Grimme Online Preis

Stadttagebuch ohne Firlefanz

Norbert Molitor bloggt über die Kleinstadt Neviges
Der "Blog-Opa": Norbert Molitor hat dafür den Grimme-Preis erhalten. © dpa / picture alliance
Von Nadine Wojcik · 05.11.2014
Ein Dom, ein seit Jahren stillgelegtes Schloss und eine Fußgängerzone mit einer Eisdiele: Norbert Molitor bloggt darüber, was in der Kleinstadt Neviges los ist. Das ist nicht viel - doch er tut das auf eine so wunderbare Art und Weise, dass es sogar den Grimme Online Preis dafür gab.
Ein Sonnentag. In der Fußgängerzone in Neviges hat sich der Wochenmarkt aufgebaut: meterlange Stände mit Schuhen, günstigen Mode-Jeans und natürlich auch Gemüse und Blumen. Mittendrin auf der Terrasse des Cafés "Monsieur M." sitzt sichtlich entspannt Nobert Molitor mit einigen Bekannten und trinkt Kaffee. Er ist täglich hier, ständig grüßen Leute: Neviges kennt ihn - und er kennt Neviges.
"Da hinten dieser schöne Baum vor der Fassade (Guten Tag zusammen), dieser Baum wird abgesägt und weil der dann fehlt, wird diese Wand, diese Fassade begrünt. Aber dafür muss der Baum weg, weil der sonst im Weg steht, sonst sieht man das Grün nicht, die ganze Geschichte kostet 250.000 Euro."
Kaum eine Regung im Gesicht des Bloggers, seine Augen fixieren die Gesprächspartner am Kaffeetisch. Durch seine trockene Art werden die Absurditäten des Kleinstadtalltags noch deutlicher. Das hat ihn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht.
"Morgen! Kann ich eben stören? Für Ihre Chronik. Selbst in Bremerhaven stehen Sie in der Zeitung. – Och, Dankeschön. Das ist ja witzig. Bremerhaven? Herzlichen Dank. In Neviges passiert nichts, steht hier."
Trockene, ironische Texte
In Neviges passiert nichts? Stimmt. Aber gerade in diesem Nichts passiert eine ganze Menge. "42553 Neviges" heißt der Blog schlicht, entsprechend der Postleitzahl des 19.000-Einwohner-Städtchens, das seit einer Gemeindereform zu Velbert gehört. Norbert Molitors Blog ist unaufgeregt - genauso wie er selbst. Leere Schaufenster, misslungene Stadtbegrünung oder trostlose Spielgeräte - seit sechs Jahren macht er für seinen Blog auf täglichen Spaziergängen Fotos in schwarz-weiß:
"Ich mach manchmal ganz fantastische Bilder, da bin ich selbst immer sehr glücklich, ich mache aber auch ganz fürchterliche Bilder, und ich mische die einfach und das geht auf. Dadurch dass ich das in schwarz-weiß mache, kann ich gute und schlechte Fotos mischen."
Begleitet werden die Fotos von trocken, ironischen Texten:
"Der Ort ist mittwochnachmittags und an allen anderen Tagen ab 18:30 Uhr geschlossen."
Molitor ist die kritische Stimme von Neviges. 68 Jahre alt, früher von Beruf Planer von Messeständen, stammt er gebürtig aus Wuppertal, 15 Kilometer entfernt. Sein graues Haar trägt er etwas länger und wirr, ein großzügiger Schnäuzer, eine runde, rötlich-braune Brille. Die Hose hat er für zwei Euro bei einem sozialen Projekt gekauft, dazu eine stilvolle, dunkelblaue Strickjacke. Mit seiner Leica-Kamera, die er an einer knallroten, breiten Kordel durch Neviges trägt, passt er nicht so recht zu dem dominierenden Einheits-Rentner-Grau.
Seine Texte entstehen beim Schreiben
Norbert Molitor wohnt allein direkt am Kirchplatz in einem Fachwerkhaus, 300 Jahre alt. In der Wohnungsanzeige stand: Schiefe Wände, kein Parkplatz vor der Tür – Molitor schlug sofort zu. Stilvoll und schlicht eingerichtet, ein Holztisch, eine Couch und vor allem jede Menge Designerstühle, seine zweite Leidenschaft. Beim Bloggen sitzt er am liebsten auf einem dunkelbraunen Thonet-Armstuhl.
Seine Blog-Einträge entstehen während des Tippens. Molitor schreibt mit einem Finger - das sei praktisch, dann könne er mit der anderen Hand noch eine filterlose Zigarette halten.
"In 42553 Neviges gibt es außer dem weltbekannten Dom, dem seit Jahren stillgelegten Schloss Hardenberg, einem stillgelegten Krankenhaus, dem selten geöffneten Bürgerbüro, einem Minigolfplatz und einer Fußgängerzone mit einer Eisdiele, so gut wie nix."
Dieses Stadttagebuch ohne Firlefanz hat sogar die Jury des Grimme Online Preises überzeugt. Von über 1300 Einsendungen, darunter aufwendige Seiten von mehrköpfigen Onlineredaktionen, wurde sein reduzierter Blog zum Gewinner gekürt.
"Norbert Molitor! (Musik, Applaus) Herr Molitor, was ja sehr beeindruckend ist, sie tragen ja die Gesamtverantwortung, wieviel Zeit investieren Sie? - Also ich brauche eine Minute um ein Foto zu machen (Lachen) und zehn Minuten für den Text. (Lachen, Applaus)."
Die Auszeichnung macht Molitor sichtlich stolz, überrumpelte ihn aber auch. Presseanfragen, Fernsehinterviews – manche betitelten ihn als Deutschlands Blog-Opa.
"Ich habe mir vorher nie Gedanken gemacht, dass ich 68 bin, das weiß ich jetzt erst seit ein paar Wochen, habe ich mir vorher wohl nie Gedanken gemacht, aber es ist jetzt wohl so."
Die Themen gehen ihm einfach nicht aus
Und was hat sich seitdem geändert? Molitor ist noch ein bisschen bekannter geworden. Beim Arzt kommt er jetzt sofort dran, erzählt er verschmitzt. Auch Neviges ist durch den Grimme Online Preis bekannter geworden:
"Die Grimme-Leute haben gesagt, Neviges ist überall und das ist auch so. Viele Leute kommen jetzt gucken, wie das Kaff aussieht. Neulich war hier eine Gruppe vietnamesischer Schüler, die waren hier und kamen aus Bremen. Und ich habe gefragt, wie kommt ihr denn jetzt ausgerechnet nach Neviges? Und die haben gesagt: Wir haben einen Ort gegoogelt, wo nichts los ist und haben dann mal gedacht, wir fahren nach Neviges."
Reduziert, bissig, schwarz-weiß. Seit sechs Jahren schon kommentiert Norbert Molitor sein Städtchen, doch die Themen gehen ihm einfach nicht aus. Der Blogger ist sich sicher: In 42553 Neviges wird immer was los sein.

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