Grabenkriege und Erkenntnislöcher
Seit der Entlarvung des Polizisten Karl-Heinz Kurras als Stasi-Agent, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss, wüten die, die damals dabei waren, in den Feuilletons gegeneinander an.
Für die einen ist die Revolte der 68er nicht der Anfang einer Befreiung, sondern die letzte Zuckung des Totalitarismus, die schließlich auf den Terror der RAF hinauslief. Wenn Kurras in Wahrheit Kommunist war, dann sei allem, was danach folgte, die Grundlage entzogen. Ohne Stasi hätte es nach dem 2. Juni keine Eskalation gegeben, keine breit aufgestellte Studentenbewegung – auch keinen Wahlsieg Willy Brandts.
Für die anderen ist 68 ein Erfolgsprojekt, durch das die verkrustete Republik der Adenauerzeit erst in der Demokratie angekommen sei. Die Kritiker der 68er-Bewegung würden jetzt versuchen, ein altes Feindbild der 50er-Jahre wieder zu beleben, wonach alle Wege einer letztendlich ferngesteuerten Linken nach Ostberlin bzw. Moskau geführt hätten. In Wirklichkeit hätte die Studentenrevolte auch ohne die Ereignisse des 2. Juni stattgefunden.
In der Tat entlud sich damals ein Generationenkonflikt, der in Westberlin besonders eskalierte. Dort traf nach dem Mauerbau eine ältere Generation, die durch Krieg, Hunger und Vertreibung geprägt war, auf ein immer größer werdendes Milieu aus westdeutschen Studenten, Neuberlinern, viele von ihnen Wehrdienstverweigerer. Die brutale Gewalt, die sich von Seiten der Polizei am 2. Juni entlud, war Ausdruck des offenen Hasses gegen die Studenten, die durch ihr demonstratives Anderssein den Lebensentwurf der Kriegsheimkehrer in Frage stellten. Kurras war in diesem Sinne der zugespitzte Ausdruck dieser Generationenkluft. Sie bildete den eigentlichen Nährboden der Revolte – die Schüsse auf Ohnesorg waren allenfalls Katalysator, nicht Ursache der Studentenbewegung. Dies zu ignorieren, führt in der Tat in einen gedanklichen Kurzschluss. Doch das ist nicht das einzige Erkenntnisloch, das sich im Grabenkrieg der ehemaligen Mitstreiter auftut.
Auffällig ist, dass die damaligen Hauptvertreter der Revolte den angeblichen Faschismus Nachkriegs-Deutschlands überwiegend in den staatlichen Strukturen und seinen Institutionen diagnostizierten. Die Auseinandersetzung in der eigenen Familie, mit der Verwicklung der Eltern und Großeltern im Dritten Reich fand kaum statt, sie galt als bedrohlich und war für das Selbstverständnis, wie Rainer Langhans es einmal ausdrückte, selbstmörderisch. Zitat: "Wenn ich meinen Vater auf Grund seiner Schuld hätte liquidieren müssen, hätte ich mich selbst damit vernichtet." Zitatende.
Demgegenüber zeigen die späteren Hauptakteure der gewaltsamen Eskalation einen besonderen familiären Hintergrund. Bei Gudrun Ensslin und Andreas Baader waren beide Väter schon im Dritten Reich überzeugt, dass das NS-Regime ein Unrechtsstaat sei. Vorsichtige Ansätze von Widerspruch oder gar Widerstand blieben aber in den Anfängen stecken. Umso mehr fühlten sich Ensslin und Baader berufen, die Mission der Eltern, die aus ihrer Sicht "nur einen halben Schritt" gemacht hatten, konsequent zu Ende zu führen. Dafür brauchten sie allerdings ein Szenario, das den äußeren Rahmen für diesen Kampf lieferte: einen faschistischen Staat, der mit allen Mitteln bekämpft werden konnte.
Das Festhalten am Bild eines (prä)-faschistischen Staates betraf jedoch nicht nur den späteren harten Kern der RAF. Christian Semler, aber auch Uwe Timm, Martin Walser und andere Wegbegleiter der 68er-Bewegung hielten über Jahre an dieser Sicht der Bundesrepublik fest und verkannten dementsprechend ihr demokratisches Potenzial. War es die von Adorno inspirierte These, dass der Kapitalismus stets zum Faschismus tendiere, die Walser oder Timm dazu brachte, den real existierenden Sozialismus für das humanere Deutschland zu halten? Oder wollte man sich angesichts eines vermeintlich näher rückenden Faschismus nicht den Vorwurf machen lassen, etwas erkannt und nichts getan zu haben?
Hier wären jeweils individuelle Antworten angebracht. Doch die meisten Wortführer der aktuellen Debatte verweigern sich ihnen. Das ist umso bedauerlicher, als die gegenwärtigen ideologischen Schlammschlachten eine tiefere Auseinandersetzung über die inneren Triebkräfte der Revolte, ihre Irrtümer und Segnungen eher zustellen als erhellen. Erst mit der rückhaltlosen Rechenschaft der damaligen Anführer und Begleiter der 68er-Bewegung wird es einen Grund geben, die Geschichte der studentischen Revolte neu zu schreiben.
Andres Veiel, geboren 1959 in Stuttgart, gilt als einer der renommiertesten deutschen Dokumentarfilm-Regisseure. Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Black Box BRD", "Die Spielwütigen" und das Theaterstück "Der Kick", das er zusammen mit Gesine Schmidt schrieb. Veiel wurde für seine Filme vielfach ausgezeichnet. Jüngstes Projekt ist ein Spielfilm über Bernward Vesper und Gudrun Ensslin mit dem Titel "Aus dem Schatten".
Für die anderen ist 68 ein Erfolgsprojekt, durch das die verkrustete Republik der Adenauerzeit erst in der Demokratie angekommen sei. Die Kritiker der 68er-Bewegung würden jetzt versuchen, ein altes Feindbild der 50er-Jahre wieder zu beleben, wonach alle Wege einer letztendlich ferngesteuerten Linken nach Ostberlin bzw. Moskau geführt hätten. In Wirklichkeit hätte die Studentenrevolte auch ohne die Ereignisse des 2. Juni stattgefunden.
In der Tat entlud sich damals ein Generationenkonflikt, der in Westberlin besonders eskalierte. Dort traf nach dem Mauerbau eine ältere Generation, die durch Krieg, Hunger und Vertreibung geprägt war, auf ein immer größer werdendes Milieu aus westdeutschen Studenten, Neuberlinern, viele von ihnen Wehrdienstverweigerer. Die brutale Gewalt, die sich von Seiten der Polizei am 2. Juni entlud, war Ausdruck des offenen Hasses gegen die Studenten, die durch ihr demonstratives Anderssein den Lebensentwurf der Kriegsheimkehrer in Frage stellten. Kurras war in diesem Sinne der zugespitzte Ausdruck dieser Generationenkluft. Sie bildete den eigentlichen Nährboden der Revolte – die Schüsse auf Ohnesorg waren allenfalls Katalysator, nicht Ursache der Studentenbewegung. Dies zu ignorieren, führt in der Tat in einen gedanklichen Kurzschluss. Doch das ist nicht das einzige Erkenntnisloch, das sich im Grabenkrieg der ehemaligen Mitstreiter auftut.
Auffällig ist, dass die damaligen Hauptvertreter der Revolte den angeblichen Faschismus Nachkriegs-Deutschlands überwiegend in den staatlichen Strukturen und seinen Institutionen diagnostizierten. Die Auseinandersetzung in der eigenen Familie, mit der Verwicklung der Eltern und Großeltern im Dritten Reich fand kaum statt, sie galt als bedrohlich und war für das Selbstverständnis, wie Rainer Langhans es einmal ausdrückte, selbstmörderisch. Zitat: "Wenn ich meinen Vater auf Grund seiner Schuld hätte liquidieren müssen, hätte ich mich selbst damit vernichtet." Zitatende.
Demgegenüber zeigen die späteren Hauptakteure der gewaltsamen Eskalation einen besonderen familiären Hintergrund. Bei Gudrun Ensslin und Andreas Baader waren beide Väter schon im Dritten Reich überzeugt, dass das NS-Regime ein Unrechtsstaat sei. Vorsichtige Ansätze von Widerspruch oder gar Widerstand blieben aber in den Anfängen stecken. Umso mehr fühlten sich Ensslin und Baader berufen, die Mission der Eltern, die aus ihrer Sicht "nur einen halben Schritt" gemacht hatten, konsequent zu Ende zu führen. Dafür brauchten sie allerdings ein Szenario, das den äußeren Rahmen für diesen Kampf lieferte: einen faschistischen Staat, der mit allen Mitteln bekämpft werden konnte.
Das Festhalten am Bild eines (prä)-faschistischen Staates betraf jedoch nicht nur den späteren harten Kern der RAF. Christian Semler, aber auch Uwe Timm, Martin Walser und andere Wegbegleiter der 68er-Bewegung hielten über Jahre an dieser Sicht der Bundesrepublik fest und verkannten dementsprechend ihr demokratisches Potenzial. War es die von Adorno inspirierte These, dass der Kapitalismus stets zum Faschismus tendiere, die Walser oder Timm dazu brachte, den real existierenden Sozialismus für das humanere Deutschland zu halten? Oder wollte man sich angesichts eines vermeintlich näher rückenden Faschismus nicht den Vorwurf machen lassen, etwas erkannt und nichts getan zu haben?
Hier wären jeweils individuelle Antworten angebracht. Doch die meisten Wortführer der aktuellen Debatte verweigern sich ihnen. Das ist umso bedauerlicher, als die gegenwärtigen ideologischen Schlammschlachten eine tiefere Auseinandersetzung über die inneren Triebkräfte der Revolte, ihre Irrtümer und Segnungen eher zustellen als erhellen. Erst mit der rückhaltlosen Rechenschaft der damaligen Anführer und Begleiter der 68er-Bewegung wird es einen Grund geben, die Geschichte der studentischen Revolte neu zu schreiben.
Andres Veiel, geboren 1959 in Stuttgart, gilt als einer der renommiertesten deutschen Dokumentarfilm-Regisseure. Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Black Box BRD", "Die Spielwütigen" und das Theaterstück "Der Kick", das er zusammen mit Gesine Schmidt schrieb. Veiel wurde für seine Filme vielfach ausgezeichnet. Jüngstes Projekt ist ein Spielfilm über Bernward Vesper und Gudrun Ensslin mit dem Titel "Aus dem Schatten".

Andres Veiel© Wilfried Böing