecht zu werden, um von da ausgehend seine Leistungen zu beurteilen, und das zusammenzubringen auf einen Nenner, auf einen großen Bogen, das war eigentlich das Spannende, wie er aus dem Menschen mit kleinen Delikten der damaligen Zeit, der ins Gefängnis kam, plötzlich zu diesem großen Erfinder von Helden wurde, und zwar von Helden, die sich eben mit den Leservorstellungen von "gut und siegreich" deckten. Das war schon der Mühe wert, diesen Bogen zu spannen.

Hatting: Ihr Filmporträt ist jetzt fast 40 Jahre alt, aber wenn man Sie so erzählen hört, ich habe fast das Gefühl, die Faszination für Karl May, die hat bei Ihnen bis heute nicht nachgelassen.

Syberberg: Ja, wenn ich mich reinversetze, immer wieder, muss ich sagen, hält das. Es ist schon eine Gestalt, die weit, weit über dem liegt, was die Filme der 50er-, 60er-Jahre uns erzählten, wo dann ein Amerikaner sehr liebenswert, aber doch fremd versuchte, Old Shatterhand zu spielen, diesen Deutschen, der nun kommt zu den Ureinwohnern von Amerika, die ihn lehren und belehren. Das war natürlich schon eine sehr interessante Vorlage, und das Interessante ist ja wirklich, dass er diese, man sagt eben Indianer, dass er die so akzeptierte. Das waren für ihn wirklich Vorbilder und das konnte er den Deutschen auch erzählen. Es war ja nicht nur Old Shatterhand der Deutsche, sondern auch Winnetou der Andere, der Uramerikaner, und dann natürlich im Orient die großen Erzählungen, diese Labyrinthe von Untaten und Rettungen und so weiter. Das ehrt eigentlich die Leser, dass sie dem folgen konnten.

Sie haben in der Aufzählung der Bewunderer Ernst Bloch vergessen. Ernst Bloch war als Jude und sehr kritischer Beurteiler Deutschlands ein glühender Verehrer von Karl May – nicht nur aus seiner Jugend, sondern aus Kenntnissen.

Hatting: Lesen Sie ihn denn eigentlich noch, Herr Syberberg?

Syberberg: Karl May?

Hatting: Ja.

Syberberg: Nein, eigentlich nicht. Das tut mir aber sehr leid, weil mir so wenig Zeit bleibt zu solchen Dingen. Aber es tut mir eigentlich wirklich leid.

Hatting: Da sind Sie in Gesellschaft mit den heutigen Jugendlichen, die lesen nämlich auch lieber Fantasy, also Harry Potter oder die Tintenherz-Romane. May taugt allenfalls noch als Vorlage für Parodien wie zum Beispiel im Film "Der Schuh des Manitu". Lohnt es sich denn trotzdem Ihrer Meinung nach noch, Karl May zu lesen?

Syberberg: Also es lohnt sich, ihn im Herzen zu tragen, auch wenn man ihn nicht liest, einfach zu wissen von ihm als Figur, er selbst, ihn als Figur und dann seine Figuren auch – nur hoffentlich nicht nur in der Form von diesen Filmen, die ich genannt habe. Er war viel, viel größer, er war viel erstaunlicher und er hält stand. Auch nach langer Zeit, wenn ich wieder an ihn denke und hier und da hingreife, hält er stand.

Hatting: Heute vor 100 Jahren ist der Schriftsteller Karl May gestorben. Bei allen künstlerischen Würdigungen und Huldigungen bleibt das gigantische Filmdenkmal von 1974 unerreicht. Ich sprach mit dessen Regisseur Hans-Jürgen Syberberg. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

Syberberg: Auf Wiederhören!

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Hans-Jürgen Syberberg
Hans-Jürgen Syberberg© dpa / picture alliance / Robert Schlesinger
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