Gott zu Ehren um die Ecke gebaut

Von Adolf Stock |
In Ruhla im Thüringer Wald steht ein ungewöhnliches Gotteshaus, das in diesem Jahr 350 Jahre alt wird: eine so genannte Winkel- oder Hakenkirche. Sie sieht nicht nur eigenwillig aus, sondern hat auch eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte.
Seit acht Jahren steht Pfarrer Gerhard Reuther auf der Kanzel von Sankt Concordia und hält Gottesdienst vor den wenigen Kirchgängern, die ihm in Ruhla verblieben sind. Zwanzig, wenn's hoch kommt dreißig Gottesdienstbesucher finden den Weg zum sonntäglichen Gebet in das Hauptschiff der zweischiffigen Winkelkirche. Die Statistik zählt noch etwa 1200 Kirchenmitglieder, das ist knapp ein Viertel der Einwohnerschaft, doch darunter sind nur wenig aktive Christen.

Ein etwas trauriges Schicksal, denn schließlich ist Sankt Concordia das stolze Zeugnis einer selbstbewussten Bürgerschaft, die vor 350 Jahren über 4000 Gulden aufbrachte, weil sie ein eigenes Gotteshaus haben wollte.

Während der kalten Jahreszeit ist es zu teuer, die hohen Räume zu heizen. Die Gläubigen versammeln sich deshalb zum Gottesdienst im benachbarten Gemeindehaus. Gemeindemitglied Ivonne Frommann hat aber den großen Schlüssel für die barocke Kirchentür.

Ivonne Frommann: "Wir befinden uns jetzt in der Winkelkirche Sankt Concordia, und das ist die einzig original erhaltene Winkelkirche in Deutschland, und da sind wir sehr froh und sehr stolz drauf."

Die Kirche ist das Ergebnis eines politischen Streits. Die territorialen Ansprüche der Söhne des Herzogs zu Weimar führten 1640 zur Teilung der Stadt. Ein Teil der Bürger gehörte nun zu Sachsen-Gotha, der andere zu Weimar-Eisenach. Ein kleiner Bach, der mitten durch Ruhla führt, markierte die Grenze, und das gemeinsame Gotteshaus lag für einen Teil der Bevölkerung nunmehr auf fremdländischem Gebiet. Kirchenmitglied Ralf Schuhmann kennt die Geschichte.

Ralf Schuhmann: "Es gab eine Erbteilung, und es gab zuerst die Trinitatiskirche auf der gothaischen Seite. Und aufgrund der Tatsache, dass es also auch in Ruhla zwei Schulen gab, zwei Gemeindeverwaltungen und eben nur eine Kirche, kam es halt zu dieser Streitigkeit, und der weimarische Teil wollte dann letztendlich auch eine Kirche haben."

Um ihren Status zu betonen, wurde der Neubau nach der römischen Göttin Concordia genannt. Pfarrer Gerhard Reuther schmunzelt ein wenig, wenn er über den Namen spricht.

Gerhard Reuther: "Concordia heißt ja eigentlich Eintracht und ist insofern Namensgeber für viele Sportclubs zum Beispiel auch. Das Anliegen, weshalb man die Kirche Concordia genannt hat, war natürlich die Eintracht im Volk wiederherzustellen. Dass man sich vorgenommen hatte mit der Erbauung dieser Kirche Streitereien aus dem Weg zu gehen und aus der Welt zu schaffen und dadurch die Eintracht im Ort wieder herzustellen."

Sankt Concordia wurde ein ganz besonderer Bau. Sie steht auf einem Felsvorsprung. Zwei Kirchenschiffe stoßen im rechten Winkel aufeinander. In der so entstandenen Ecke befinden sich Altar, Kanzel und Sakristei. Über die Gründe für diese besondere Architektur lässt sich heute nur noch spekulieren.

Gerhard Reuther: "Es gibt zwei Theorien, die wahrscheinlich beide miteinander zusammenhängen. Das hängt einmal mit den geologischen Besonderheit¬en hier zusammen, wenn man die Kirche in dieser Größe mit diesem Fassungsvermögen hätte bauen wollen mit einem Schiff, dann hätte man sehr weit in den Felsen hinein gehen müssen, und das war natürlich gar nicht möglich. Das ist die eine Theorie und die andere ist die, dass gesagt wird, dass der Baumeister, der diese Kirche erbaut hat, die Winkelkirche in Freudenstadt kannte."

Die Freudenstädter Winkelkirche wurde ein halbes Jahrhundert früher gebaut. Sie steht an einer Ecke auf dem großen fast quadratischen Marktplatz, der das Zentrum der Stadtanlage aus der Renaissancezeit ist.

Das Gegenstück in Ruhla ist schlichter, bodenständiger Barock. Ihr Architekt war der Weimarer Hofbaumeister Johann Moritz Heinrich Richter. Über dem Chorraum erhebt sich ein achteckiger Dachreiter und die beiden Kirchenschiffe haben Flachbogenfenster und Tonnengewölbe. Im Innern gibt es hölzerne Emporen aus dem frühen 18. Jahrhundert und einen farbenfrohen Kanzelaltar; ideal für den protestantischen Gottesdienst, der seit Luthers Zeiten die Nähe von Altar, Predigtort und Gemeinde fordert. Zunächst saßen Männer und Frauen getrennt.

Gerhard Reuther: "Hier in Ruhla ist es so gewesen, dass in dieser Winkelkirche die Frauen in dem einen Teil saßen, nämlich da wo die Orgel sich befindet, während die Männer in dem anderen Teil saßen: Die Kinder haben dann in dem Turmbereich gesessen, da wo sich auch der Altar befindet. Der Altar ist ja diagonal im Turm angeordnet, damit man vom Altar aus und auch von der Kanzel aus in beide Schiffe blicken kann. Das war ja nötig, damit der Pfarrer immer sehen konnte, wer während der Predigt schläft."

Pfarrer Reuther ist der Welt zugewandt und er blickt gern über den provinziellen Tellerrand seiner Gemeinde. Er unterstützt ein Jugendprojekt in Ruanda, um die Folgen des Genozids von 1994 zu lindern, und zuhause stemmt er ein eindrucksvolles Kulturprogramm.

Freunde aus Leipzig, aus Pfarrer Reuthers Thomanerchor-Zeit, Gitarren- und Orgelspieler und musikalisch aktive Nachfahren des Ruhlaer Komponisten Friedrich Lux werden in die Concordienkirche gelockt, um in der Reihe Kultur im Winkel aufzutreten, die der Pfarrer 2004 ins Leben rief. Bei solchen Gelegenheiten sind nicht nur Gemeindemitglieder willkommen, auch Freunde der klassischen Musik, afrikanischer Gospels oder irischer Folklore. Dann betreten auch Punks oder alte Genossen, die sich dem Glauben entfremdet haben, das Gotteshaus.

Ein Kirchenflügel dient heute als Gemeindezentrum und als Veranstalt-ungsort. Ein Glücksfall für Ruhla, denn in der historischen Winkelkirche gibt es genügend Platz für Gottes Wort und für weltliche Kultur.

Mehr Informationen über das Festprogramm zur 350-Jahr-Feier von Sankt Concordia im Internet