Große Konflikte, lebendige Figuren

Von Ulrike Gondorf · 27.09.2008
"Rocco und seine Brüder" von Lucchino Visconti aus dem Jahr 1960 ist einer der großen Filme des italienischen Neorealismus. Er erzählt von einer Familie aus Süditalien, die auf der Suche nach Arbeit nach Mailand geht. Die Familie zerfällt in der fremden Großstadt, die Brüder werden zu Feinden. Der niederländische Regisseur Ivo van Hove hat das Stück mit seinem Ensemble Toneelgroup für die RuhrTriennale inszeniert.
Sind Filme vielleicht die besseren Theaterstücke? Auffällig ist jedenfalls auch in dieser Theatersaison wieder das große Interesse, mit dem Regisseure nach Drehbüchern greifen, um daraus Spielvorlagen für die Bühne erarbeiten zu lassen. Starke Geschichten, große Konflikte, lebendige Figuren hat das Kino zu bieten und macht damit einer Gegenwartsdramatik Konkurrenz, die ihre Szenarien gern fragmentiert, formalisiert und ironisiert.

Luchino Viscontis neorealistischer Film "Rocco und seine Brüder" ist so eine pralle Geschichte aus dem "richtigen" Leben: Eine Mutter mit fünf Söhnen kommt aus dem armen Süden Italiens in die reiche Metropole Mailand. Und die jungen Männer versuchen, jeder auf seine Weise, den Anschluss zu finden an den Wohlstand und das großstädtische Leben. Die Familie als Spiegel der Gesellschaft - das war Viscontis ganz großes Thema. Und hier zeigt er Konkurrenzkampf, Gewalt, Neid und Eifersucht als zerstörerische Triebkräfte auf.

Im Rahmen des Generalthemas "Fremde" passt dieses Migrationsdrama genau ins Programm der diesjährigen Ruhrtriennale. Was vor 50 Jahren noch eine Wanderbewegung von ein paar hundert Kilometern innerhalb eines Landes war, hat inzwischen globale Dimensionen angenommen, das Konfliktmuster bleibt gültig und die Geschichte - melodramatisch gesteigert durch das Thema der Eifersucht zwischen Rocco und seinem Bruder Simone - wirkt nach wie vor stark.

Regisseur Ivo van Hove und sein renommiertes Ensemble Toneelgroup Amsterdam wählen einen sehr theatralischen Weg sich der Vorlage zu nähern: Wie in einer Sportarena sitzen die Zuschauer um ein zentrales Podest, das die wichtigsten Spielorte markiert: den Familientisch bei Mamma Rosaria und zugleich den Boxring. Denn die beiden Brüder Rocco und Simone versuchen sich den Weg in die fremde Gesellschaft als Boxchampions im wahrsten Sinne des Wortes freizukämpfen.

Rocco hat Erfolg. Simone scheitert und verwandelt seine ganze Kraft in selbstzerstörerische Aggressivität, verkommt vollends, als er auch noch seine Geliebte an den Bruder verliert. Rocco aber kann seine Chancen nicht nutzen, bleibt auf eine fatale Weise gebunden an die traditionellen Strukturen von Heimat und Familie und opfert persönliches Glück und wirtschaftlichen Erfolg seinem gescheiterten Bruder.

Den Film mit Theatermitteln zu erzählen gelingt Ivo van Hove anfänglich sehr gut: Der Livemusiker Harry de Wit findet für die Szenen auf dem Bahnhof, in der Sporthalle oder Zuhause Klangbilder, die eine dichte Atmosphäre schaffen. Dann aber - ausgerechnet zum spektakulären Höhepunkt der brutalen Prügelei zwischen den Brüdern um die von beiden geliebte Nadia, die Simone schließlich vor den Augen des entsetzten Rocco vergewaltigt - wird der Regisseur kleinmütig und kunstgewerblich: Er lässt minutenlang in völliger Dunkelheit agieren und stellt dann statuarische Bilder in Stroboskop-Licht.

Danach zieht es sich dann gewaltig in der pausenlosen, dreistündigen Aufführung, und man hat immer wieder das Gefühl, dass Ivo van Hove nicht das richtige Timing für die Geschichte findet. Bis ihm kurz vor Schluss mit einem starken Bild wieder ein Coup gelingt, der die Vorteile des Theaters gegenüber der Leinwand wirkungsvoll ausspielt: Kurz vor einem bedeutenden Boxkampf Roccos bringt Simone die Geliebte Nadia um. Hier ist die Szene ein Simultanbild mit allen drei leidenschaftlich verstrickten Figuren. Der stumme Rocco, der an einer Ecke Podests sitzt, wird zentraler Bezugspunkt in der tödlichen Auseinandersetzung von Nadia und Simone.

So bleiben Stärken und Schwächen im Eindruck dieses Abends. Zu den Schwächen gehört sicher auch noch der Text, den Eva Pieper und Alexandra Schmiedebach aus der niederländischen Spielfassung ins Deutsche übertragen haben. Er ist trocken, steif und schriftsprachlich und weit von dem entfernt, was man einen realistischen Dialog nennen könnte.

Eine große Stärke sind die Schauspieler der "Toneelgroep", des international bekanntesten niederländischen Ensembles (die nebenbei gesagt alle gut bis ausgezeichnet deutsch sprechen). Bis in die kleinen Rollen hinein agieren sie direkt, präzise und präsent. Hans Kesting als verlorener Bruder Simone und Halina Reijn als lebenshungrige und vom Leben betrogne Nadia hinterlassen den stärksten Eindruck.