Grandioser Plastilinreichtum
Ein achtjähriges Mädchen, das völlig isoliert in seiner Familie lebt, und ein 44-jähriger sozial inkompatibler Außenseiter beginnen einen Briefaustausch. Der Knetanimationsfilm "Max & Mary" erzählt die Geschichte einer Seelenverwandtschaft.
Das Genre des "Brieffreundschaften-Movies" gibt es nicht. Also erfinde ich es. Jetzt sind es schon zwei herausragende Filme, die zu diesem Genre passen. Bislang galt die amerikanisch-britische Co-Produktion "84, Charing Cross Road" aus dem Jahr 1986, die hierzulande einst nur auf Video unter dem Titel "Zwischen den Zeilen" herauskam, als der Brieffreundschaften-Klassiker. Jetzt, 24 Jahre später, ist das zweite Meisterwerk dieses "spärlichen Genres" zu annoncieren. "Mary & Max oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?" kommt nun immerhin auch in unsere Lichtspielhäuser!
Adam Elliot wurde am 2. Januar 1972 im australischen Victoria als Sohn eines ehemaligen Akrobatik-Clowns und einer Friseurin geboren und wuchs auf einer Krabbenfarm auf. Seine Kindheit verlief "unkonventionell", zum Beispiel zeichnete und bastelte der schüchterne Bengel gerne Pfeifenreinigermännchen. Als er auf der privaten Knabenschule in der Dudelsackband die Basstrommel spielte, verlor er, so schildert es das Presseheft, seine Schüchternheit. In der Oberstufe begeisterte er sich für den Schauspielunterricht. Nach der Schule bemalte er originell T-Shirts und verkaufte sie auf einem kunstgewerblichen Markt.
1996 begann er das Studium der Animation auf dem "Victoria College of the Arts". Vier Kurzfilme entstanden und wurden auf mehr als 500 Filmfestivals weltweit gezeigt. 2003 stellte er die 23-minütige Knetanimation "Harvie Krumpet" vor, mit Geoffrey Rush als Erzähler, die dann den "Oscar" als "Besten Animationskurzfilm" bekam und 2006 vom "Annecy International Animations Festival" in die Liste der "100 weltbesten Animationsfilme" aufgenommen wurde. Der unabhängige Filmemacher Adam Elliot ist der offizielle Schirmherr des "Other Film Festivals", Australiens einzigem Filmfestival für Behinderte.
Animationsfilme sind in. Pixar und Co. ("Toy Story 3"; "Oben"; "Wall-E") feiern Triumphe. Sie werden regelmäßig mit Oscar-Trophäen überhäuft, sind beim Publikum und bei Filmkritikern beliebt. Sie machen viel Sinn, bereiten dabei großes Vergnügen. Doch der Animationsfilm richtet sich in der Regel an ein kindliches Publikum. Es sind gerade die "jungen Motive", die ansprechen, berühren. Der erwachsene Trickfilm beginnt gerade erst, sich "zu emanzipieren", siehe neulich "Waltz with Bashir" oder "Persepolis".
Nachdem Walt Disney vor Jahrzehnten mit seinem erwachsenen Trickfilm "Fantasia" grandios gescheitert war. "Mary & Max" ist solch ein Animationsfilm für Erwachsene. Wenn der als Realfilm konzipiert wäre, müsste man resignieren. Motto: Dermaßen viel Übel und Traurigkeit geballt, wäre schwer zu ertragen. Doch über die Knetanimation funktioniert das menschen-befindliche Spiel ganz vorzüglich.
Wir schreiben das Jahr 1976. Mary ist acht und lebt in einem öden Vorort von Melbourne. Weitgehend isoliert. Wegen ihres Muttermals auf der Stirn und wegen ihrer überdimensionalen Hornbrille wird Mary oft gehänselt. Ein kauziger Hahn ist ihr einziger Freund. Die "Nublets" aus dem Comic-Fernsehen verehrt sie. Ansonsten aber ist Stille und Langeweile für das aufgeweckte Kind angesagt. Ihr Vater ist ein Sonderling und Spinner, der in einer Fabrik aufpasst, dass die kleinen Strippen an die Teebeutel gelangen. Ansonsten zieht er sich meist in seine Hütte zurück. Die Mutter säuft ununterbrochen: Sherry. Und lallt ihrer Tochter schon mal entgegen, dass diese doch ein "Unfall" gewesen sei.
Mary versteht nur Bahnhof, will es aber wissen. An einem dieser trostlosen, einsamen Nachmittage beschließt sie, endlich Antworten zu suchen, zu bekommen. Auf ihre vielen Fragen. Woher zum Beispiel Babys kommen? Sie hat da schon sehr skurrile Vorstellungen. Aus einer zufällig herausgerissenen Telefonbuchseite entdeckt sie die Adresse von Max Jerry Horowitz aus der Hubert Street in New York. Noch in derselben Nacht schreibt sie ihm. Max ist 44 und Außenseiter, mit geringen sozialen Kontakten. Er teilt sein Zimmer mit einem Fisch (gerade "Heinrich, der 4."), Schnecken mit Physiker-Namen, einem Papagei, einem einäugigen Kater. Schokoladen-Hot-Dogs sind seine Lieblingsspeise.
Max hat ein anfälliges Nervenkostüm, ist 1,80 Meter groß, besitzt acht Trainingsanzüge in gleicher Farbe und Größe und wiegt 352 Pfund. Max war U-Bahn-Kontrolleur, Nudelverpacker, F-Drucker für Frisby-Scheiben, Fast-Geschworener bei Gericht, städtischer Mülleinsammler, Lagerverwalter in der Armee und in einer Kondomfabrik. "Menschen verwirren mich oft; finde sie interessant, habe aber Mühe, sie zu verstehen." Der einsame Max leidet am Asperger Syndrom, einer besonderen Art von Autismus. Er bekommt – bei Veränderungen – jedes Mal Panikattacken, spielt regelmäßig Lotto, geht ebenso permanent wie vergebens zu den Weightwatcher-Kursen, um abzunehmen, und gönnt sich ebenso regelmäßig den Besuch beim Psychiater Dr. Bernard Hector Hazelhoff. Auf den Mary-Brief reagiert er erst einmal panisch. Dann beruhigt er sich mit Schoko-Hot-Dogs und antwortet.
Das ist der Beginn einer 22 Jahre dauernden "komischen", kessen, außergewöhnlichen wie grundehrlichen Brieffreundschaft. Mit viel herrlichem, entwaffnendem Naiv-Charme. In Schwarz-Weiss, mit vielen Farbtönen und -tupfern. Je nach, auch räumlichen Stimmungen und Schwankungen. Entsprechend der aktuellen Emotionalität. Man saugt sich förmlich hinein. In dieses merkwürdige, ereignisreiche Knetmenschenleben. Das natürlich an die kauzigen britischen "Wallace & Gromit"-Figuren erinnert und seiner melancholischen Ironie und seelischen Anarchie fein aufblüht. Und auf wundersame, zärtliche Poesie-Weise versteht, Elend nicht nur begreifbar, verständlich zu machen, sondern auch "lustig" auszubreiten, zu erzählen, normal zu vermitteln. Ohne aufgesetzte Empörung.
Ähnlich wie zuletzt die "lebenden Puppen" bei "Toy Story 3" entwickeln die beiden Figuren hier zutiefst menschliche Nähe. Dichte, Emotionen, Anteilnahme, erhebliche Neugier und Faszination. Dabei vereinen sich Bild und Wort auf herrlichste wie herzlichste Weise, erklären diese "verrückte", unmögliche Seelenverwandtschaft zwischen Mary & Max unaufdringlich, sinnlich, behutsam. Schön. Verständlich wie anrührend. Zudem: Pointen werden nicht gesetzt, gesucht, sondern ergeben sich auf bisweilen bitter-schöne, also tragikomische Lebensweise. Kein Denunzieren, kein Spektakel möglich. Ein wunderbar trauriger Spaßfilm! Mit viel melancholischem Lächel-Charme auf hohem Niveau.
Die feine, einfühlsame Stimmenbesetzung dazu: Toni Colette spricht im Original Mary (deutsch: Gundi Eberhard ); Philip Seymour Hoffman den Max (Helmut Krauss); Barry Humphries gibt den Erzähler (auf deutsch genauso charme-hörig: "Tatort"-Kommissar Boris Aljinovic).
Welch ein Filmjuwel! Was für ein grandioser Plastilinreichtum! Was für ein ganz und gar besonderer großartiger Menschenfilm! Mit 132.480 Einzelbildern an 133 verschiedenen Sets: Phantastische Knet-Poesie pur.
Mary & Max - oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?. Australien 2009. Regie: Adam Elliot. Darsteller: (Stimmen) Helmut Krauss, Gundi Eberhard, Sebastian Schulz, Tina Engel, Valentina Bonalana, Boris Aljinovic. FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Filmhomepage
Adam Elliot wurde am 2. Januar 1972 im australischen Victoria als Sohn eines ehemaligen Akrobatik-Clowns und einer Friseurin geboren und wuchs auf einer Krabbenfarm auf. Seine Kindheit verlief "unkonventionell", zum Beispiel zeichnete und bastelte der schüchterne Bengel gerne Pfeifenreinigermännchen. Als er auf der privaten Knabenschule in der Dudelsackband die Basstrommel spielte, verlor er, so schildert es das Presseheft, seine Schüchternheit. In der Oberstufe begeisterte er sich für den Schauspielunterricht. Nach der Schule bemalte er originell T-Shirts und verkaufte sie auf einem kunstgewerblichen Markt.
1996 begann er das Studium der Animation auf dem "Victoria College of the Arts". Vier Kurzfilme entstanden und wurden auf mehr als 500 Filmfestivals weltweit gezeigt. 2003 stellte er die 23-minütige Knetanimation "Harvie Krumpet" vor, mit Geoffrey Rush als Erzähler, die dann den "Oscar" als "Besten Animationskurzfilm" bekam und 2006 vom "Annecy International Animations Festival" in die Liste der "100 weltbesten Animationsfilme" aufgenommen wurde. Der unabhängige Filmemacher Adam Elliot ist der offizielle Schirmherr des "Other Film Festivals", Australiens einzigem Filmfestival für Behinderte.
Animationsfilme sind in. Pixar und Co. ("Toy Story 3"; "Oben"; "Wall-E") feiern Triumphe. Sie werden regelmäßig mit Oscar-Trophäen überhäuft, sind beim Publikum und bei Filmkritikern beliebt. Sie machen viel Sinn, bereiten dabei großes Vergnügen. Doch der Animationsfilm richtet sich in der Regel an ein kindliches Publikum. Es sind gerade die "jungen Motive", die ansprechen, berühren. Der erwachsene Trickfilm beginnt gerade erst, sich "zu emanzipieren", siehe neulich "Waltz with Bashir" oder "Persepolis".
Nachdem Walt Disney vor Jahrzehnten mit seinem erwachsenen Trickfilm "Fantasia" grandios gescheitert war. "Mary & Max" ist solch ein Animationsfilm für Erwachsene. Wenn der als Realfilm konzipiert wäre, müsste man resignieren. Motto: Dermaßen viel Übel und Traurigkeit geballt, wäre schwer zu ertragen. Doch über die Knetanimation funktioniert das menschen-befindliche Spiel ganz vorzüglich.
Wir schreiben das Jahr 1976. Mary ist acht und lebt in einem öden Vorort von Melbourne. Weitgehend isoliert. Wegen ihres Muttermals auf der Stirn und wegen ihrer überdimensionalen Hornbrille wird Mary oft gehänselt. Ein kauziger Hahn ist ihr einziger Freund. Die "Nublets" aus dem Comic-Fernsehen verehrt sie. Ansonsten aber ist Stille und Langeweile für das aufgeweckte Kind angesagt. Ihr Vater ist ein Sonderling und Spinner, der in einer Fabrik aufpasst, dass die kleinen Strippen an die Teebeutel gelangen. Ansonsten zieht er sich meist in seine Hütte zurück. Die Mutter säuft ununterbrochen: Sherry. Und lallt ihrer Tochter schon mal entgegen, dass diese doch ein "Unfall" gewesen sei.
Mary versteht nur Bahnhof, will es aber wissen. An einem dieser trostlosen, einsamen Nachmittage beschließt sie, endlich Antworten zu suchen, zu bekommen. Auf ihre vielen Fragen. Woher zum Beispiel Babys kommen? Sie hat da schon sehr skurrile Vorstellungen. Aus einer zufällig herausgerissenen Telefonbuchseite entdeckt sie die Adresse von Max Jerry Horowitz aus der Hubert Street in New York. Noch in derselben Nacht schreibt sie ihm. Max ist 44 und Außenseiter, mit geringen sozialen Kontakten. Er teilt sein Zimmer mit einem Fisch (gerade "Heinrich, der 4."), Schnecken mit Physiker-Namen, einem Papagei, einem einäugigen Kater. Schokoladen-Hot-Dogs sind seine Lieblingsspeise.
Max hat ein anfälliges Nervenkostüm, ist 1,80 Meter groß, besitzt acht Trainingsanzüge in gleicher Farbe und Größe und wiegt 352 Pfund. Max war U-Bahn-Kontrolleur, Nudelverpacker, F-Drucker für Frisby-Scheiben, Fast-Geschworener bei Gericht, städtischer Mülleinsammler, Lagerverwalter in der Armee und in einer Kondomfabrik. "Menschen verwirren mich oft; finde sie interessant, habe aber Mühe, sie zu verstehen." Der einsame Max leidet am Asperger Syndrom, einer besonderen Art von Autismus. Er bekommt – bei Veränderungen – jedes Mal Panikattacken, spielt regelmäßig Lotto, geht ebenso permanent wie vergebens zu den Weightwatcher-Kursen, um abzunehmen, und gönnt sich ebenso regelmäßig den Besuch beim Psychiater Dr. Bernard Hector Hazelhoff. Auf den Mary-Brief reagiert er erst einmal panisch. Dann beruhigt er sich mit Schoko-Hot-Dogs und antwortet.
Das ist der Beginn einer 22 Jahre dauernden "komischen", kessen, außergewöhnlichen wie grundehrlichen Brieffreundschaft. Mit viel herrlichem, entwaffnendem Naiv-Charme. In Schwarz-Weiss, mit vielen Farbtönen und -tupfern. Je nach, auch räumlichen Stimmungen und Schwankungen. Entsprechend der aktuellen Emotionalität. Man saugt sich förmlich hinein. In dieses merkwürdige, ereignisreiche Knetmenschenleben. Das natürlich an die kauzigen britischen "Wallace & Gromit"-Figuren erinnert und seiner melancholischen Ironie und seelischen Anarchie fein aufblüht. Und auf wundersame, zärtliche Poesie-Weise versteht, Elend nicht nur begreifbar, verständlich zu machen, sondern auch "lustig" auszubreiten, zu erzählen, normal zu vermitteln. Ohne aufgesetzte Empörung.
Ähnlich wie zuletzt die "lebenden Puppen" bei "Toy Story 3" entwickeln die beiden Figuren hier zutiefst menschliche Nähe. Dichte, Emotionen, Anteilnahme, erhebliche Neugier und Faszination. Dabei vereinen sich Bild und Wort auf herrlichste wie herzlichste Weise, erklären diese "verrückte", unmögliche Seelenverwandtschaft zwischen Mary & Max unaufdringlich, sinnlich, behutsam. Schön. Verständlich wie anrührend. Zudem: Pointen werden nicht gesetzt, gesucht, sondern ergeben sich auf bisweilen bitter-schöne, also tragikomische Lebensweise. Kein Denunzieren, kein Spektakel möglich. Ein wunderbar trauriger Spaßfilm! Mit viel melancholischem Lächel-Charme auf hohem Niveau.
Die feine, einfühlsame Stimmenbesetzung dazu: Toni Colette spricht im Original Mary (deutsch: Gundi Eberhard ); Philip Seymour Hoffman den Max (Helmut Krauss); Barry Humphries gibt den Erzähler (auf deutsch genauso charme-hörig: "Tatort"-Kommissar Boris Aljinovic).
Welch ein Filmjuwel! Was für ein grandioser Plastilinreichtum! Was für ein ganz und gar besonderer großartiger Menschenfilm! Mit 132.480 Einzelbildern an 133 verschiedenen Sets: Phantastische Knet-Poesie pur.
Mary & Max - oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?. Australien 2009. Regie: Adam Elliot. Darsteller: (Stimmen) Helmut Krauss, Gundi Eberhard, Sebastian Schulz, Tina Engel, Valentina Bonalana, Boris Aljinovic. FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
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