Griechische Mythen als Ratgeber

26.10.2009
Für den Philosophie-Professor Luc Ferry, einst französischer Erziehungsminister, können die griechischen Mythen um Götter wie Gaia und Zeus den Menschen Weisheit und Gelassenheit lehren.
Der Philosophie-Professor Luc Ferry, ein bekennender Anti-68er, war von 2002 bis 2004 französischer Erziehungsminister. Seitdem tritt er mit der Buchreihe "Leben lernen" hervor, deren erster Band, "Eine philosophische Gebrauchsanweisung", in Frankreich ein Bestseller war. Der zweite Band, "Die Weisheit der Mythen", erzählt in zeitgemäßer Sprache das Wichtigste aus der griechischen Mythologie nach. Leser, die erstmalig oder wieder einmal in der Götterwelt und unter den antiken Helden unterwegs sein wollen, finden in Ferry einen souveränen, unakademischen Führer.

Auf der zweiten Ebene des Buches verherrlicht Ferry die Mythen als "Heilslehre ohne Gott", die den Menschen Weisheit und Gelassenheit vor dem Faktum des Todes lehren können. Wer Lebensberatung in populärwissenschaftlichem Stil mag, wird Ferry Originalität nicht absprechen. Skeptikern wird die empfohlene moderne Existenzbewältigung aus dem Geist antiker Mythen eher kurios erscheinen.

Luc Ferry kennt sich aus. Er überschaut die Variationsbreite und komplexe Verschränkung, in der die antiken Mythen überliefert sind, ohne den Erzählfaden je zu verlieren. Seine idealen Zuhörer/Leser sind Kinder, weshalb er sie mit "du" anspricht und über weite Passagen wenig Wissen voraussetzt. Das fördert einen zutraulichen, nicht unsympathischen Tonfall – man folgt den abenteuerlichen Geschichten von Gaia und Uranos über Zeus bis Odysseus und Ödipus tatsächlich gern mit kindlichem Staunen, man lässt sich mitreißen von den wunderbar-verrückten, schaurig-schön-blutigen Ereignissen. Indessen wirkt das "Du" grotesk, wenn Ferry philosophisch abhebt und von "Differenz" und "Andersheit" spricht.

Im Durchgang durch die Mythen betont Ferry (allzu oft), dass es keinen Kosmos ohne Chaos und keine Ordnung ohne Turbulenz geben kann. Er stellt die Mythologie als ein figürliches Denken ohne endgültige Erlösungskonzepte vor und fixiert die menschliche Hybris (verstanden als Maßlosigkeit) als Haupthindernis auf dem Weg zur Weisheit. Ferry liebt die Mythen, weil sie die Menschen anders als die Religion ansprechen – nämlich "in Begriffen einer laizistischen Spiritualität statt des Glaubens" und "in Begriffen des menschlichen Heils statt des Gottvertrauens". Man könnte Ferrys Mythen-Begeisterung als neuheidnisch charakterisieren, wenn er nicht selbst ständig ausdrücken würde, dass der Mythos eine Vorstufe der antiken Philosophie war – die dann im nächsten Band von "Leben lernen" behandelt wird. Ganz zureichend im Sinne der Existenzbewältigung können die Mythen also gar nicht sein, weshalb sich das Buch ein Paradox aufbürdet: Ferry verkündet ein ganzheitliches Denken, dessen historische Vorläufigkeit er gleichzeitig betont.

Wer die Lektüre der disparaten Originale scheut, kann "Die Weisheit der Mythen" dank des Registers als gut verständliches Nachschlagwerk nutzen, das über simple Götter-, Helden- und Abenteuer-Auflistungen deutlich hinausgeht. Auf der reflektierten Ebene ist das Buch ein Zeugnis konservativer, anti-psychologischer, dezidiert unchristlicher Geistigkeit. Durch Ferrys erzieherische Ambitionen bekommt es etwas seltsam Missionarisches. Ist es deshalb verächtlich? Eher nicht. Wer sich außerhalb fest gegründeter religiöser Lehrgebäude um ein komplettes Weltbild bemüht, wirkt halt leicht etwas komisch. Im Grunde bietet Luc Ferry, der kein Esoteriker ist, seine Privat-Mythologie zum Nachvollzug und Mitgebrauch an.

Besprochen von Arno Orzessek

Luc Ferry: Leben lernen: Die Weisheit der Mythen
Verlag Antje Kunstmann
München 2009
428 Seiten, 24,90 Euro