Graham Swift: "Da sind wir"

Archivar des Alltagslebens

05:13 Minuten
Cover von Graham Swift: "Da sind wir" vor Aquarell-Hintergrund
Wie sein Held Pablo, der Zauberer, arbeitet auch Swift mit doppelten Ebenen, Spiegelungen und illusionistischen Effekten. © Cover: dtv / Collage: Deutschlandradio
Von Maike Albath · 23.04.2020
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Auf der Varieté-Bühne eines britischen Seebades im Sommer 1959 inszeniert Graham Swift eine Dreiecksgeschichte von schwebender Eleganz. Der Kurzroman "Da sind wir" lässt kaum Zweifel an den magischen Qualitäten des Autors.
Wenn er schwungvoll auf die Bühne springt, mit einem Witz die Show eröffnet, schließlich ein Lied schmettert und dann noch einen Stepptanz hinlegt, hat "der flinke Jack" mit der charmanten Schmalzlocke sein Publikum in Brighton Beach schon fast erobert. Im Sommer 1959 ist das Seebad voller Urlauber, und zur Zerstreuung gehen die Gäste abends ins Varieté. Nach wenigen Vorstellungen ist allerdings nicht mehr der Conférencier Jack die größte Nummer. Die größte Nummer der Saison sind Pablo und Eve: Pablo, der Zauberer, und Eve im fischschwanzartigen Paillettenkostüm, auf dem Kopf eine Federboa.
Pablo heißt eigentlich Ronnie. Er und Jack lernten sich beim Militär kennen, und es war der Freund, der die Idee mit der Assistentin hatte. So kam die Revuetänzerin Evie ins Spiel, die ihm jetzt allabendlich als Eve zur Seite steht. Mit ihrer Unterstützung steigern sich Pablos Tricks zu einer atemberaubenden Angelegenheit und berühren die Sphäre der Magie: Es gibt nicht nur die üblichen Gläser, die verschwinden, oder Tauben, die ihm aus den Rockschößen flattern und sich dann in Taschentücher verwandeln.

Schwebende Eleganz

Nein, er zersägt seine betörende Eve, er durchsticht sie unter Angstschreien mit Schwertern, und dennoch klettert sie immer unversehrt aus der kleinen Kiste. Sie zieht Pablo eine schier endlose Kordel aus dem Mund, die das Paar dann wie ein Springseil schwingt, bis daraus unter dem Jubel des Publikums ein riesiger Regenbogen wird. Kein Wunder, dass die beiden nach kurzer Zeit verlobt sind und im September heiraten wollen.
Mit schwebender Eleganz inszeniert Graham Swift, Verfasser von herausragenden Romanen wie "Letzte Runde" oder "Ein Festtag" in seinem neuen Buch "Da sind wir" eine Dreiecksgeschichte, bei der von Anfang an feststeht, dass ausgerechnet der Zauberer ausgestochen wird. Oder doch nicht?

Gib den Leuten, was sie sehen wollen

Swift, Jahrgang 1949, ist ein großartiger Archivar des englischen Alltagslebens und von Tschechow und Isaac Babel ebenso geprägt wie von Ted Hughes oder Kazuo Ishiguro. In seinem perfekt komponierten Kurzroman, der in seiner Zuspitzung beinahe wie eine Novelle wirkt, wendet er sich dieses Mal nicht nur dem kleinbürgerlichen Varietémilieu zu, sondern erzählt zugleich von Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges und von mehreren Arten des Verrats.
Wie sein Held Pablo arbeitet auch Swift mit doppelten Ebenen, Spiegelungen und illusionistischen Effekten. Der Schriftsteller spult die Verwicklungen vom Ende her auf und beginnt mit dem Verschwinden des Zauberers aus Brighton Beach, baut Rückblenden ein und umrahmt das Ganze mit einer Gegenwartsebene, die der 75-jährigen Evie gehört.
Irgendwie scheint die Magie anzuhalten. Als Achtjähriger landete Ronnie während der Evakuierung sämtlicher Kinder aus der Hauptstadt bei einem Ehepaar, für das er der ersehnte Sohn war. Sein Gastvater weihte ihn in die Künste des Metiers ein. Gutes Entertainment? Gib den Leuten, was sie sehen wollen. Aber ein echter Künstler verführt sein Publikum und macht dann, was er will. Der größte Zauberer, daran besteht kein Zweifel, ist Graham Swift selbst.

Graham Swift: "Da sind wir". Roman
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
Dtv, München 2020
159 Seiten, 20 Euro

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