Gratwanderung der Wissenschaft

06.07.2009
In der Edition Zweite Moderne im Suhrkamp Verlag kommt mit "Biokapitalismus" der in Kalifornien lehrende Anthropologe Kaushik Sunder Rajan zu Wort. Darin prognostiziert er mit seiner Grundthese, dass sich das Wissen um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms in Ware verwandelt, eine neue Phase des Kapitalismus.
Indem die Lebenswissenschaften mit den Biotech-Firmen sowie den Pharmaziekonzernen Hand in Hand arbeiten, wird das Leben selbst zum "Geschäftskonzept". Der herkömmliche Kapitalismus wächst sich mithilfe von Hype, Genfetischismus und Erlösungsversprechen zum Biokapitalismus aus. – So lautet, vereinfacht, die Diagnose des Anthropologen Kaushik Sunder Rajan, der in Irvine, Kalifornien, lehrt.

Zwischen den USA und Indien pendelnd, auf Konferenzen wie in Laboratorien recherchierend, untersucht Rajan die "biopolitischen" Züge der Globalisierung insbesondere im Blick auf das Verhältnis von Pharmakonzern und Patient. Gelegentlich gelingt es Rajan, persönliche Erlebnisse, gentechnologische Entwicklungen und marxistisch geprägten Überbau zu beunruhigenden Erkenntnissen zu verdichten. Insgesamt jedoch verzettelt er sich in tausend Anliegen. Zudem ist Rajan ein unreifer Stilist, der sich in Ankündigungsorgien, Prunkzitaten und Selbstzusammenfassungen ergeht – anders wäre das Buch recht dünn. Was der Leser verschmerzt hätte.

Die Edition Zweite Moderne im Suhrkamp Verlag erlebt eine Durststrecke. War Roger Silverstones "Mediapolis" wenigstens durch das politisch-moralische Anliegen gerechtfertigt, die Medien als unverzichtbare Ressource vor Verschmutzung zu bewahren, wälzte Saskia Sassen in "Das Paradox des Nationalen" eine richtige These oft empiriefrei durch 700 Seiten: Dass sich Globalisierung in hohem Maße im Rahmen des Nationalen entfaltet. Kaushik Sunder Rajan zermürbt seine Leser kaum weniger. Die überlange Einleitung, die ihre Unausgereiftheit mit raunenden Marx-, Foucault- und Derrida-Zitate zu kompensieren sucht, strotzt vor Absichtserklärungen – um schließlich über den zentralen Begriff ‚Biokapital’ zu resignieren: "Man bekommt ihn theoretisch nie richtig in den Griff."

Dabei hat Rajan eigentlich die Zutaten für ein starkes Buch zusammen. Er kennt die Entwicklung der Genetik, Gentechnologie und gen-orientierten Pharmazie in den USA und in Indien sowohl aus der wissenschaftlichen Literatur als auch durch Expeditionen vor Ort. Er kann klug darüber schreiben, wie das scheinbar gleiche Business durch kulturelle Differenzen im Verständnis des Marktes ein indisches und ein amerikanisches Gesicht bekommt. Zum besten gehört seine Reportage über eine Party der Biotech-Firma Incyte, auf der die Mitarbeiter aggressiv-subtil auf das pseudo-soziale Motto eingeschworen werden: "Wir betreiben Genomforschung für das Leben." Die Scheinheiligkeit der Branche tritt zutage.

Wenn Rajan dann auf den messianischen Charakter der Geschäftemacherei und die theologische Aufladung von biotechnischen Prozessen und Produkten abhebt, werden die "Politiken des Biokapitals" tatsächlich greifbar. Man versteht, dass auch der berühmte Abdruck von Basen-Sequenzen in der "FAZ" anlässlich der Entschlüsselung des Humangenoms im Juni 2000 zu einem Hype gehört, in dem wolkige Verheißungen medizinischen Fortschritts und Wissenschaftsethos dürftige Tarnung von Kapitalinteressen sind.

Pharmaunternehmen agieren laut Rajan wie Investmentbanken – halten sich jedoch Bio-Ethiker, damit die Sache einen humanitären Anstrich erhält. Indem er den Komplott von Wissenschaft und Wirtschaft an Fallbeispielen aufdeckt, erweist sich Rajan als wacher Diagnostiker mit Beunruhigungspotenzial; seine Kritik ist dabei frei von Hysterie.

Doch Rajan, 1974 geboren und überdeutlich von den Theorie-Moden der 90er-Jahre geprägt, gibt sich mit neuen Erkenntnissen zum Komplex Wissenschaft-Medizin-Markt nicht zufrieden. Er inszeniert die empirischen Studien (letztlich/leider) als Bebilderung abstrakter Interessen, die zudem von Kapitel zu Kapitel wechseln. Allzu oft muss Rajan seinen Wankelmut selbst entschuldigen, so, als er den Fachkollegen Michael Fischer zitiert: "Das Leben läuft den Heuristiken, in denen wir ausgebildet wurden, davon."

Der Leser freut sich immer dann, wenn er auf die schönen Inseln der Konsistenz stößt, wo die Wipfel der Gesellschaftstheorie organisch in der Realität wurzeln. Man wünscht sich, dass Rajan sein Wissen künftig in eine Form gießt, die von der unbestreitbaren Verworrenheit der Globalisierung nicht infiziert ist. Der Edition Zweite Moderne würde ein rundum überzeugendes Buch gut tun.

Besprochen von Arno Orzessek

Kaushik Sunder Rajan: Biokapitalismus - Werte im postgenomischen Zeitalter
Suhrkamp Verlag, Edition Zweite Moderne, Frankfurt am Main 2009
gebunden, 303 Seiten; 24,80 Euro