Große Zahlen, kleine Zahlen, wahre Zahlen
Immer wenn sich eine Runde von Lohnerhöhungen ankündigt, reibe ich mir die Hände: Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis meine güldenen Kolumnistenworte ebenfalls besser bezahlt werden. Das ist unausweichlich, denn es folgt dem La-Ola-Gesetz des reifen Sozialstaats: Diejenigen, die sich als erste erheben, reißen ihre jeweiligen Nachbarn mit, bis zum Schluss auch träge Eigenbrötler von der allgemeinen Zuwachsdynamik profitieren. So sieht die gelungene Umwandlung des kapitalistischen Tigers zum Bettvorleger aus, und ich muss dafür noch nicht mal was tun. Danke, großer Bsirske, danke!
Meine letzte Schreibtariferhöhung betrug 4,16 Euro und katapultierte mich jäh in eine neue soziale Schicht. Seither schaue ich im Restaurant nicht mehr auf die Preise, sondern nur noch auf Michelin-Sterne und Gault-Millau-Bewertungen.
"Der gießt Hohn über Gewerkschaften aus", mag jetzt mancher denken. "4,16 Euro mehr im Portemonnaie bemerkt doch kein Mensch." Richtig, aber genau das kommt heraus, wenn man die gängige Argumentation der Kaufkrafttheoretiker wörtlich nimmt. Deren rhetorische Figur - in etwa: "Die Leute brauchen mehr Geld zum Ausgeben, dann läuft auch die Wirtschaft gut" - ist übrigens keineswegs auf eine bestimmte politische Richtung begrenzt.
Rechte Steuersenkungsbefürworter argumentieren genauso wie linke Gewerkschaftler, und der eigentlich zur Rationalität verpflichtete Staat schließt sich dem an, wenn er gegen jede Vernunft die Renten erhöht. In der großen Zahl, mit der gerne operiert wird, wenn Entschiedenheit demonstriert werden soll, sieht das vordergründig auch überzeugend aus. Dann fließen soundsoviele Milliarden in die Tasche des kleinen Mannes und bewirken dort nur Gutes.
Doch die große Zahl gehört in die Sphäre der Theorie, während praktische Volkswirtschaft ein Resultat vieler Millionen von Einzelhandlungen ist, die sich nur sehr ungenau in einer Gesamtwirkung prognostizieren lassen. Erhält jemand durch Lohnerhöhungen beispielsweise 100 Euro mehr, so fließt dieses Geld zwar wieder in den Konsum, unterliegt aber einer natürlichen Begrenzung; es können nur Kleinigkeiten gekauft werden. Dass daraus Impulse für Branchen mit Produkten jenseits der 100-Euro-Grenze resultieren, setzte Sparsamkeit voraus; bekanntlich ein der Konsumgesellschaft wesensfremder Charakterzug.
Notabene: Im Umverteilungsstaat werden diese 100 Euro ohnehin gleich wieder durch staatliche Zugriffe vermindert, doch selbst dies ausgeklammert, bleibt die Hebelwirkung kläglich. In der Praxis verflüchtigt sich der aufs Konto tröpfelnde Zugewinn sofort beim nächsten Einzelhändler; der allein gehört zu den Gewinnern des Geschehens. Nur dass er längst nicht mehr der kleine, sympathische Krämer um die Ecke ist, sondern ein Großkonzernfilialist.
Erstaunlicherweise stören sich trotz lauten Getrommels gegen Ungleichverteilung hierzulande ziemlich wenige Leute an der Tatsache, dass die Allerreichsten im Lande vornehmlich im Discountgeschäft mit Unter-100-Euro-Produkten Multimilliardäre geworden sind - gespeist vom Geld der Massen, die ihre unterschwelligen Lohnzuwächse zu Lidlaldi & Co. tragen.
Und dafür, muss man polemisch fragen, all der aufgeregte Zirkus von Arbeitskampf und Streiks? Dreierlei ließe sich antworten: Erstens, dass man die unsinnige rhetorische Figur vom Gesamtnutzen der Lohnerhöhung auf eine Volkswirtschaft schleunigst aus der politischen Phraseologie tilgen sollte. Zweitens, dass die wahre Begründung für Arbeitskämpfe im unendlichen Wettlauf zwischen Inflation und Lohnerhöhung liegt, der freilich nie gewonnen werden kann, weil das Resultat des einen stets Ursache des anderen ist ... und so weiter.
Woraus drittens die Pflicht folgert, in Zukunft ein bisschen mehr Phantasie aufzubringen: Wie wäre es, horribile dictu, wenn nicht alle eine mickrige Erhöhung erhielten, sondern abwechselnd nur etliche in den Genuss von dann ansehnlichen Zuschlägen kämen? Kriterien dafür ließen sich viele finden: Relevanz der Tätigkeit, persönliche Leistung, Anteil an der Wertschöpfung, Familienstand ... oder auch nur die Gunst des Zufalls, so man die Begünstigten ausloste, was das egalitäre Modell schlechthin darstellte.
Asymmetrische Lohnerhöhung ist jedenfalls das Konzept der Zukunft, die Lokführer haben neulich durchaus die richtige Witterung aufgenommen. Denn bei spürbarer asymmetrischer Lohnerhöhung verflüchtigte sich der Zuwachs beim Einzelnen nicht sofort im Niedrigpreissegment und mästete darum auch nicht bloß die Discounter. Zugleich verlangsamte sich die Inflation, weil nie die gesamte Gesellschaft von Verteuerungsprozessen betroffen würde.
Aber will das jemand hören? Nein. Wir lieben unsere zwar dysfunktionale, doch Brüderlichkeit heraufbeschwörende Gleichheit und bestaunen mit Kinderaugen jene Summe, die bei jeder Lohn- und Rentenerhöhung zu Buche schlägt. Gewaltig ist sie. Allerdings auf der Gegenseite: als Kosten.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "Die letzte Wahl - Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
"Der gießt Hohn über Gewerkschaften aus", mag jetzt mancher denken. "4,16 Euro mehr im Portemonnaie bemerkt doch kein Mensch." Richtig, aber genau das kommt heraus, wenn man die gängige Argumentation der Kaufkrafttheoretiker wörtlich nimmt. Deren rhetorische Figur - in etwa: "Die Leute brauchen mehr Geld zum Ausgeben, dann läuft auch die Wirtschaft gut" - ist übrigens keineswegs auf eine bestimmte politische Richtung begrenzt.
Rechte Steuersenkungsbefürworter argumentieren genauso wie linke Gewerkschaftler, und der eigentlich zur Rationalität verpflichtete Staat schließt sich dem an, wenn er gegen jede Vernunft die Renten erhöht. In der großen Zahl, mit der gerne operiert wird, wenn Entschiedenheit demonstriert werden soll, sieht das vordergründig auch überzeugend aus. Dann fließen soundsoviele Milliarden in die Tasche des kleinen Mannes und bewirken dort nur Gutes.
Doch die große Zahl gehört in die Sphäre der Theorie, während praktische Volkswirtschaft ein Resultat vieler Millionen von Einzelhandlungen ist, die sich nur sehr ungenau in einer Gesamtwirkung prognostizieren lassen. Erhält jemand durch Lohnerhöhungen beispielsweise 100 Euro mehr, so fließt dieses Geld zwar wieder in den Konsum, unterliegt aber einer natürlichen Begrenzung; es können nur Kleinigkeiten gekauft werden. Dass daraus Impulse für Branchen mit Produkten jenseits der 100-Euro-Grenze resultieren, setzte Sparsamkeit voraus; bekanntlich ein der Konsumgesellschaft wesensfremder Charakterzug.
Notabene: Im Umverteilungsstaat werden diese 100 Euro ohnehin gleich wieder durch staatliche Zugriffe vermindert, doch selbst dies ausgeklammert, bleibt die Hebelwirkung kläglich. In der Praxis verflüchtigt sich der aufs Konto tröpfelnde Zugewinn sofort beim nächsten Einzelhändler; der allein gehört zu den Gewinnern des Geschehens. Nur dass er längst nicht mehr der kleine, sympathische Krämer um die Ecke ist, sondern ein Großkonzernfilialist.
Erstaunlicherweise stören sich trotz lauten Getrommels gegen Ungleichverteilung hierzulande ziemlich wenige Leute an der Tatsache, dass die Allerreichsten im Lande vornehmlich im Discountgeschäft mit Unter-100-Euro-Produkten Multimilliardäre geworden sind - gespeist vom Geld der Massen, die ihre unterschwelligen Lohnzuwächse zu Lidlaldi & Co. tragen.
Und dafür, muss man polemisch fragen, all der aufgeregte Zirkus von Arbeitskampf und Streiks? Dreierlei ließe sich antworten: Erstens, dass man die unsinnige rhetorische Figur vom Gesamtnutzen der Lohnerhöhung auf eine Volkswirtschaft schleunigst aus der politischen Phraseologie tilgen sollte. Zweitens, dass die wahre Begründung für Arbeitskämpfe im unendlichen Wettlauf zwischen Inflation und Lohnerhöhung liegt, der freilich nie gewonnen werden kann, weil das Resultat des einen stets Ursache des anderen ist ... und so weiter.
Woraus drittens die Pflicht folgert, in Zukunft ein bisschen mehr Phantasie aufzubringen: Wie wäre es, horribile dictu, wenn nicht alle eine mickrige Erhöhung erhielten, sondern abwechselnd nur etliche in den Genuss von dann ansehnlichen Zuschlägen kämen? Kriterien dafür ließen sich viele finden: Relevanz der Tätigkeit, persönliche Leistung, Anteil an der Wertschöpfung, Familienstand ... oder auch nur die Gunst des Zufalls, so man die Begünstigten ausloste, was das egalitäre Modell schlechthin darstellte.
Asymmetrische Lohnerhöhung ist jedenfalls das Konzept der Zukunft, die Lokführer haben neulich durchaus die richtige Witterung aufgenommen. Denn bei spürbarer asymmetrischer Lohnerhöhung verflüchtigte sich der Zuwachs beim Einzelnen nicht sofort im Niedrigpreissegment und mästete darum auch nicht bloß die Discounter. Zugleich verlangsamte sich die Inflation, weil nie die gesamte Gesellschaft von Verteuerungsprozessen betroffen würde.
Aber will das jemand hören? Nein. Wir lieben unsere zwar dysfunktionale, doch Brüderlichkeit heraufbeschwörende Gleichheit und bestaunen mit Kinderaugen jene Summe, die bei jeder Lohn- und Rentenerhöhung zu Buche schlägt. Gewaltig ist sie. Allerdings auf der Gegenseite: als Kosten.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "Die letzte Wahl - Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.

Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin© Katharina Meinel