Graffiti auf der Strichliste

Von Peter Frei |
Die Berliner Mauer war als menschenverachtendes Sperrwerk schlimm, schlimmer, am schlimmsten. Als Dauerausstellung von Graffiti aber war sie zumindest interessant, gelegentlich auch schön. Nach der Wende blieb wenig von dieser zeitgenössischen Wandmalerei übrig.
Manche Sammler und Museen haben sich zwar Mauerstücke gesichert; aber vieles wurde zerstört, für das Souvenirgeschäft zerlegt. Das Londoner Kaufhaus Harrods bot damals Portionen von jeweils zwei daumennagelgroßen Mauerstücken an, abgefüllt in rote Samtsäckchen mit goldener Kordel und Garantieurkunde „Original Berliner Mauer“. Die Stücke waren auf einer Seite noch farbig, Spuren zerstückelter Graffitikunst.

Die New Yorker U-Bahnen waren Graffiti auf Rädern bis Bürgermeister Giuliani auf die Bremse trat. Viele, sonst hässliche Hausfassaden, wurden und werden von Graffitisten ansehnlich gemacht. In New York wird gerade an einer Gedenkmauer für Johannes Paul II. mit überlebensgroßen Graffiti gearbeitet. Vergessen möchte ich auch nicht meinen Blumenhändler auf dem Wochenmarkt, der seinen recht langweiligen fahrbaren Verkaufsstand mit Graffitikunst zu einem Schaustück aufgewertet hat.

Und der garstige Betonspargel auf dem Berliner Alexanderplatz, der Fernsehturm, der sogenannte Gegen-Funkturm aus DDR-Zeiten, diese weitreichend nackte Betonhülse von 368 Meter Höhe schreit geradezu nach dem Engagement der besten Graffitikünstler. Ich weiß, mit solchen Vorschlägen eckt man bei vielen Leuten an. Beim Stichwort Graffiti sehen die meisten nur eine Farbe, nämlich Rot.

In Berlin wurde vor kurzem ein Anti-Graffiti-Kongress veranstaltet. Das Bundesinnenministerium sprach von ersten erfolgreichen Hubschraubereinsätzen gegen Graffitisprayer. Eine mehr als Große Koalition scheint sich im Bundestag zu formieren, die mit spezifischen Strafgesetzen Sprayer in die Enge treiben will, wo bisher der Tatbestand der Sachbeschädigung nicht treffsicher genug war.

Diese Sprayer, denen hier die Farbdose aus der Hand geschlagen werden soll, stellen selbst die größte Bedrohung der eigentlichen Graffitikunst dar. Der Kampf ist nämlich jenen Schmierfinken angesagt, die ohne Rücksicht auf Eigentumsrechte und ästhetisches Empfinden ihrer Mitmenschen deren Häuserfassaden verunstalten, am liebsten frisch restaurierte und neu angestrichene.

Keine Ecke ist in Großstädten vor diesen Sprayern sicher. In Berlin sah ich neuerdings Fahrkarten-Automaten der U-Bahn ziemlich zugesprayt. Überhaupt öffentliche Verkehrsmittel: Sitze werden mal eben mit schwarzer Farbe behandelt, und am schlimmsten, die Fensterscheiben mit Diamantschmirgel irreparabel zerkratzt. Denkmäler werden verschandelt, was die Dose hält. Vorsichtshalber sind die Oberflächen der Quader des Holocaust-Gedenkfeldes in Berlin mit einer Schutzschicht präpariert.

Der Schaden, angerichtet von den wilden Sprayern, wird in Deutschland pro Jahr auf 200 bis 300 Millionen Euro geschätzt. Die falschen Freunde dieser Schmuddelei sprechen von manipulierten Zahlen und von spießigen Reaktionen auf ein bisschen Anarchismus aus der Spraydose. Falscher geht es nicht.

Diese Exzesse jenseits der Graffitikunst sind im besten Falle pubertärer Exhibitionismus, meistens leider Auswüchse primitiver Zerstörungswut gerichtet gegen Sachen und Rechte. Hier ist die Gemeinschaft herausgefordert, sich zu wehren. Aber wie?

Die Armierung der Strafgesetze kann hilfreich sein, wenn die Beweislast gegen Sprayer erleichtert wird. Ein höheres Strafmaß hat erfahrungsgemäß nur bedingte Wirkung. Sprayer wollen auch nicht um den Preis einer geringen Strafe erwischt werden. Da verhalten sie sich wie andere Kriminelle. Abschreckend wirkt vor allem die Aussicht, schnell geschnappt zu werden. Das Verfahren ist aufwendig, weil viele Videokameras und viel Personal eingesetzt werden müssen. Am aussichtsreichsten scheint mir bei den vorwiegend noch sehr jungen Tätern eine geduldige Bewusstseinsbildung durch Eltern, Freunde, Schulen, Medien und mobilisierten Gemeinsinn. Am besten wäre es, wenn die Stars der echten Graffitikunst an dieser Front der Kleckser-Hooligans aktiv würden. Unverbesserliche, die sich ihre Einsichtsfähigkeit bereits zugesprayt haben, wie jener kürzlich verurteilte Dreißigjährige in Winsen an der Luhe, müssen dann eben laut Urteil für eineinhalb Jahre hinter Gitter – dort sind die Sprayflächen überschaubar.


Peter Frei, Jahrgang 1934, war zunächst Redakteur bei der NRZ. 1962 ging er zum Deutschlandfunk und 1967 nach Baden-Baden zum SWF. Er war zehn Jahre lang Korrespondent in London, danach in Bonn, von 1991 an Chefredakteur des SWF und von 1993 bis 1998 sein Hörfunkdirektor.