Das Geheimnis des Pythagoras-Bechers

Den Philosophen Pythagoras kennen Schulkinder aus dem Mathe-Unterricht. Doch mit seinem Namen verbindet sich auch die Geschichte eines sagenumwobenen Bechers. Eine Spurensuche auf der griechischen Insel Samos.
Nikos Kliromos braucht keine fünf Minuten, um auf seiner Töpferscheibe den Kelch zu formen, den hier alle nur "Kupato pythagoro" nennen.
"Der Gerechtigkeitsbecher des Pythagoras. Erfunden von dem großen Philosophen Pythagoras."
Nikos Klironomos ist Töpfer in der dritten Generation. In seiner Werkstatt in den Bergen über dem idyllischen Hafenörtchen Pythagoreo füllen die verschiedenen Bechermodelle ganze Regale: Ein paar schmückt das Porträt eines bärtigen Philosophen oder die geometrische Skizze eines Dreiecks.
Das Dreieck des Pythagoras, erklärt Ellena, die zehnjährige Tochter, stolz : a2 + b2 = c2. Den Satz kennt jedes Schulkind. Aber den Becher? Vater Nikos winkt eine Frau heran. Sabina. Die gebürtige Berlinerin ist in seiner Töpferei für den Verkauf zuständig und dafür, deutschen Touristen den Pythagoros-Kelch zu erklären:
"Man hat eine Maßlinie. Wenn man bis dahin eingießt, kann man alles genießen. Wenn du jetzt gierig wirst und mehr haben willst als alle anderen, hast du leider Pech. Da bekommst du nämlich gar nichts."
Denn wie durch Zauberhand fließt dann das eingeschenkte Wasser durch eine Öffnung im Fuß ab.
"Die Physik kommt jetzt. Hier gibt’s einen offenen Becher. Es gibt ein Loch unten und eine Röhre, die in den Becher einsteigt bis zu einer Maßlinie."
Pythagoras wollte den Alkoholkonsum seiner Schüler begrenzen
Über der Röhre sitzt eine Kappe. Durch eine kleine Aussparung am Boden dringt beim Eingießen Flüssigkeit in den Zwischenraum zwischen Röhre und Kappe. Steigt der Wasserspiegel über den oberen Röhrenrand, entsteht ein Unterdruck und das ganze Wasser wird aus dem Becher gesogen.
"Die Geschichte war wahrscheinlich, dass er mit seinen Schülern zusammen saß und die sollten nicht so viel trinken, sondern zuhören. Jeder soll die gleiche Menge erhalten. Das ist die Philosophie dieses Bechers."
Die nur bedingt etwas mit dem zu tun hat, was die Quellen zur Philosophie des Namensgebers und seiner Schüler hergeben. Die Pythagoreer glaubten an einen harmonisch geordneten Kosmos. Sie propagierten zwar einen genügsamen Lebenswandel, aber nicht die Gleichheit aller. In Kroton, seinem süditalienischen Exil, setzte Pythagoras eine aristokratische Verfassung durch.
Wie lange der Pythagoras-Becher schon auf Samos getöpfert wird? In der Tat war der Becher schon in der Antike bekannt. Allerdings unter einem anderen Namen. Der Mathematiker Heron von Alexandrien beschreibt um 100 n. Chr. das Gefäß als Tantalos-Becher. Bei ihm ist der Mechanismus ein Symbol für die Qualen des Frevlers, der seinen eigenen Sohn schlachtete und den Göttern zum Mahl vorsetzte.
"Mitten im Teiche stand er, das Kinn von der Welle bespület,
Lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn so oft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen;
Schwand das versiegende Wasser hinweg"
Lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn so oft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen;
Schwand das versiegende Wasser hinweg"
So beschreibt Homer die Strafe des Tantalos. Aber wann wurde aus dem Tantalos-Becher der Pythagoras-Becher? Vielleicht als die ersten Reisenden im 19. Jahrhundert Samos als Urlaubsort entdeckten Ein berühmter Philosoph eignet sich schließlich besser als Namensgeber für ein Ägäis-Souvenir als ein Kindermörder.
Vor Nikos Laden bleiben ein paar Touristen vor den Regalen mit den Bechern stehen. Sabina führt den Trick vor und erklärt. Kennt sie das selbst? Den Wunsch, immer mehr haben zu wollen?
"Selten, ich war nie gierig. - Wie lernt man das? Bescheiden zu leben. Dinge zu genießen, die einen umgeben, die man hat."
Das hat Sabina vor zehn Jahren gelernt.
"Ich habe in Berlin gelebt. Es war ein harter Job mit viel Stress und so weiter."
"Das Gestern ist vergangen, das Morgen noch nicht da, also lebe heute"
Dann traf sie ihren jetzigen Mann beim Segelurlaub in der Türkei. Und zog mit ihm gemeinsam auf ein Segelboot.
"Das Schiff war mein Zuhause, mein Dach überm Kopf, vier mal acht Meter, meine Sicherheit, aber auch das Gefühl, morgen weiterfahren zu können."
Vier Jahre kreuzten sie gemeinsam das Mittelmeer.
"Segeln ist das schönste, was es gibt. Wenn man zum Beispiel mitten in der Nacht bei Vollmond von Insel zur Insel fährst über Stunden und die Wellen dich hintragen und du ein tolles Gefühl mit der Natur hast. Delfine begleiten dich stundenlang, Wasserschildkröten. Es gibt auch Situationen, wo du vor einer Hafeneinfahrt stehst, auch im Dunkeln und du kommst nicht rein, weil der Wind gegen dich ist, und deine Maschine nicht so gut läuft. Da musst du Geduld bewahren."
Einmal konnten sie knapp vor einer Windhose einen Hafen erreichen.
"Da hatten wir alle richtig Angst, es hört sich auch unheimlich an. Gruselig."
Zwischendurch arbeiteten sie für reiche Touristen als Skipper. Vor ein paar Jahren hat sie sich mit ihrem Mann auf Samos niedergelassen. Elena, Nikos Tochter, ist ihr Patenkind. Aber hin und wieder segeln die beiden noch.
"Wie Odysseus", sagt Sabina und lacht. Dabei klingt sie gar nicht wie der rastlose Seefahrer, sondern wie eine moderne Schülerin des Pythagoras. Von dem ist folgender Ausspruch überliefert:
"Das Gestern ist vergangen, das Morgen noch nicht da, also lebe heute."