Grenzen

Warum es sinnvoll ist, klare Linien zu ziehen

Achtung Staatsgrenze! steht rot auf einem Schild geschrieben.
Wann sind Grenzen sinnvoll? © imago/ Westend61
Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die Zeiten, in denen es darum ging, Grenzen abzubauen, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Der österreichische Philosoph und Autor Konrad Paul Liessmann hat ein "Lob der Grenze" geschrieben. Im Interview sagt er, warum Grenzen in vielerlei Hinsicht notwendig sind.
Dieter Kassel: Die Zeiten, in denen es vorrangig darum zu gehen schien, Grenzen abzubauen, zu überwinden oder sie zumindest durchlässig zu machen, die scheinen ein bisschen vorbei zu sein. In vielen Gegenden der Welt werden die Rufe nach Grenzen wieder lauter, nicht nur nach territorialer, sondern auch nach sozialer und ideologischer Abgrenzung.
Das muss auch nicht unbedingt immer schlimm sein. Konrad Paul Liessmann, Professor für die Methoden zur Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien, hat das schon vor rund fünf Jahren gezeigt. Damals erschien nämlich sein Buch "Lob der Grenze". Schönen guten Morgen, Herr Liessmann!
Konrad Paul Liessmann: Guten Morgen!
Kassel: Können Sie sich eigentlich eine Welt, die völlig unbegrenzt ist in jederlei Hinsicht, überhaupt vorstellen?
Liessmann: Nein, das ist natürlich unvorstellbar. Sie brauchen nur daran zu denken, ich kann natürlich sagen, es wäre schön, wenn wir längere Zeit zum Sprechen hätten, aber im Grunde sind wir beide froh, dass unsere Redezeit jetzt begrenzt sein wird auf circa sieben Minuten.
Stellen Sie sich vor, das wäre jetzt unbegrenzt, und weder wir noch die Zuhörer wüssten, wie lange jetzt unser Gespräch dauern wird, ob überhaupt noch eine andere Sendung jemals über den Äther kommen wird. Das wäre ein unerträglicher Zustand. Das ist ein ganz banales Beispiel.
Natürlich sind wir alle froh, dass wir in unserem Leben, privaten Leben, sozialen Leben, politischen Leben, moralischen Leben, es ständig mit Grenzen zu tun haben, im geistigen Leben. In der "Definition" steckt das lateinische Wort "finis", das bedeutet Grenze. Definitionen, Begriffe begrenzen den Gegenstandsbereich, den Gültigkeitsbereich eines Wortes, eines Begriffs, Gedankens. Wenn wir das nicht hätten, wenn wir nicht wüssten, worauf sich solche Begriffe beziehen, wenn das alles grenzenlos ineinander verschwimmen würde – wir könnten uns keine Sekunde lang in dieser Welt orientieren.
Kassel: Aber ist das vielleicht auch der Grund, weil es gab ja, finde ich, in den letzten Jahrzehnten oft diesen Ruf, Grenzen sind da, um überwunden zu werden, zumindest aufgelockert. Hat das auch dazu geführt, dass wir jetzt uns vielleicht wieder mehr Grenzen wünschen, weil es halt dieses Grundbedürfnis einfach gibt.
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann© dpa / picture-alliance / Erwin Elsner
Liessmann: Das mag wirklich ein Motiv dafür sein. Auf der anderen Seite würde ich ja diesem Ruf nach Grenzüberschreitung, nach dem Durchlässigmachen von Grenzen, auch manche Grenzen nicht mehr zu respektieren und zu achten, diesem Ruf übrigens würde ich durchaus zustimmen, und zwar warum? Weil er im Begriff der Grenze selbst liegt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass eine Grenze ja keine unüberwindbare Schranke ist. Eine Grenze beendet eine Sache nicht, sondern eine Grenze zeigt immer, dass ein Gegenstandsbereich oder ein Geltungsbereich hier aufhört und ein anderer beginnt. Aber das bedeutet, dass hinter einer Grenze immer etwas ist, was auch existiert, das auch interessant sein kann, was auch neugierig machen kann, was vielleicht auch wünschenswert, lebenswert ist und was man zumindest erkunden kann.
Das heißt, jede Grenze, gerade weil sie eine Grenze ist, hat immer auch so einen Lockrufcharakter. Es stachelt unsere Neugier an, und deshalb gehört zur Grenze ganz wesentlich auch diese Möglichkeit, manchmal vielleicht auch Sehnsucht, manchmal auch Angst vor Grenzüberschreitungen.

Links oder rechts - brauchen wir die Abgrenzung noch?

Kassel: Verändert sich auch die Bedeutung der einen Grenze zugunsten vielleicht anderer? Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nennen: Eigentlich gab es seit der Französischen Revolution ungefähr eine sehr konkrete Grenze zwischen rechts und links, politisch gesehen, auch wenn dazwischen ein riesiges Niemandsland namens Mitte liegt.
Inzwischen gibt es Leute wie Emmanuel Macron und auch andere, in Deutschland vor Jahren schon die Piratenpartei, die gesagt haben, wir sind weder rechts noch links. Nicht allen, die das sagen, aber manchen kann man das sogar glauben. Das ist vielleicht eine Grenze, die wir nicht mehr brauchen, und dafür gibt es dann vielleicht neue, die wir erst jetzt brauchen?
Liessmann: Ja, natürlich. Wobei im politischen Bereich es darum geht, dass sozusagen politische Orientierungen und politische Richtungen, politische Parteien, Interessenvertretungen sich organisieren, bilden sich diese Grenzen ja natürlich auch im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung.
Das klassische Verhältnis von links und rechts, wie sie im 18., 19. Jahrhundert entstanden ist, war ja stark gebunden an die Herausbildung neuer sozialer Schichten, der Bourgeoisie, des Bürgertums, des Unternehmertums, des Kleinbürgertums auf der einen Seite, Industrialisierung, und auf der anderen Seite eben der Arbeiterschaft, des Proletariats, ein völlig neuer Stand, der sich politisch erst völlig neu organisieren musste, was zu den Arbeiterparteien, den klassisch linken sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien geführt hat. Diese gesellschaftliche Entwicklung ist ja weitergegangen.
Die klassischen Schichten, sozialen Gruppen, Klassen haben sich, wenn sie auch nicht ganz verschwunden sind, sie haben sich dann doch diversifiziert, andere soziale Fragen sind dazugekommen, haben das vielleicht auch zu einem gewissen Grad überspielt – ganz verschwunden ist es ja nicht, wir haben es schon auch noch, diese Unterscheidung zwischen links und rechts, aber sie ist vielleicht nicht mehr so dominant wie die letzten eineinhalb Jahrhunderte.
Aber es sind andere Unterscheidungen dazugekommen. Denken Sie daran, was eine ganz starke Rolle bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich gespielt hat: Die Parteien links der Mitte und konservativer Orientierung auf der einen Seite und der Rechtspopulismus auf der anderen Seite.
Das ist eine ganz scharfe Grenze heute. Wer diese Grenze überschreitet, wenn ein Intellektueller, wenn ein Journalist, wenn ein Politiker der Mitte in den Verdacht gerät, in die Nähe des Rechtspopulismus zu geraten, dann hat er eine Grenze überschritten, die eigentlich nicht überschritten werden darf, und er kann also mit schärfster Kritik rechnen.
Das ist, soweit ich das jetzt beobachte, im Bereich des Politischen momentan eine ganz klar gezogene und moralisch ganz streng bewertete und bewachte Grenze. Wir achten ja ganz genau darauf, wer verwendet welche Worte, und welche Worte könnten in den Verdacht geraten, tatsächlich auch von Rechtspopulisten verwendet zu werden. Ein Politiker, dem gesagt wird, das, was Sie jetzt gesagt haben, sagt auch die AfD, der hat schon diese Grenze überschritten. Da sind Grenzposten aufgestellt, geistige, wie sie schärfer nicht sein können.
Aber glauben Sie mir, auch diese Grenze wird durchlässig werden und wird zum Teil auch wieder verschwinden.

Die Grenze des einen ist auch die Grenze des anderen

Kassel: Das glaube ich Ihnen gern, aber das hat natürlich jetzt noch mal gezeigt, was Sie gerade gesagt haben, dass es ja grundsätzlich mindestens zwei verschiedene Arten von Grenzen gibt – im Detail wahrscheinlich hundert verschiedene. Aber es gibt die Grenzen, die ich um mich herum baue, damit niemand zu nahe kommen darf, wo ich sage, das ist ein Territorium, da darf man ohne Einladung nicht eindringen. Und es gibt die Grenzen, die ich selbst nicht überschreiten darf. Das ist ja ein grundsätzlicher Unterschied.
Liessmann: Die Grenze des einen ist immer auch die Grenze des anderen. Das ist völlig klar. Wir dürfen nicht vergessen, die Menschenrechte, wie sie sich entwickelt haben, konzentrierten sich ja ursprünglich genau auf diese eine Frage der Integrität meines Ich, meines Selbst, meines Körpers. Dass mein Körper nicht von jedermann berührt werden darf, dass niemand, egal wer er auch ist, ohne meine Zustimmung Zugriff auf meinen Körper, auf meine Haut, auf meine Integrität haben darf, ist eine ganz wesentliche Errungenschaft und hat die Willkürherrschaft des Staates, die Willkürherrschaft von Potentaten, von Tyrannen, begrenzt, tatsächlich.
Das heißt also, wenn ich Grenze als Schutzfunktion definiere, bedeutet das immer, dass ein anderer in seinen Handlungsweisen dadurch eingeschränkt ist, dadurch begrenzt ist. So funktionieren aber alle unsere moralischen Systeme.
Die Freiheit, die ich für mich beanspruche, hat immer ihre Grenze, nach diesem berühmten Wort von Rosa Luxemburg, an der Freiheit des anderen. Wenn ich diese Grenze überschreite, verletze ich jemand anderen, genauso wie umgekehrt mich jemand verletzt, der die Grenze, die mir wichtig erscheint und die meine persönliche Integrität schützen soll, überschreitet.
Natürlich sind auch diese Grenzen verhandelbar, und natürlich kann man sagen, in besonderen Situationen hat der Staat zum Beispiel das Recht, um seine Bürger zu schützen, die Freiheit von bestimmten einzelnen Personen einzuschränken, sie zu verfolgen, sie gefangen zu nehmen, wie auch immer.
Aber das sind immer Ausnahmesituationen, die, weil sie Ausnahmesituation sind, auch die grundsätzliche Legitimität solcher Grenzen ja bestätigen. Ich glaube, wir sind alle froh, dass nicht alle Menschen das Recht haben, uns zum Beispiel zu berühren.
Kassel: Herr Liessmann, Sie haben es ja selbst sehr offen gesagt: Unsere Grenze heute Morgen sind die sieben Minuten. Die haben wir soeben überschritten. Aber ich finde, das war legitim.
Liessmann: Das ist aber trotzdem schade.
Kassel: Ja, ich wollte gerade sagen, das war legitimiert, aber mehr kann ich jetzt nicht mehr legitimieren für diesen Moment. Wir setzen das irgendwann grenzenlos – ja nein, aber in anderen Grenzen fort. Herr Liessmann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch heute Morgen!
Liessmann: Ich danke Ihnen! Wiederhören!
Kassel: Wiederhören! Konrad Paul Liessmann war das, Professor für Methoden zur Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Uni Wien und außerdem Autor des Buches "Lob der Grenze", das 2012 im Zsolnay-Verlag erschienen ist. Und natürlich war dieses Gespräch Teil unseres Thementages "Grenzen ziehen" heute, und natürlich finden Sie den auch im Internet unter deutschlandfunkkultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Konrad Paul Liessmann, "Das Lob der Grenze"
Paul Zsolnay Verlag 2012
208 Seiten, 18,90 Euro

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