Grenzen digitalen Lernens

Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache

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Eine Schülering sitzt am Laptop und unterhält sich mit ihren Schulkameraden und der Lehrering im gemeinsamen Videochat.
Wie der Lehrer in der Schule mit der Klasse agiert, das ist durch keine Videokonferenz ersetzbar. © picture alliance / IPA / Riccardo Giordano
Überlegungen von Michael Felten · 22.05.2020
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Auch wenn vieles nicht oder schlecht funktioniert: Durch Corona erleben die Schulen gerade einen Digitalisierungsschub. Was sich dabei bewährt hat und was man zukünftig besser lassen sollte, beschäftigt den Pädagogen Michael Felten. 
Jetzt mussten es aber auch Skeptiker zugeben: Gut, dass es das Digitale gibt - damit ließ sich der Unterrichtsausfall wegen Corona doch prima auffangen. Schüler bekamen weiterhin ihre Aufgaben, oft mit persönlichem Ferncoaching - und die letzten Lehrer entdeckten die Möglichkeiten elektronischer Hilfsmittel.
Zudem gab's zuhause wenigstens saubere Toiletten mit genug Klopapier, und das häusliche Arbeitszimmer lässt sich nun vollständig bei der Steuer absetzen. Not gebiert bekanntlich auch Rettendes.

IT macht sich das Pädagogische Untertan

Aber - Virenwarnung - es könnte sich auch ein Trojaner eingenistet haben. Denn bequem wie der Mensch nun mal ist: Er wird sich ein Stück weit ans Distanzlernen gewöhnen, an Unterricht ohne Blicke, Mimik und Gestik. Deshalb werden sich clevere IT-Firmen, die ihre Plattformen bis zum Sommer erst mal kostenfrei anbieten, über Folgeabos garantiert nicht beklagen müssen.
Und schon bald könnten Kultusminister sich damit brüsten, endlich den Schlüssel zur Lösung des Dauerproblems Lehrermangel gefunden zu haben: einfach weniger Präsenzunterricht in der Schule, mehr digitalisiertes Üben daheim.
Allerdings stößt ja die Formel "Wer heilt, hat recht" schon beim Arztbesuch an Grenzen. Eine Gesundung kann ganz andere Ursachen haben als das verordnete Medikament, die Heilung hält vielleicht auch nur kurz an - oder wirkt lediglich im Einzelfall. Auch beim homelearning mit Monitor muss deshalb die Frage sein, ob's überhaupt funktioniert - ob es also zumindest annähernd so gut wirkt wie der bisherige Präsenz- und Dialogunterricht.
Aber vielleicht wollen die Verantwortlichen das gar nicht so genau wissen - zu schön der Anschein für die Behörde, alles im Griff zu haben, zu verlockend die Chance für IT-Business und Big Data, sich im Coronaschock auch das Pädagogische untertan zu machen.

Es fehlt das menschliche Gegenüber

Das Echo der Schüler auf den Fernunterricht ist bekannt: Zuerst fanden sie Freiheit und neue Medien cool, dann wurden die Aufgabenlisten immer langweiliger, letzten Endes gerieten vor allem Schwächere ins Hintertreffen. Beim Distanzlernen mit Apparaten fehlt einfach das menschliche Gegenüber - Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache.
Wie ein Lehrer diesen Schüler anschaut und dann jenen, wie er mit der ganzen Klasse Fragen diskutiert, wie er Schwächere einfühlsam zu weiterem Bemühen ermuntert, wie er von einem Thema begeistert ist - das vermag kein Recherchetool, das ist durch keine Videokonferenz ersetzbar. Deshalb lautet ja das einhellige Urteil der als Ersatzpädagogen missbrauchten Eltern: "Jetzt ahne ich, was Lehrer täglich leisten."
Überdies weiß die empirische Unterrichtsforschung einiges über die Wirkung von digital gestütztem Lehren und Lernen. Wegen ihrer riesigen Datenbasis besonders beachtenswert: Die XXL-Metastudie "visible learning" des Neuseeländers John Hattie, 2017 aktualisiert und um die Sparte "technology" erweitert. Demnach wirkt IT im Bildungsbereich auf die Schülerleistung: höchstens durchschnittlich.

Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung

So bringt es kaum etwas, Klassen nur mit Laptops auszustatten, interaktive Lernvideos hingegen können hilfreich sein. Wenn ein Fach oder eine Altersstufe viel geistige Auseinandersetzung erfordert, fällt der IT-Nutzen gering aus. Bei reinem Training zeigen sich aber auch überdurchschnittliche Effekte. Hattie selbst bilanziert, IT verbessere den Unterricht nur, wenn es sich nicht um Ersatz, sondern Ergänzung des pädagogischen Settings handele - und wenn die Vielfalt der Lernarten und die Häufigkeit von Feedback steige.
Beinahe klingt es dialektisch: Digitales Handwerkszeug muss für Schulen selbstverständlich werden. Gleichzeitig erstrahlt die Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung. Versäumen wir also nicht, nach der Coronakrise zu fragen, was wir von ihren Notlösungen wirklich behalten wollen. Die Antwort sollte datenbasiert sein - und nicht nur das Bauchgefühl widerspiegeln "Hat doch irgendwie ganz gut hingehauen". Die CEOs im Silicon Valley jedenfalls bevorzugen für ihre Kinder analoges Lernen.

Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er arbeitet weiterhin in der Lehrerausbildung und als Schulberater. Er ist Mitbegründer der "Initiative Unterrichtsqualität" (IUQ); letzte Veröffentlichung: "Unterricht ist Beziehungssache" (Reclam).

Michael Felten
© privat
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