Grenzen der Wahrnehmung

Von Kersten Knipp |
Im Gespräch mit palästinensischen Intellektuellen, mit Historikern, Soziologen und Politologen erfährt man unendlich viel über die eigene Befangenheit. Im Hinblick auf Palästina und die Palästinenser hat die deutsche Schuld eine der vornehmsten Errungenschaften der Neuzeit ruiniert.
Am liebsten mag er eigentlich Nietzsche, erklärt er. Die bissige Art, die Dinge zu hinterfragen, die Welt auf den Kopf zu stellen und den großen Phrasen zu misstrauen, hinter dem Pathos das Nichts zu wittern – das sei schlicht hinreißend. Dem Menschen die edlen Wortkleider so entschieden vom Leib zu reißen und darunter die nackten Interessen offenbar werden zu lassen, das habe seiner Ansicht nach niemand in solch vollendeter Form geschafft wie der schnauzbärtige Philosoph aus Deutschland.

Es ist zehn, elf Uhr abends in dem kleinen Kulturclub nahe Bethlehem. Ein paar Bier sind geflossen, und Ahmed mitten auf seinem Marsch durch die westliche Kultur. Jean-Paul Sartre, Oscar Wilde, den düsteren Antonin Artaud - Ahmed kennt sie alle, aber der König der Skeptiker ist und bleibt für ihn Friedrich Nietzsche. Und zwar auch in seiner Distanz zur Religion.

Auch darin fühlt er sich dem deutschen Philosophen verwandt: Er selbst sei zwar als Muslim geboren, das ja. Aber das, was der Koran verkünde, daran glaube er schon längst nicht mehr. Im Gespräch mit Palästinensern kann man viele Überraschungen erleben, jedenfalls dann, wenn man überhaupt bereit ist, mit ihnen zu sprechen.

Warum das Europäern, vor allem Deutschen so schwer fällt, braucht man Palästinensern nicht einmal zu erklären, sie wissen es selbst: Das Jahrhundertverbrechen des Holocaust, die deutsche Scham und die Angst, jemals wieder schuldig zu werden. Eure Angst erlegt euch ein Denkverbot auf, erklärt Ahmed, es hindert euch, gewisse Dinge wahrzunehmen. Schon der Gedanke, unsere Sicht der Dinge auch nur anzuhören ist für euch bereits der Rückfall in die braune Gesinnung.

Stattdessen begnügt ihr euch mit den üblichen Stereotypen: Bei Palästinensern denkt ihr an vermummte Islamisten, die Allah preisen und das Gotteslob übergehen lassen in rhythmisch skandierte Hassparolen gegen Israel. Oder an Bilder von jungen Arbeitslosen, die müde und apathisch in Cafés herumhängen und die Zeit totschlagen. So seht ihr die Palästinenser. Aber ihr seht nur die halbe Wahrheit.

An diesem Abend im Kulturclub nahe Bethlehem, aber auch in vielen anderen Gesprächen zeigt sich immer wieder: Das Gespräch mit Palästinensern ist immer auch eines über die Grenzen westlicher, insbesondere deutscher Wahrnehmung. Palästinenser gleich Extremisten und Terroristen, so lautet die gängige Formel, und etwas ist ja auch daran, denn es gibt die Extremisten und Terroristen ja. Aber es gibt auch und in größerer Zahl die anderen, die friedlichen und vor allem weltoffenen Palästinenser.

Die bedrängte Lage in der Westbank, das schutzlose Leben unter der Besatzung hat viele von ihnen zu hellwachen, bestens informierten Menschen gemacht. Sie wissen, was los ist in der Welt, kennen die europäischen, insbesondere die deutschen Vorbehalte - und gehen mit Argumenten auf sie ein. Ein- und ausgesperrt zugleich, bei jeder Auslandsreise auf das Einverständnis Israels angewiesen, suchen sie den Kontakt zur Welt, meist über das Internet, aber auch, wenn möglich, im direkten Gespräch.

Wache Blicke, signalisieren, dass man den anderen verstehe, seine Argumente zur Kenntnis nehme, ihnen aber auch die eigenen entgegensetzen wolle: elegante Hinweise darauf, dass die gute alte Konsenstheorie der Wahrheit auch da blüht, wo angeblich Terroristen das Sagen haben. Im Gespräch mit palästinensischen Intellektuellen, mit Historikern, Soziologen und Politologen erfährt man unendlich viel über die eigene Befangenheit.

Im Hinblick auf Palästina und die Palästinenser hat die deutsche Schuld eine der vornehmsten Errungenschaften der Neuzeit ruiniert, nämlich die Bereitschaft und Fähigkeit, ergebnisoffen hinzuschauen. Kritisch zu sein, aber nicht den eigenen Vorurteilen auf den Leim zu gehen, auch dann nicht, wenn sie gut gemeinten Gründen entstammen.

Die Kosten der deutschen Befangenheit sind hoch. Denn man verpasst vieles: die bestens ausgebildeten und fast durchgehend mehrsprachigen Studenten etwa, die palästinensische Universitäten wie die von Bir Zeit Jahr für Jahr hervorbringen. Die engagierten Bürger, zu Dialog und Auskunft stets bereit. "Listen to our narrative", fordern die Palästinenser ihre Gäste auf, hören Sie auch unsere Version der Geschichte.

Es sind meist schlüssige, durchdachte und vor allem wenig fanatische Geschichten, die man zu hören bekommt. Es ist an der Zeit, diese Versionen und Geschichte wahrzunehmen. Und das heißt auch: Sich von der Vorstellung zu verabschieden, eine erweiterte Wahrnehmung sei schon der erste Schritt zum Sündenfall.


Kersten Knipp, geboren 1966, studierte portugiesische, französische und englische Philologie in Köln, Toulouse und Fortaleza, Brasilien. Nach der Promotion begann er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und ARD-Anstalten zu arbeiten. Nachdem er lange Zeit über die iberische Halbinsel und Lateinamerika berichtete, durchreist er seit mehreren Jahren die arabische Welt, über die er regelmäßig schreibt.
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Kersten Knipp© privat