Gottverlassenes Kaff wird reich
Die Kleinstadt in North Dakota war ein verschlafener Ort mit Farmen und Viehweiden - jetzt sprudelt in Williston Öl. Das Städtchen wird überrannt von Glücksrittern und Ölfirmen: Das Fracking Fieber grassiert. Die Einwohner fühlen sich durch die Abenteurer etwas bedroht.
Seit sich in den USA das Fracking-Fieber ausbreitet, wimmelt es in der Kleinstadt Williston von Neulingen. Trotz aller guten Geschäfte fühlen sich viele Alteingesessene bedrängt. Der Sheriff kommt bei der Verbrechensbekämpfung kaum hinterher, ein evangelischer Pfarrer macht seine Kirche zur Herberge, weil Williston zwar Arbeitsplätze ohne Ende anbietet, aber keine Unterkünfte.
Pastor Jay Reinke schlägt sein Gebetbuch auf und stimmt voller Inbrunst ein Weihnachtslied an. Weihnachten ist zwar schon lange vorbei, aber nur mit einer bekannten Melodie hat der Pastor noch eine kleine Chance, knapp 40 müde Männer mitzureißen: Die meisten stimmen brummelnd ein, ihre Augen ganz klein im grellen Neonlicht. Es ist schon nach 22 Uhr und nach einem langen Arbeitstag wollen die Männer nur eins: Schlafen.
Wo Pastor Reinke sonst die Messe liest, stehen jetzt ordentlich aufgereiht dunkelgrüne Feldbetten. Wer in Williston keine Unterkunft für die Nacht findet, kommt hierher, in die kleine evangelische Kirche im Ortskern. Der Pastor öffnet bereitwillig die Tür, aber ganz umsonst gibt es den Schlafplatz nicht: Die Männer müssen noch ein bisschen Sonntagsschule durchstehen: "Wer weiß, was die Fastenzeit ist?" Sie lassen es stoisch über sich ergehen, bis sie entlassen sind und endlich die Decke über den Kopf ziehen dürfen. Wieder ist ein Tag vorbei in der Kleinstadt Williston, mitten in der endlosen Prärie des Bundesstaats North Dakota.
Fracking lässt Öl sprudeln
Was noch vor wenigen Jahren ein verschlafenes Kaff war, ist heute das Epizentrum des größten Öl-Booms in der jüngeren US-Geschichte. Dank Fracking sprudelt das Öl aus dem Boden und Williston wird überrannt von modernen Goldsuchern, die hier schnelles Geld machen wollen – auf den Ölfeldern oder in den überfüllten Hotels und Restaurants des Städtchens: In der kleinen Kirche von Pastor Reinke riecht es nach Fastfood und Schweißfüßen. Neben der Eingangstür liegt ein Berg von Schuhen: Bauarbeiterstiefel, Turnschuhe, ein Paar knallgrüne Cowboyboots. Die Männer, denen sie gehören, kamen aus allen Teilen der USA hier her und sind eine ziemlich wilde Mischung:
Da ist Zachary Ray aus Montana – zotteliger Bart, Hippiemähne – der in wenigen Wochen genug Geld verdienen will, um vier Monate lang durch Rumänien zu wandern, James Frimpong, Anfang 50, ein sanfter schwarzer Riese, der vorher als Koch in Mississippi arbeitete. Er erzählt, dass er eine Zeitlang in Deutschland gelebt hat und zusammen mit Jimmy Hartwig Fußball spielte. Da ist John Kentworthy aus Chicago, ein 23-jähriges blondes Riesenbaby.
Kentworthy kam im vergangenen November mit dem Greyhoundbus nach Williston, in der Tasche 100 Dollar und große Träume. Er hatte gehört, dass es hier Jobs gibt für ungelernte Arbeiter wie ihn. Mittlerweile verdient er als Hilfskraft bei einer Ölfirma bis zu 8.000 Dollar im Monat – umgerechnet gut 6.000 Euro. Facharbeiter können sogar noch viel mehr Geld machen: Clyde Taylor – 40, sonnengegerbte Haut, Tattoos, Knast-Erfahrung - ist Verschalungs-Experte und hat gerade einen Job angefangen, in dem er fast 200.000 Dollar im Jahr verdienen wird.
Taylor hat Frau und Kinder zuhause in Texas zurückgelassen, findet Williston fürchterlich und sagt: In acht Monaten habe ich zuhause ein fertig abbezahltes Haus stehen, und dann bin ich hier wieder weg. Warum schläft einer, der 200.000 Dollar im Jahr verdient, beim barmherzigen Pastor in der Kirche?
"Weil es hier keine Unterkünfte gibt. Na ja, es gibt schon welche, aber wer will schon 5.000 Dollar im Monat für ein kleines Apartment zahlen?"
Clyde Taylor jedenfalls nicht.
5.000 Dollar – das ist zwar etwas übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen: Im Präriekaff Williston sind die Mieten heute teilweise so hoch wie in manchem Szene-Viertel in New York oder Los Angeles. Für die Jahresmiete, die man für ein Apartment zahlt, konnte man sich vor dem Boom fast ein kleines Haus kaufen.
Im Café "Megalatte" stehen die beiden großen silbernen Kaffeemaschinen selten still. Seit die 27-jährige Megan Wold vor gut einem Jahr ihr Geschäft eröffnete, kommt ein steter Strom von Kunden, viele davon Neuankömmlinge in Williston, die sich mit einem doppelten oder dreifachen Espresso für ihre langen Schichten auf den Ölfeldern fit machen.
Megan Wold: "Als ich aufwuchs, war Williston ein kleiner Ort. Wenn man einkaufen ging, kannte man fast jeden, den man traf. Das ist heute natürlich anders, wo so viele Leute aus allen Teilen des Landes hier sind."
Williston ist in den letzten fünf Jahren förmlich explodiert: Statt 12.000 wohnen hier jetzt 35.000 bis 40.000 Menschen. Und darin sind die vielen Tausend noch gar nicht eingerechnet, die in sogenannten "Man Camps" außerhalb der Stadt leben – schnell hochgezogenen Containersiedlungen, wo die Ölfirmen billig ihre Arbeiter unterbringen.
Die Cafébesitzerin Megan sagt, der Boom habe schon sein Gutes: Ohne ihn hätte sie nie die Chance gehabt, ihren Laden zu eröffnen und als Kleinunternehmerin erfolgreich zu sein. Aber sie sieht auch die Schattenseiten, zum Beispiel das Gefühl der Unsicherheit, das die Anwesenheit von so vielen Fremden in den Ort gebracht hat. Als Megan ein Kind war, streiften sie und ihre Freundinnen immer alleine durch Williston. Das würde sie ihrer kleinen Tochter nie erlauben:
"Ich hoffe, wir müssen uns bald keine Gedanken mehr darüber machen, ob wir unsere Kinder alleine draußen spielen lassen können. Seit dem Boom ist es mehr als einmal passiert, dass fremde Kinder angesprochen haben und sie mitnehmen wollten. Ich würde zurzeit keinem Kind raten, alleine unterwegs sein."
Auch sie selbst fühlt sich angesichts der vielen fremden Männer im Ort manchmal unwohl:
"Ich gehe nicht mehr mit meinen Freundinnen in die Kneipe. Der Männerüberschuss ist einfach unglaublich und das macht mir etwas Angst. Wenn man ausgeht, ist man von so wahnsinnig vielen Männern umgeben."
Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber die Alteingesessenen wie Megan schätzen, dass in Williston momentan auf eine Frau 80 Männer kommen.
Jede Frau wird begutachtet
Das "JDubs" im Süden von Williston ist eine typische Land-Kneipe mit Holzvertäfelung und Country-Band. An diesem Mittwochabend ist sie gut besucht. Der Großteil des Publikums ist männlich, jede Frau, die durch die Tür kommt, wird intensiv von oben bis unten gemustert. Aber die Stimmung ist überhaupt nicht aggressiv, das Schlimmste, was einem hier passieren kann, ist wohl eine blöde Anmache. In manchen Ecken von Williston sieht das ganz anders aus.
Scott Bushing, ein knorriger Typ mit großem Schnauzbart und dickem Geländewagen, zeigt die South Main Street entlang. Der 60-Jährige ist der Sheriff von Williston und spricht eine Warnung aus:
"Bloß nicht in eine von diesen Bars gehen – ich würd’s auch nicht tun. Die Türsteher sind bewaffnet und selbst halbe Verbrecher."
Seit dem Boom haben er und seine Leute viel mehr zu tun als früher.
Die Ölarbeiter mit ihrem locker sitzenden Geld ziehen eine unerwünschte Klientel an: Stripperinnen, die hier in Williston teilweise mehr verdienen als in Las Vegas, Prostituierte, Drogenhändler. Scott Bushing war schon zehn Jahre lang Sheriff, als der Öl-Boom 2008 losging, seitdem rüstet er ständig Personal nach. 62 Beamte hat er mittlerweile, mehr als doppelt so viele wie vor ein paar Jahren, und kommt trotzdem kaum hinterher.
"Letztes Wochenende hatten wir zwei Morde, zwei Selbstmorde und einen tödlichen Autounfall, dazu noch eine Schießerei ohne Verletzte. Das ist einfach nicht normal."
Beide Morde wurden von betrunkenen Ölarbeitern begangen. Der eine erstach in einem "Man Camp" einen Kollegen, der andere erschoss in einer Bar einen zweifachen Familienvater aus Williston. Der Boom hat das Leben hier radikal verändert – im Großen wie im Kleinen. Sheriff Bushing flucht, denn er hat vor lauter Reden nicht aufgepasst und eine seiner Grundregeln missachtet: Nie versuchen, auf Willistons Hauptstraße links abzubiegen, wo es keine Ampel gibt. Der ständige dichte Verkehr macht das praktisch unmöglich.
Stoßstange an Stoßstange rollen Autos und vor allem Lastwagen durch den Ort, der sein Gesicht beinahe täglich verändert, aber trotzdem immer gleich seelenlos bleibt. Wo vor wenigen Jahren noch Farmen und Viehweiden waren, sieht man jetzt Tankstellen, billig hochgezogene Container-Wohnanlagen, und "nodding donkeys" - nickende Esel - die auf- und abschwingenden Arme der Bohrtürme.
Supermärkte leergekauft
North Dakota hat die niedrigste Arbeitslosenquote aller US-Bundesstaaten, in Williston herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Läden wie Walmart oder McDonalds zahlen unglaubliche 17 Dollar die Stunde und suchen trotzdem oft wochenlang nach Mitarbeitern. Der Lebensmitteleinkauf wird regelmäßig zum Ärgernis, weil die Regale in den wenigen Supermärkten oft leer gekauft sind, vor den Fastfood-Restaurants bilden sich lange Autoschlangen, regelmäßig fällt der Strom aus, weil das Netz chronisch überlastet ist.
Jene Einheimischen, die vom Ölrausch profitieren, weil sie die Bohrrechte unter ihrem Grundstück für teures Geld verkaufen konnten, nehmen die Veränderungen als notwendiges Übel hin. Aber viele andere kommen nur schwer damit klar, sagt Pastor Reinke:
"Die Menschen haben ein ganz tiefes Gefühl von Verlust. Hier köchelt ein Schnellkochtopf voll mit Trauer, die nicht wirklich erkannt wird."
Manche Alteingesessene haben es nicht mehr ausgehalten an diesem Ort, den sie nicht mehr wiedererkennen und sind weggezogen. Viele von denen, die geblieben sind, lassen die Neuankömmling spüren, dass sie unerwünscht sind, erzählt der Ölarbeiter John Kentworthy aus Pastor Reinkes Kirche:
"Man hat mir mitten ins Gesicht gesagt, dass man uns nicht hier haben will. Sie tun so als wäre es unsere Schuld, dass die Kriminalität und die Preise angestiegen sind – aber wir sind doch nur hier, weil wir Arbeit haben wollen. Das sind einfach engstirnige Landeier, die vorher nie Stadtleben kannten."
Die Menschen in Williston sind gebrannte Kinder: Sie haben schlechte Erinnerungen an den letzten Öl-Boom Ende der 70er Jahre. Damals fielen die großen Firmen für wenige Jahre in Williston ein, beuteten die Ölfelder aus und verschwanden wieder. Zurück blieb eine kaputte Gemeinde. Diesmal soll das anders werden, sagt Sheriff Bushing: Die Leute sollen bleiben.
"Williston soll ein netter Ort werden, damit die Arbeiter aus Idaho, Michigan oder Ohio ihre Familien hierhin holen wollen. Dazu brauchen wir bezahlbaren Wohnraum und dann haben wir irgendwann Frauen und Kinder hier und eine richtige Gemeinschaft. Solange das nicht passiert, bleiben wir ein dreckiges, schäbiges Öl-Städtchen."
Bezahlbarer Wohnraum - da kommt Gary Fendich ins Spiel: Der 32-jährige Bauunternehmer sitzt in seinem riesigen weißen Cadillac-Pickup-Truck, spielt mit seiner goldenen Rolex und schaut durch seine Gucci-Sonnenbrille stolz auf eine Baustelle am Stadtrand von Williston. 412 Wohneinheiten sollen hier in den nächsten Monaten entstehen: Alles Reihenhäuser und Einfamilienhäuser. Die meisten davon werden um die 200.000 Dollar kosten, umgerechnet gut 150.000 Euro. Was Fendich anbietet, ist Massenware, in etwa zweieinhalb Monaten im Akkord hochgezogen von mexikanischen Arbeitern. Fendich, der Sohn von Einwanderern aus der Ukraine, ist mit dem Immobilienboom in Kalifornien reich geworden und will hier in Williston noch mehr Geld machen.
Die Energie in der Stadt erinnert ihn an Kalifornien im Jahr 2006 – jeder ist dabei, irgendetwas aufzuziehen. Die Behörden in Williston versuchen, den Bauboom unter Kontrolle zu halten, erteilen Baugenehmigungen nicht mehr im Schnellverfahren. Sie wollen verhindern, dass riesige Geistersiedlungen zurückbleiben, wenn der Boom vorbei ist und die Ölfirmen und ihre Arbeiter, die Hotelbetreiber und ihre Angestellten wieder abziehen. Wann das sein wird, kann niemand so genau sagen: In zehn Jahren, in 15 Jahren?
Pastor Jay Reinke hofft inständig, dass seine Kirche nicht so lange als Notherberge herhalten muss. Aber bis es soweit ist, dass alle in Williston eine Unterkunft haben, wird er für jeden Neuankömmling seine kleine Rede halten:
"Du bist ein Geschenk, für uns und für Williston – Willkommen in North Dakota!"
Manche fangen dann an zu weinen, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass sich irgendjemand in diesem gottverlassenen Kaff freut, dass sie da sind.
Pastor Jay Reinke schlägt sein Gebetbuch auf und stimmt voller Inbrunst ein Weihnachtslied an. Weihnachten ist zwar schon lange vorbei, aber nur mit einer bekannten Melodie hat der Pastor noch eine kleine Chance, knapp 40 müde Männer mitzureißen: Die meisten stimmen brummelnd ein, ihre Augen ganz klein im grellen Neonlicht. Es ist schon nach 22 Uhr und nach einem langen Arbeitstag wollen die Männer nur eins: Schlafen.
Wo Pastor Reinke sonst die Messe liest, stehen jetzt ordentlich aufgereiht dunkelgrüne Feldbetten. Wer in Williston keine Unterkunft für die Nacht findet, kommt hierher, in die kleine evangelische Kirche im Ortskern. Der Pastor öffnet bereitwillig die Tür, aber ganz umsonst gibt es den Schlafplatz nicht: Die Männer müssen noch ein bisschen Sonntagsschule durchstehen: "Wer weiß, was die Fastenzeit ist?" Sie lassen es stoisch über sich ergehen, bis sie entlassen sind und endlich die Decke über den Kopf ziehen dürfen. Wieder ist ein Tag vorbei in der Kleinstadt Williston, mitten in der endlosen Prärie des Bundesstaats North Dakota.
Fracking lässt Öl sprudeln
Was noch vor wenigen Jahren ein verschlafenes Kaff war, ist heute das Epizentrum des größten Öl-Booms in der jüngeren US-Geschichte. Dank Fracking sprudelt das Öl aus dem Boden und Williston wird überrannt von modernen Goldsuchern, die hier schnelles Geld machen wollen – auf den Ölfeldern oder in den überfüllten Hotels und Restaurants des Städtchens: In der kleinen Kirche von Pastor Reinke riecht es nach Fastfood und Schweißfüßen. Neben der Eingangstür liegt ein Berg von Schuhen: Bauarbeiterstiefel, Turnschuhe, ein Paar knallgrüne Cowboyboots. Die Männer, denen sie gehören, kamen aus allen Teilen der USA hier her und sind eine ziemlich wilde Mischung:
Da ist Zachary Ray aus Montana – zotteliger Bart, Hippiemähne – der in wenigen Wochen genug Geld verdienen will, um vier Monate lang durch Rumänien zu wandern, James Frimpong, Anfang 50, ein sanfter schwarzer Riese, der vorher als Koch in Mississippi arbeitete. Er erzählt, dass er eine Zeitlang in Deutschland gelebt hat und zusammen mit Jimmy Hartwig Fußball spielte. Da ist John Kentworthy aus Chicago, ein 23-jähriges blondes Riesenbaby.
Kentworthy kam im vergangenen November mit dem Greyhoundbus nach Williston, in der Tasche 100 Dollar und große Träume. Er hatte gehört, dass es hier Jobs gibt für ungelernte Arbeiter wie ihn. Mittlerweile verdient er als Hilfskraft bei einer Ölfirma bis zu 8.000 Dollar im Monat – umgerechnet gut 6.000 Euro. Facharbeiter können sogar noch viel mehr Geld machen: Clyde Taylor – 40, sonnengegerbte Haut, Tattoos, Knast-Erfahrung - ist Verschalungs-Experte und hat gerade einen Job angefangen, in dem er fast 200.000 Dollar im Jahr verdienen wird.
Taylor hat Frau und Kinder zuhause in Texas zurückgelassen, findet Williston fürchterlich und sagt: In acht Monaten habe ich zuhause ein fertig abbezahltes Haus stehen, und dann bin ich hier wieder weg. Warum schläft einer, der 200.000 Dollar im Jahr verdient, beim barmherzigen Pastor in der Kirche?
"Weil es hier keine Unterkünfte gibt. Na ja, es gibt schon welche, aber wer will schon 5.000 Dollar im Monat für ein kleines Apartment zahlen?"
Clyde Taylor jedenfalls nicht.
5.000 Dollar – das ist zwar etwas übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen: Im Präriekaff Williston sind die Mieten heute teilweise so hoch wie in manchem Szene-Viertel in New York oder Los Angeles. Für die Jahresmiete, die man für ein Apartment zahlt, konnte man sich vor dem Boom fast ein kleines Haus kaufen.
Im Café "Megalatte" stehen die beiden großen silbernen Kaffeemaschinen selten still. Seit die 27-jährige Megan Wold vor gut einem Jahr ihr Geschäft eröffnete, kommt ein steter Strom von Kunden, viele davon Neuankömmlinge in Williston, die sich mit einem doppelten oder dreifachen Espresso für ihre langen Schichten auf den Ölfeldern fit machen.
Megan Wold: "Als ich aufwuchs, war Williston ein kleiner Ort. Wenn man einkaufen ging, kannte man fast jeden, den man traf. Das ist heute natürlich anders, wo so viele Leute aus allen Teilen des Landes hier sind."
Williston ist in den letzten fünf Jahren förmlich explodiert: Statt 12.000 wohnen hier jetzt 35.000 bis 40.000 Menschen. Und darin sind die vielen Tausend noch gar nicht eingerechnet, die in sogenannten "Man Camps" außerhalb der Stadt leben – schnell hochgezogenen Containersiedlungen, wo die Ölfirmen billig ihre Arbeiter unterbringen.
Die Cafébesitzerin Megan sagt, der Boom habe schon sein Gutes: Ohne ihn hätte sie nie die Chance gehabt, ihren Laden zu eröffnen und als Kleinunternehmerin erfolgreich zu sein. Aber sie sieht auch die Schattenseiten, zum Beispiel das Gefühl der Unsicherheit, das die Anwesenheit von so vielen Fremden in den Ort gebracht hat. Als Megan ein Kind war, streiften sie und ihre Freundinnen immer alleine durch Williston. Das würde sie ihrer kleinen Tochter nie erlauben:
"Ich hoffe, wir müssen uns bald keine Gedanken mehr darüber machen, ob wir unsere Kinder alleine draußen spielen lassen können. Seit dem Boom ist es mehr als einmal passiert, dass fremde Kinder angesprochen haben und sie mitnehmen wollten. Ich würde zurzeit keinem Kind raten, alleine unterwegs sein."
Auch sie selbst fühlt sich angesichts der vielen fremden Männer im Ort manchmal unwohl:
"Ich gehe nicht mehr mit meinen Freundinnen in die Kneipe. Der Männerüberschuss ist einfach unglaublich und das macht mir etwas Angst. Wenn man ausgeht, ist man von so wahnsinnig vielen Männern umgeben."
Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber die Alteingesessenen wie Megan schätzen, dass in Williston momentan auf eine Frau 80 Männer kommen.
Jede Frau wird begutachtet
Das "JDubs" im Süden von Williston ist eine typische Land-Kneipe mit Holzvertäfelung und Country-Band. An diesem Mittwochabend ist sie gut besucht. Der Großteil des Publikums ist männlich, jede Frau, die durch die Tür kommt, wird intensiv von oben bis unten gemustert. Aber die Stimmung ist überhaupt nicht aggressiv, das Schlimmste, was einem hier passieren kann, ist wohl eine blöde Anmache. In manchen Ecken von Williston sieht das ganz anders aus.
Scott Bushing, ein knorriger Typ mit großem Schnauzbart und dickem Geländewagen, zeigt die South Main Street entlang. Der 60-Jährige ist der Sheriff von Williston und spricht eine Warnung aus:
"Bloß nicht in eine von diesen Bars gehen – ich würd’s auch nicht tun. Die Türsteher sind bewaffnet und selbst halbe Verbrecher."
Seit dem Boom haben er und seine Leute viel mehr zu tun als früher.
Die Ölarbeiter mit ihrem locker sitzenden Geld ziehen eine unerwünschte Klientel an: Stripperinnen, die hier in Williston teilweise mehr verdienen als in Las Vegas, Prostituierte, Drogenhändler. Scott Bushing war schon zehn Jahre lang Sheriff, als der Öl-Boom 2008 losging, seitdem rüstet er ständig Personal nach. 62 Beamte hat er mittlerweile, mehr als doppelt so viele wie vor ein paar Jahren, und kommt trotzdem kaum hinterher.
"Letztes Wochenende hatten wir zwei Morde, zwei Selbstmorde und einen tödlichen Autounfall, dazu noch eine Schießerei ohne Verletzte. Das ist einfach nicht normal."
Beide Morde wurden von betrunkenen Ölarbeitern begangen. Der eine erstach in einem "Man Camp" einen Kollegen, der andere erschoss in einer Bar einen zweifachen Familienvater aus Williston. Der Boom hat das Leben hier radikal verändert – im Großen wie im Kleinen. Sheriff Bushing flucht, denn er hat vor lauter Reden nicht aufgepasst und eine seiner Grundregeln missachtet: Nie versuchen, auf Willistons Hauptstraße links abzubiegen, wo es keine Ampel gibt. Der ständige dichte Verkehr macht das praktisch unmöglich.
Stoßstange an Stoßstange rollen Autos und vor allem Lastwagen durch den Ort, der sein Gesicht beinahe täglich verändert, aber trotzdem immer gleich seelenlos bleibt. Wo vor wenigen Jahren noch Farmen und Viehweiden waren, sieht man jetzt Tankstellen, billig hochgezogene Container-Wohnanlagen, und "nodding donkeys" - nickende Esel - die auf- und abschwingenden Arme der Bohrtürme.
Supermärkte leergekauft
North Dakota hat die niedrigste Arbeitslosenquote aller US-Bundesstaaten, in Williston herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Läden wie Walmart oder McDonalds zahlen unglaubliche 17 Dollar die Stunde und suchen trotzdem oft wochenlang nach Mitarbeitern. Der Lebensmitteleinkauf wird regelmäßig zum Ärgernis, weil die Regale in den wenigen Supermärkten oft leer gekauft sind, vor den Fastfood-Restaurants bilden sich lange Autoschlangen, regelmäßig fällt der Strom aus, weil das Netz chronisch überlastet ist.
Jene Einheimischen, die vom Ölrausch profitieren, weil sie die Bohrrechte unter ihrem Grundstück für teures Geld verkaufen konnten, nehmen die Veränderungen als notwendiges Übel hin. Aber viele andere kommen nur schwer damit klar, sagt Pastor Reinke:
"Die Menschen haben ein ganz tiefes Gefühl von Verlust. Hier köchelt ein Schnellkochtopf voll mit Trauer, die nicht wirklich erkannt wird."
Manche Alteingesessene haben es nicht mehr ausgehalten an diesem Ort, den sie nicht mehr wiedererkennen und sind weggezogen. Viele von denen, die geblieben sind, lassen die Neuankömmling spüren, dass sie unerwünscht sind, erzählt der Ölarbeiter John Kentworthy aus Pastor Reinkes Kirche:
"Man hat mir mitten ins Gesicht gesagt, dass man uns nicht hier haben will. Sie tun so als wäre es unsere Schuld, dass die Kriminalität und die Preise angestiegen sind – aber wir sind doch nur hier, weil wir Arbeit haben wollen. Das sind einfach engstirnige Landeier, die vorher nie Stadtleben kannten."
Die Menschen in Williston sind gebrannte Kinder: Sie haben schlechte Erinnerungen an den letzten Öl-Boom Ende der 70er Jahre. Damals fielen die großen Firmen für wenige Jahre in Williston ein, beuteten die Ölfelder aus und verschwanden wieder. Zurück blieb eine kaputte Gemeinde. Diesmal soll das anders werden, sagt Sheriff Bushing: Die Leute sollen bleiben.
"Williston soll ein netter Ort werden, damit die Arbeiter aus Idaho, Michigan oder Ohio ihre Familien hierhin holen wollen. Dazu brauchen wir bezahlbaren Wohnraum und dann haben wir irgendwann Frauen und Kinder hier und eine richtige Gemeinschaft. Solange das nicht passiert, bleiben wir ein dreckiges, schäbiges Öl-Städtchen."
Bezahlbarer Wohnraum - da kommt Gary Fendich ins Spiel: Der 32-jährige Bauunternehmer sitzt in seinem riesigen weißen Cadillac-Pickup-Truck, spielt mit seiner goldenen Rolex und schaut durch seine Gucci-Sonnenbrille stolz auf eine Baustelle am Stadtrand von Williston. 412 Wohneinheiten sollen hier in den nächsten Monaten entstehen: Alles Reihenhäuser und Einfamilienhäuser. Die meisten davon werden um die 200.000 Dollar kosten, umgerechnet gut 150.000 Euro. Was Fendich anbietet, ist Massenware, in etwa zweieinhalb Monaten im Akkord hochgezogen von mexikanischen Arbeitern. Fendich, der Sohn von Einwanderern aus der Ukraine, ist mit dem Immobilienboom in Kalifornien reich geworden und will hier in Williston noch mehr Geld machen.
Die Energie in der Stadt erinnert ihn an Kalifornien im Jahr 2006 – jeder ist dabei, irgendetwas aufzuziehen. Die Behörden in Williston versuchen, den Bauboom unter Kontrolle zu halten, erteilen Baugenehmigungen nicht mehr im Schnellverfahren. Sie wollen verhindern, dass riesige Geistersiedlungen zurückbleiben, wenn der Boom vorbei ist und die Ölfirmen und ihre Arbeiter, die Hotelbetreiber und ihre Angestellten wieder abziehen. Wann das sein wird, kann niemand so genau sagen: In zehn Jahren, in 15 Jahren?
Pastor Jay Reinke hofft inständig, dass seine Kirche nicht so lange als Notherberge herhalten muss. Aber bis es soweit ist, dass alle in Williston eine Unterkunft haben, wird er für jeden Neuankömmling seine kleine Rede halten:
"Du bist ein Geschenk, für uns und für Williston – Willkommen in North Dakota!"
Manche fangen dann an zu weinen, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass sich irgendjemand in diesem gottverlassenen Kaff freut, dass sie da sind.