Greifvögel im Gleitflug

Von Lutz Reidt · 08.08.2010
Viele Tiere wurden aus den Alpen vertrieben - die Menschen stellten allem nach, was spitze Zähne, scharfe Krallen und krumme Schnäbel hatte. Nur der Steinadler konnte überdauern - dort, wo seine Horste nicht oder nur schwer zu erreichen waren.
Wie in einem Postkarten-Panorama thront die Kreuzspitze über den dunkelgrünen Föhrenwäldern der Ammergauer Alpen. Das blaugraue, knapp 2200 Meter hohe Felsmassiv ist der höchste Gipfel dieser Gebirgskette nordwestlich von Garmisch-Partenkirchen.

Auf einer Uferterrasse oberhalb des wilden Kuchelbaches haben Jochen Fünfstück und Stefan Kluth ihre Fernrohre aufgestellt. Die Ornithologen wollen Steinadler beobachten.

Sie blicken nach Westen, vorbei an der bewaldeten Nordflanke des Kuchelbergkopfes. Darunter schlängelt sich der Gebirgsbach durch ein viel zu groß geratenes Kiesbett - an dicken, hellen Felsbrocken vorbei. Das frische Bergquellwasser glitzert und funkelt im Glanz der Mittagssonne. Und die Adler finden nun das, was sie zum Segeln brauchen: Wärme. Aufsteigende Luft. Thermik.

Hans-Joachim Fünfstück: "Kuchelbergkopf, auf gleicher Höhe nach rechts, kreist ein Jungadler! Also, Kuchelbergkopf ist der Buckel hier, direkt vor uns. Und ungefähr in der Höhe kreist ein Jungadler. Und der andere ist etwas tiefer, gerade am Grat. Und der andere ist höher. Jetzt haben wir ja alle beide! Yippie-yaa-yey! Da hat sich ja das Warten gelohnt."

Stefan Kluth: "Okay, der ist hinten rum, ums Eck."

Hans-Joachim Fünfstück: "Und der andere kreist weiter oben, aber ich sehe ihn nicht mehr. Doch, er kreist immer noch. Jetzt über dem Plateau, über dem rechten Plateau, ein bisschen höher gehen, ich sehe ihn mit bloßem Auge ..."

Stefan Kluth: "Ich seh' gar nix."

Hans-Joachim Fünfstück: "Aber Du weißt, wo ich meine? Hoffe ich zumindest."

Stefan Kluth: "Ja, schon."

Hans-Joachim Fünfstück: "Da isser!"

Ohne seine Schwingen zu bewegen, liegt der Steinadler wie ein Brett am weißblauen Himmel. Mit dem Fernrohr kann ihn Jochen Fünfstück gut über dem felsgrauen Gipfel des Kuchelbergkopfes erkennen:

"Junge Vögel, also Einjährige bis zum dritten Jahr, sind deutlich zu erkennen, indem sie einen weißen Schwanz mit einer schwarzen Endbinde haben und im Flügel mehr oder minder große weiße Flecken; und das restliche Kleingefieder ist allerdings bei einem Jungvogel tief schokoladenbraun! Also nicht Vollmilch, sondern wirklich gescheit bitter; die Altvögel sind eher hellbraun und auch am Kopf sieht man das ganz gut: der Kopf richtig schön goldfarben; daher auch der englische Name Golden Eagle.

Spannweite: 2 Meter die Männchen, 2 Meter 20 bis 25 die Weibchen; dann an den Flügeln: Die äußeren Schwungfedern tief gefingert, wie es so schön heiß, also richtig schön auseinander gespreizt; und damit kann man sie gut im Flugbild erkennen ..."

Rund 50 Steinadlerpaare haben den Himmel über den Bayerischen Alpen unter sich aufgeteilt. Insgesamt dürfte es alpenweit rund 1200 Brutpaare geben. Die Experten gehen davon aus, dass alle für Steinadler geeigneten Reviere in den Alpen auch besetzt sind - mehr geht also nicht, meint der Oberammergauer Wildbiologe Ulrich Wotschikowsky:

"Man muss immer noch gegen das Vorurteil ankämpfen, dass es den Adlern so schlecht geht und dass es so wenig gibt. Wenn man hier bei gutem Wetter unterwegs ist und sich darauf konzentriert, nach oben zu schauen - aber das macht der Mensch meistens nicht, er schaut auf seine Füße, damit er nicht stolpert - dann gibt es eigentlich keine Chance, hier eine ganztägige Wanderung zu machen, ohne Adler zu sehen. Das bedeutet nicht, dass sie dicht vertreten sind, aber eigentlich ist in jedem Tal hier irgendein Adlerpaar zu Hause."

Und für die Jungadler ist das ein schweres Los: Für sie ist einfach kein Platz mehr in den Alpen. Sobald sie halbwegs selbstständig sind, werden sie von den Eltern im Spätsommer aus dem Revier vertrieben.

Eine jahrelange Suche nach einer neuen Heimat beginnt. Hunderte von Kilometern streifen sie täglich durch die Bergwelt der Alpen. Und fast überall sind sie höchst unwillkommen. Vor allem dann, wenn sie in die Reviere ansässiger Paare eindringen, sagt der Ornithologe Stefan Kluth von der Vogelschutzwarte in Partenkirchen:

"Im Frühjahr, während der Balz, also ab Februar, Mitte Februar bis in den März hinein, setzen die sich intensiv auseinander; die Revierpaare müssen natürlich ihr eigenes Revier bestätigen und wollen da brüten, und die äußeren Adler werden also heftigst attackiert. Also, (es gibt) Adler, die in der Luft sich Kralle in Kralle gegenseitig verkrallt hatten und dann im Trudelflug bis auf den Erdboden gefallen sind."

Mitunter enden solche Scharmützel für einen der Streit-Adler tödlich, manchmal auch für beide - viel öfter jedoch für den Nachwuchs, der während dieser Luftkämpfe schutzlos im Horst hockt.

Stefan Kluth: "Also, das beginnt bereits in der Vorbrutphase, vor der Balz, wenn die Steinadler sich ihre konditionellen Reserven für die Brut anfressen müssen, wenn sie da häufig gestört sind, kann es sein, dass sie mit verminderter Kondition in die Brutphase gehen, die Eiablage nicht richtig funktioniert, die Befruchtung nicht funktioniert, während der Bebrütungsphase können Eier auskühlen oder die Jungen aufgrund von mangelnder Fürsorge verhungern, in der Sonne verdörren, weil sie nicht ausreichend Schatten von den Altvögeln gespendet bekommen.

Also, durch diese komplexe Reaktion der Steinadler-Paare auf solche Stör-Adler, auf fremde Adler in ihrem Revier wird eben der Bestand reguliert und der Bruterfolg entsprechend gering sein."

Je mehr Steinadler also umher ziehen, desto weniger Jungvögel haben eine Chance, heranzuwachsen. Die artinterne Geburtenkontrolle der Steinadler funktioniert sehr effizient. Das ist von der Natur so vorgegeben.

Hubschrauber und Gleitschirmflieger am Himmel wirken jedoch ebenso störend. Und das hat die Natur nicht so eingeplant. Daher sieht das "Artenhilfsprogramm Steinadler" in Bayern vor, brütende Adlerpaare zumindest vor Eingriffen durch den Menschen besser zu schützen:

Stefan Kluth: "Wir schließen jetzt einfach mal Störfaktoren aus, die häufig im Gebirge sind. Und da kommen eben zuvorderst die Hubschrauberflüge infrage; und das ist jetzt auch der Punkt, warum dieses 'Artenhilfsprogramm' auch noch weitergeführt wird im Sinne eines Monitoring-Programms.

Da wird eben jedes Jahr festgestellt: Welche Horste sind besetzt? Um diese Horste wird ein Radius von einem Kilometer gezogen; und in diesen Radius dürfen die Hubschrauber-Piloten nicht mehr reinfliegen; wir überwachen das; also da gibt es eine intensive Kommunikation zwischen Bundeswehr, Polizei, Bergwacht, Bundesgrenzschutz und all diesen fliegenden Verbänden, sodass man da ganz intensiv im Austausch ist und das macht schon Sinn."

Inzwischen haben Jochen Fünfstück und Stefan Kluth die Steinadler am Kuchelbach wieder im Fokus ihrer Fernrohre. Das Spektakel am Himmel über Kreuzspitze und Kuchelbergkopf geht weiter.

Stefan Kluth: "Einer direkt über dem Wald, und einer direkt drüber, noch mal - jetzt bin ich mal gespannt, was wir da zu sehen bekommen. Jaa, schöner Gleitflug. Kreisen. Das kann schon sein, dass da irgendwas im Busch ist. Diese Aufkreiserei ist halt auch sehr typisch für die Adler, wenn sie einfach zeigen wollen: Hier bin ich zu Hause!

Wer höher kann, ist der Chef im Land. Und da kann man eigentlich immer davon ausgehen, dass irgendwo was anderes herumfliegt, dem sie da das Signal geben wollen."

Hans-Joachim Fünfstück: "Ooh, jetzt wird es zum Girlandenflug!"

Mit dem spektakulären Girlandenflug signalisieren Steinadler, dass sie ihr Revier gegen jeden Eindringling verteidigen. Sie demonstrieren diese Flugkünste allerdings auch während der Balz.

Hans-Joachim Fünfstück: "Girlandenflug schaut ganz einfach aus: Man fliegt und dann wird der Flügel schnell geschlagen, mit einem steilen Bogen, mehr oder weniger steil nach oben; dann werden die Flügel ganz an den Körper zusammengeklappt, und dann geht's wie ein Tropfen nach unten, am tiefsten Punkt wieder auseinander, wieder rauf, wieder runter, also ein Bogenflug, praktisch. Wobei beim Runterfliegen das immer ausschaut wie ein Tropfen, und da werden auch ganz schöne Geschwindigkeiten erreicht."

Stefan Kluth: "Und es ist auch beim Girlandenflug sehr einfach, die Geschlechter zu unterscheiden, weil die Männchen halt eben sehr steile Bögen fliegen und die Weibchen ganz flache Bögen. Insofern ist da die Geschlechtsunterscheidung auch ganz einfach."

Hans-Joachim Fünfstück: "Da ist es am leichtesten. Wo sind unsere Vögel? Kaum schaut man nicht mehr, sind sie wieder weg!"

Doch diese Absenz wird nicht von Dauer sein. Der König der Lüfte hat den Himmel über den Alpen wieder zurückerobert. Steinadler im Fluge zu bewundern, mag keine Rarität mehr sein - ein Spektakel wird es gleichwohl immer bleiben.
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