Gott und die Welt
Nach 18 Jahren Wiederaufbauarbeit steht St. Georgen, eine der größten Backsteinkirchen des Nordens, wieder in alter Pracht da. Noch ist es nur die Hülle – der Inhalt fehlt noch. Und so wie mit dem Gebäude ist es auch mit der Nutzung.
In Wismar ist ein Kulturkampf entbrannt: Die Stadt will ein Kulturhaus, die Kirche ein Gotteshaus. Die Fronten sind nach jahrelangem Streit verhärtet – nicht nur zwischen Stadt und Kirche, sondern auch zwischen zwei Fördervereinen. Die vielen Spender stehen ratlos daneben.
Es schlägt elf in Wismar, hoch oben vom Turm der Marienkirche. Es ist ein einsamer Turm, das Kirchenschiff fehlt. 1960 wurde das, was der Krieg von der Marienkirche übrig ließ, gesprengt. Wenige Schritte daneben war auch Sankt Georgen im April 1945, den letzten Tagen des Krieges, in Schutt und Asche gegangen. Doch dort ließ man die Überreste stehen: Gigantisch hohe, fensterlose Mauern, ohne Dach, ohne sicheren Halt. Ein Wunder, daß die Kirche erst die Wende abwartete, um einzustürzen: In einer Sturmnacht 1990 kippte der Nordgiebel um und begrub ein Haus unter sich. Es gab Schwerverletzte.
Fünf vor zwölf schien es damals in Wismar. Der Einsturz der Kirchenmauer rüttelte alle auf. Eine Entscheidung mußte gefällt werden: Wiederaufbau oder Abriss. Einfach so stehen lassen wie die vergangenen 40 Jahre, das ging nicht mehr. Gerade war Rosemarie Wilcken zur Wismarer Bürgermeisterin gewählt worden.
Wilcken: „Es ist die Deutsche Stiftung Denkmalschutz in Person Professor Kiesow, der die Idee zum Wiederaufbau hatte. Und ich habe dann angefangen, diese Idee umzusetzen – gegen erhebliche Widerstände, zum Beispiel von der Kirche. Der damalige Landesbischof hat einen Artikel veröffentlicht in der Kirchenzeitung, dass das Geld viel sinnhafter zur Reparatur von Dorfkirchen eingesetzt werden kann. Und die Bürger dieser Stadt haben es auch nicht verstanden, dass wir bei den ganzen Problemen, die wir 1990 hatten, uns so einer Aufgabe widmen.“
17 Jahre Aufbauarbeit. Noch kriechen Bagger durch das Kirchenschiff und arbeiten am Fußboden. Eine Heizung wird verlegt. Wie die Frauenkirche in Dresden wurde auch St.Georgen in Wismar zu einem Zeugnis des Aufbauwillens und der Solidarität von Menschen aus ganz Deutschland: Neben Mitteln von Bund, Land und Stadt schulterten Tausende Spender über die Deutsche Stiftung Denkmalschutz den Löwenanteil der Aufbauarbeit: 17 Millionen Euro wurden gesammelt. Ein Wunder, sagt die Bürgermeisterin.
Endspurt in St.Georgen. Doch je näher die Fertigstellung rückt, desto drängender wird eine Frage: Richtet man die Kirche wieder wie eine Kirche ein oder soll sie eher ein Kulturhaus werden? Daran scheiden sich die Geister in Wismar.
Ergebnisse einer Umfrage: „Kirche soll Kirche bleiben, das war auch die Grundeinstellung überhaupt der Kirchenbauten. Und dass man das dann auch als Kirche nutzen sollte.“ – „Das ist Unfug. Das kann man gar nicht mehr realisieren heutzutage. Es ist ja gar nicht mehr der Bedarf da. Die sakralen Räume, die jetzt zur Verfügung stehen, werden ja schon nicht genutzt. Und man muss solche Räume ja auch nutzen und wieder füllen – sonst ist es Unfug, das wieder aufzubauen.“ – „Ich denke, dass man das auch kulturell nutzen sollte. Weil so einen Klotz zu unterhalten kostet viel, viel Geld – und da muss man eben auch andere Sachen dabei berücksichtigen. Und da bricht sich keiner einen Zacken aus der Krone, wenn man da auch was anderes macht auch noch!“
Zum Beispiel ein Bluesfestival. Der Aufbauverein der Wismarer Georgenkirche plant seit Jahren Veranstaltungen auf der Baustelle, deren Einnahmen dem weiteren Aufbau zugute kommen. Alles wird ehrenamtlich organisiert, zum Beispiel von Ines Raum, der Vorsitzenden des Aufbauvereins.
Raum: „Es ist das größte Kirchen-Wiederaufbauprojekt Europas. Es ist ein ganz tolles Baudenkmal, das man erhalten sollte. Deshalb habe ich mich als Vorsitzende vom Aufbauverein St. Georgen eingebracht, damit der Wiederaufbau weitergeführt werden kann.“
Die Wismarerin, deren Schulweg früher immer an der Kirchenruine vorbeiführte, steht für die vielen Menschen, die sich für die Kirche engagieren, ohne selbst zur Kirche zu gehören oder gläubig zu sein. Befragt über ihre Ideen zur künftigen Nutzung des Baudenkmals, schüttelt sie jedoch den Kopf.
Raum: „Ich werd’ n Teufel tun!“
Das Thema ist ein heißes in der Stadt. Keiner will sich verbrennen daran. Selbst die beiden von der Stadt bestellten Minijob-Aufsichtskräfte in der Kirche winken ab. Kein Kommentar, sagen sie professionell, und es klingt wie einstudiert. Doch dann kommt doch noch etwas von Ines Raum:
„Ich denke, das muss man kulturell nutzen. Schöne Veranstaltungen, alles, was irgendwie nur stattfinden kann. Ulla Meinicke hat nach ihrem Konzert fast geweint, dass sie hier singen durfte. Es ist eben so, in anderen Ländern – ich war in Edinburgh, da war eine große Kathedrale und wir wollten sie uns angucken. Wir kommen rein – und da ist eine riesige Gaststätte drin! Es ist ja nicht ein deutsches Problem, sondern ein internationales Problem, daß man nicht mehr so die Mengen rein bekommt in die Kirche. Aber man hat diese einzigartigen Bauwerke, und da muß man gucken, wie man sie nutzt.“
Dass man in St. Georgen dereinst Steak und Pommes bekommt, steht nicht zu befürchten. Eigentlich sei man sich in vielen Punkten schon einig, sagt Landesuperintendent Martin Siegert, der mit Bürgermeisterin Wilcken dabei ist, einen Vertrag über die künftige Nutzung der Wismarer Kirchen auszuhandeln. Ein Prozedere, das sich schon Jahre hinzieht, die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb von einem „Kulturkampf in Wismar“. Dieses Wort mögen weder Siegert noch Wilcken gern hören – der Kirchenmann sagt, es sei eine „spannende Auseinandersetzung“, die Bürgermeisterin meint, es sei „einfach ein Vorgang“.
Jahre schon dauert der „Vorgang“, der alles andere als einfach ist. Juristen auf beiden Seiten rauchen die Köpfe, denn in Wismar gibt es eine nahezu einmalige Rechtslage: Die drei großen Stadtkirchen inmitten des heutigen „Weltkulturerbes“, allesamt große Backsteinkirchen aus der Hansezeit, gehören derzeit weder der Stadt noch der Kirche, sondern dem Bund. Der Grund dafür liegt weit zurück: Schon vor der Reformation wurden die Kirchengebäude in Wismar von der Stadt verwaltet. Das geschah über eine Stiftung, die sogenannten „Geistlichen Hebungen“. Die Kirche brachte Grundstücke und Gebäude in diese Stiftung ein, die Stadt verpflichtete sich dafür zum Erhalt der Kirchen. Auch zu DDR-Zeiten wurde dieses Arrangement aufrecht erhalten und das Stiftungsvermögen sogar auf Antrag der Kirche als „Volkseigentum“ ins Grundbuch eingetragen.
Wilcken: „Normalerweise steht im Einigungsvertrag: Alles, was Volkseigentum ist, fällt dem Bund zu. Der Bund wäre aber bereit, das Vermögen auf die Geistlichen Hebungen zurück zu übertragen, wenn ein Nutzungsvertrag ausgehandelt ist. Und unser Problem ist, daß wir den Nutzungsvertrag brauchen für die Nikolaikirche, die Marienkirche und für die Georgenkirche.“
Auch jetzt scheint es wieder fünf vor zwölf zu sein: Eine Einigung zwischen Stadt und Kirche ist dringend geboten, damit die Nutzung der drei Kirchen rechtlich korrekt geregelt ist. Der Teufel steckt für Kirchenmann Siegert nicht im Detail, sondern eher im Großen und Ganzen.
Siegert: „Wir sind uns weitgehend einig, dass die Georgenkirche als eine Kulturkirche genutzt werden soll, in der auch kirchliche Veranstaltungen stattfinden können. Uneinig sind wir uns über den Gestaltungseinfluß, den die Kirche in Wismar in Blick auf die Kirchen hat. Da gehen wir davon aus, dass wir die Dinge einvernehmlich zwischen Kirche und Stadt regeln. Das sieht die Stadt ein bisschen anders. Während die Stadt der Meinung ist, es reicht, wenn sie sich mit der Kirche ins Benehmen setzt oder die Kirche anhört und dergleichen Dinge. Und das reicht uns nicht aus.“
Es geht der Landeskirche um Mitbestimmung in den Wismarer Kirchen, und zwar um gleichberechtigte.
Wilcken: „Es geht hier knallhart um Geld. Es geht hier nämlich um die jährliche Bauunterhaltung ab 300.000 Euro und daran, an der Verteilung der Mittel, wird sich die Mitbestimmung zu orientieren haben. Was nützt ein Aufbau, wenn am Ende des Aufbaus der Verfall beginnt?“
Die Bürgermeisterin holt ein dickes Aktenbündel hervor. Sie zeigt auf lange Zahlenreihen in einer Tabelle: Gleich in der ersten Spalte, neben der Gesamtbausumme und vor den Millionenbeiträgen der Stiftung Denkmalschutz, des Bundes, des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Stadt Wismar stehen lauter Nullen.
Wilcken: „Kein Euro Einsatz der evangelischen Kirche für Georgen. Es ist wirklich eine bürgerliche Kirche. Ich habe gelernt im Kommunalen: Wer bezahlt, bestimmt auch.“
Siegert: „Na ja, das ist ihre Auffassung, die wir nicht teilen. Wir haben das Gegenargument, dass diese Kirche seit Jahrhunderten als Kirche genutzt worden ist und dass uns das ein Mitspracherecht einfach von der Tradition her ermöglicht. Wir haben das Argument, dass die Spender für eine Kirche spenden, und nicht für ein Kulturhaus. Es wird auch immer mit St-Georgen-Kirche geworben. Und Kirche verantwortlich zu gestalten, geht aus meiner Sicht nicht ohne Kirche.“
Kommt man in die Georgenkirche, so findet man derzeit nichts, was auf eine Gemeinde namens St .Georgen hindeutet: Weder einen Gemeindebrief, noch Hinweise zu kirchlichen Veranstaltungen. Dabei gibt es eine Gemeinde. Das Pfarrhaus der seit der Nachkriegszeit vereinten Gemeinden von St.Georgen und St. Marien steht direkt neben der Georgenkirche. Gleich zwei Kirchgebäude verlor die Gemeinde 1945 und bekam dafür 1951 eine Notkirche hingestellt.
Pastor Christian Schwarz: „Hier drüber ist die Orgelempore und hier drunter finden nun so kleinere Versammlungen statt, kleinere Andachten. Nach dem Gottesdienst trinken wir `ne Tasse Kaffee, aber dann müssen die Leute stehen, hinsetzen können sich hier nicht alle.“
Christian Schwarz und viele Gemeindemitglieder sind Mitglieder des „Förderkreises St. Georgen“, der schon 1987 in Lübeck von ehemaligen Wismarern gegründet wurde und der später nach Wismar umzog. Doch die Stadt wollte sich von den Lübeckern nichts sagen lassen und gründete einen eigenen „Aufbauverein“. Der sollte Gelder für den Wiederaufbau des Gebäudes beschaffen – und so machte es sich der ursprüngliche „Förderkreis“ zur Aufgabe, Spenden für die Restaurierung der Kunstgegenstände zu sammeln. Rund eine Million Euro wurden aufgebracht.
Schwarz: „Das Aushängeschild ist die Fertigstellung des Hauptaltars der Georgenkirche dessen Fertigstellung wir im vergangenen Jahr gefeiert haben. Aber wir warten noch darauf, daß er wieder dahin kommt, wo er hin gehört. Zurzeit müssen wir als Kirchgemeinde leider erleben, daß wir nicht erwünscht sind in der Kirche.“
Ohne Nutzungsvertrag über die drei Kirchen keine Nutzung von St.Georgen durch die Kirche – diese Position der Stadt mag hinter den „abschlägigen Bescheiden“ stehen. Bisweilen trug das zähe Ringen schon skurrile Züge, erinnert sich Pastor Schwarz.
Schwarz: „Es ist ein besonderes Schmankerl, dass der Förderkreis jahrelang darum gerungen hat, oder darum gebeten hat, dass an der Georgenkirche ein Schaukasten angebracht wird – am Bauzaun, wo der Schaukasten des Aufbauvereins hing, eigentlich mehrere hingen. Unser ehemaliger Schriftführer hat einen mehrjährigen Briefwechsel mit der Bürgermeisterin geführt. Er hat das dann zum Schluss nur noch als Denksportaufgabe gemacht, schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass da mal eine positive Antwort kommt. So was ist dann natürlich auch aktenkundig und – ja, man wundert sich darüber.“
Das nächste Projekt, das sich der Förderkreis vorgenommen hat: für eine große, klangstarke Orgel in St. Georgen zu sammeln. Doch die Spendeaktion stagniert, weil der Förderkreis von der Stadt keine Auskunft bekommt, ob überhaupt eine Orgel erwünscht ist, und wenn ja, an welchem Standort – der wiederum die Größe des Instruments bestimmt. Pastor Schwarz schiebt ein Faltblatt über den Tisch. „Konzept für die Nutzung der St. Georgenkirche“ steht darauf, erarbeitet vom Kirchgemeinderat. Drei Seiten mit Vorschlägen für die Nutzung der Kirche – als Gottes-, Kultur – und Veranstaltungshaus.
Schwarz: „Es ist uns vom Rathaus vorgeworfen worden, wenn die Kirchen die Kirche wieder nutzen, dass dann keine anderen Veranstaltungen möglich sein werden. Das ist ein Stück Propaganda, über die ich mich sehr geärgert habe. Weil das niemals ein Anliegen der Kirche ist und man überall dort, wo Kirchen stehen, man sich davon überzeugen kann, dass das nicht so ist.“
Gleichwohl steht der Pastor dazu, dass es am besten wäre, die Georgenkirche auch wieder als Kirche einzurichten, mit dem Altar am angestammten Platz im Chor der Kirche. Die Bürgermeisterin hält jedoch ökonomische Gründe gegen die Einrichtung von St. Georgen als Kirche: Kein Platz mehr für große Orchester und für genügend Zuschauer, argumentiert sie. Gottfried Kiesow, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, plant, den Altar im Südturm der Georgenkirche unterzubringen. Dort entsteht dann eine, wie er sagt „Sakralzelle“.
Kiesow: „Wir wollen den großartigen Kirchenraum, der jetzt ja noch völlig leer ist, in seiner Monumentalität erhalten und nicht die ganze alte Ausstattung wieder reinbringen. Es ist ja so, was Sie auch machen, es gibt immer Leute, die alles besser wissen. Die Kirche hat sich ja aber am Wiederaufbau nicht mit einem einzigen Cent beteiligt. Und stellt jetzt Forderungen, für die ich kein Verständnis habe. Weil, sie brauchen das ja nicht, sie haben drei Kirchen, wie wollen sie die vernünftig nutzen und unterhalten? Warum will sie das nun jetzt nicht der Stadt überlassen?“
200 000 Euro im Jahr koste allein die Bauunterhaltung von St. Georgen, schätzt der oberste Denkmalschützer. Diese Summe könne nur von einer Konzert-, Kongreß- und Kunsthalle eingespielt werden.
Kiesow: „Es gibt Dinge, die dort nicht erfolgen können, zum Beispiel keine Jugendweihe, das wäre gegen die christliche Kirche, es darf kein Techno oder Disco stattfinden, ich würde auch nicht unbedingt eine Modenschau für Damenunterwäsche dort haben wollen. Aber alles andere, ein Jazzkonzert – Jazz ist heute klassische Musik! Also, deswegen sollte sie möglichst intensiv genutzt werden, denn dann hat man Einkünfte und kann daraus den Bau pflegen.“
Die Wismarer wünschen sich nur eines: Dass man sich bald einigt – oder, wie man im Norden sagt, „aus den Puschen kommt“. Was solle man denn sonst von seiner Heimatstadt denken, meint dieser Wismarer:
„Wir sind Weltkulturerbe – oder haben Weltkulturerbe. Das steht uns nicht gut zu Gesicht. Und jetzt können wir gar nicht mehr zurück. Jetzt müssen wir vorwärts!“
Es schlägt elf in Wismar, hoch oben vom Turm der Marienkirche. Es ist ein einsamer Turm, das Kirchenschiff fehlt. 1960 wurde das, was der Krieg von der Marienkirche übrig ließ, gesprengt. Wenige Schritte daneben war auch Sankt Georgen im April 1945, den letzten Tagen des Krieges, in Schutt und Asche gegangen. Doch dort ließ man die Überreste stehen: Gigantisch hohe, fensterlose Mauern, ohne Dach, ohne sicheren Halt. Ein Wunder, daß die Kirche erst die Wende abwartete, um einzustürzen: In einer Sturmnacht 1990 kippte der Nordgiebel um und begrub ein Haus unter sich. Es gab Schwerverletzte.
Fünf vor zwölf schien es damals in Wismar. Der Einsturz der Kirchenmauer rüttelte alle auf. Eine Entscheidung mußte gefällt werden: Wiederaufbau oder Abriss. Einfach so stehen lassen wie die vergangenen 40 Jahre, das ging nicht mehr. Gerade war Rosemarie Wilcken zur Wismarer Bürgermeisterin gewählt worden.
Wilcken: „Es ist die Deutsche Stiftung Denkmalschutz in Person Professor Kiesow, der die Idee zum Wiederaufbau hatte. Und ich habe dann angefangen, diese Idee umzusetzen – gegen erhebliche Widerstände, zum Beispiel von der Kirche. Der damalige Landesbischof hat einen Artikel veröffentlicht in der Kirchenzeitung, dass das Geld viel sinnhafter zur Reparatur von Dorfkirchen eingesetzt werden kann. Und die Bürger dieser Stadt haben es auch nicht verstanden, dass wir bei den ganzen Problemen, die wir 1990 hatten, uns so einer Aufgabe widmen.“
17 Jahre Aufbauarbeit. Noch kriechen Bagger durch das Kirchenschiff und arbeiten am Fußboden. Eine Heizung wird verlegt. Wie die Frauenkirche in Dresden wurde auch St.Georgen in Wismar zu einem Zeugnis des Aufbauwillens und der Solidarität von Menschen aus ganz Deutschland: Neben Mitteln von Bund, Land und Stadt schulterten Tausende Spender über die Deutsche Stiftung Denkmalschutz den Löwenanteil der Aufbauarbeit: 17 Millionen Euro wurden gesammelt. Ein Wunder, sagt die Bürgermeisterin.
Endspurt in St.Georgen. Doch je näher die Fertigstellung rückt, desto drängender wird eine Frage: Richtet man die Kirche wieder wie eine Kirche ein oder soll sie eher ein Kulturhaus werden? Daran scheiden sich die Geister in Wismar.
Ergebnisse einer Umfrage: „Kirche soll Kirche bleiben, das war auch die Grundeinstellung überhaupt der Kirchenbauten. Und dass man das dann auch als Kirche nutzen sollte.“ – „Das ist Unfug. Das kann man gar nicht mehr realisieren heutzutage. Es ist ja gar nicht mehr der Bedarf da. Die sakralen Räume, die jetzt zur Verfügung stehen, werden ja schon nicht genutzt. Und man muss solche Räume ja auch nutzen und wieder füllen – sonst ist es Unfug, das wieder aufzubauen.“ – „Ich denke, dass man das auch kulturell nutzen sollte. Weil so einen Klotz zu unterhalten kostet viel, viel Geld – und da muss man eben auch andere Sachen dabei berücksichtigen. Und da bricht sich keiner einen Zacken aus der Krone, wenn man da auch was anderes macht auch noch!“
Zum Beispiel ein Bluesfestival. Der Aufbauverein der Wismarer Georgenkirche plant seit Jahren Veranstaltungen auf der Baustelle, deren Einnahmen dem weiteren Aufbau zugute kommen. Alles wird ehrenamtlich organisiert, zum Beispiel von Ines Raum, der Vorsitzenden des Aufbauvereins.
Raum: „Es ist das größte Kirchen-Wiederaufbauprojekt Europas. Es ist ein ganz tolles Baudenkmal, das man erhalten sollte. Deshalb habe ich mich als Vorsitzende vom Aufbauverein St. Georgen eingebracht, damit der Wiederaufbau weitergeführt werden kann.“
Die Wismarerin, deren Schulweg früher immer an der Kirchenruine vorbeiführte, steht für die vielen Menschen, die sich für die Kirche engagieren, ohne selbst zur Kirche zu gehören oder gläubig zu sein. Befragt über ihre Ideen zur künftigen Nutzung des Baudenkmals, schüttelt sie jedoch den Kopf.
Raum: „Ich werd’ n Teufel tun!“
Das Thema ist ein heißes in der Stadt. Keiner will sich verbrennen daran. Selbst die beiden von der Stadt bestellten Minijob-Aufsichtskräfte in der Kirche winken ab. Kein Kommentar, sagen sie professionell, und es klingt wie einstudiert. Doch dann kommt doch noch etwas von Ines Raum:
„Ich denke, das muss man kulturell nutzen. Schöne Veranstaltungen, alles, was irgendwie nur stattfinden kann. Ulla Meinicke hat nach ihrem Konzert fast geweint, dass sie hier singen durfte. Es ist eben so, in anderen Ländern – ich war in Edinburgh, da war eine große Kathedrale und wir wollten sie uns angucken. Wir kommen rein – und da ist eine riesige Gaststätte drin! Es ist ja nicht ein deutsches Problem, sondern ein internationales Problem, daß man nicht mehr so die Mengen rein bekommt in die Kirche. Aber man hat diese einzigartigen Bauwerke, und da muß man gucken, wie man sie nutzt.“
Dass man in St. Georgen dereinst Steak und Pommes bekommt, steht nicht zu befürchten. Eigentlich sei man sich in vielen Punkten schon einig, sagt Landesuperintendent Martin Siegert, der mit Bürgermeisterin Wilcken dabei ist, einen Vertrag über die künftige Nutzung der Wismarer Kirchen auszuhandeln. Ein Prozedere, das sich schon Jahre hinzieht, die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb von einem „Kulturkampf in Wismar“. Dieses Wort mögen weder Siegert noch Wilcken gern hören – der Kirchenmann sagt, es sei eine „spannende Auseinandersetzung“, die Bürgermeisterin meint, es sei „einfach ein Vorgang“.
Jahre schon dauert der „Vorgang“, der alles andere als einfach ist. Juristen auf beiden Seiten rauchen die Köpfe, denn in Wismar gibt es eine nahezu einmalige Rechtslage: Die drei großen Stadtkirchen inmitten des heutigen „Weltkulturerbes“, allesamt große Backsteinkirchen aus der Hansezeit, gehören derzeit weder der Stadt noch der Kirche, sondern dem Bund. Der Grund dafür liegt weit zurück: Schon vor der Reformation wurden die Kirchengebäude in Wismar von der Stadt verwaltet. Das geschah über eine Stiftung, die sogenannten „Geistlichen Hebungen“. Die Kirche brachte Grundstücke und Gebäude in diese Stiftung ein, die Stadt verpflichtete sich dafür zum Erhalt der Kirchen. Auch zu DDR-Zeiten wurde dieses Arrangement aufrecht erhalten und das Stiftungsvermögen sogar auf Antrag der Kirche als „Volkseigentum“ ins Grundbuch eingetragen.
Wilcken: „Normalerweise steht im Einigungsvertrag: Alles, was Volkseigentum ist, fällt dem Bund zu. Der Bund wäre aber bereit, das Vermögen auf die Geistlichen Hebungen zurück zu übertragen, wenn ein Nutzungsvertrag ausgehandelt ist. Und unser Problem ist, daß wir den Nutzungsvertrag brauchen für die Nikolaikirche, die Marienkirche und für die Georgenkirche.“
Auch jetzt scheint es wieder fünf vor zwölf zu sein: Eine Einigung zwischen Stadt und Kirche ist dringend geboten, damit die Nutzung der drei Kirchen rechtlich korrekt geregelt ist. Der Teufel steckt für Kirchenmann Siegert nicht im Detail, sondern eher im Großen und Ganzen.
Siegert: „Wir sind uns weitgehend einig, dass die Georgenkirche als eine Kulturkirche genutzt werden soll, in der auch kirchliche Veranstaltungen stattfinden können. Uneinig sind wir uns über den Gestaltungseinfluß, den die Kirche in Wismar in Blick auf die Kirchen hat. Da gehen wir davon aus, dass wir die Dinge einvernehmlich zwischen Kirche und Stadt regeln. Das sieht die Stadt ein bisschen anders. Während die Stadt der Meinung ist, es reicht, wenn sie sich mit der Kirche ins Benehmen setzt oder die Kirche anhört und dergleichen Dinge. Und das reicht uns nicht aus.“
Es geht der Landeskirche um Mitbestimmung in den Wismarer Kirchen, und zwar um gleichberechtigte.
Wilcken: „Es geht hier knallhart um Geld. Es geht hier nämlich um die jährliche Bauunterhaltung ab 300.000 Euro und daran, an der Verteilung der Mittel, wird sich die Mitbestimmung zu orientieren haben. Was nützt ein Aufbau, wenn am Ende des Aufbaus der Verfall beginnt?“
Die Bürgermeisterin holt ein dickes Aktenbündel hervor. Sie zeigt auf lange Zahlenreihen in einer Tabelle: Gleich in der ersten Spalte, neben der Gesamtbausumme und vor den Millionenbeiträgen der Stiftung Denkmalschutz, des Bundes, des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Stadt Wismar stehen lauter Nullen.
Wilcken: „Kein Euro Einsatz der evangelischen Kirche für Georgen. Es ist wirklich eine bürgerliche Kirche. Ich habe gelernt im Kommunalen: Wer bezahlt, bestimmt auch.“
Siegert: „Na ja, das ist ihre Auffassung, die wir nicht teilen. Wir haben das Gegenargument, dass diese Kirche seit Jahrhunderten als Kirche genutzt worden ist und dass uns das ein Mitspracherecht einfach von der Tradition her ermöglicht. Wir haben das Argument, dass die Spender für eine Kirche spenden, und nicht für ein Kulturhaus. Es wird auch immer mit St-Georgen-Kirche geworben. Und Kirche verantwortlich zu gestalten, geht aus meiner Sicht nicht ohne Kirche.“
Kommt man in die Georgenkirche, so findet man derzeit nichts, was auf eine Gemeinde namens St .Georgen hindeutet: Weder einen Gemeindebrief, noch Hinweise zu kirchlichen Veranstaltungen. Dabei gibt es eine Gemeinde. Das Pfarrhaus der seit der Nachkriegszeit vereinten Gemeinden von St.Georgen und St. Marien steht direkt neben der Georgenkirche. Gleich zwei Kirchgebäude verlor die Gemeinde 1945 und bekam dafür 1951 eine Notkirche hingestellt.
Pastor Christian Schwarz: „Hier drüber ist die Orgelempore und hier drunter finden nun so kleinere Versammlungen statt, kleinere Andachten. Nach dem Gottesdienst trinken wir `ne Tasse Kaffee, aber dann müssen die Leute stehen, hinsetzen können sich hier nicht alle.“
Christian Schwarz und viele Gemeindemitglieder sind Mitglieder des „Förderkreises St. Georgen“, der schon 1987 in Lübeck von ehemaligen Wismarern gegründet wurde und der später nach Wismar umzog. Doch die Stadt wollte sich von den Lübeckern nichts sagen lassen und gründete einen eigenen „Aufbauverein“. Der sollte Gelder für den Wiederaufbau des Gebäudes beschaffen – und so machte es sich der ursprüngliche „Förderkreis“ zur Aufgabe, Spenden für die Restaurierung der Kunstgegenstände zu sammeln. Rund eine Million Euro wurden aufgebracht.
Schwarz: „Das Aushängeschild ist die Fertigstellung des Hauptaltars der Georgenkirche dessen Fertigstellung wir im vergangenen Jahr gefeiert haben. Aber wir warten noch darauf, daß er wieder dahin kommt, wo er hin gehört. Zurzeit müssen wir als Kirchgemeinde leider erleben, daß wir nicht erwünscht sind in der Kirche.“
Ohne Nutzungsvertrag über die drei Kirchen keine Nutzung von St.Georgen durch die Kirche – diese Position der Stadt mag hinter den „abschlägigen Bescheiden“ stehen. Bisweilen trug das zähe Ringen schon skurrile Züge, erinnert sich Pastor Schwarz.
Schwarz: „Es ist ein besonderes Schmankerl, dass der Förderkreis jahrelang darum gerungen hat, oder darum gebeten hat, dass an der Georgenkirche ein Schaukasten angebracht wird – am Bauzaun, wo der Schaukasten des Aufbauvereins hing, eigentlich mehrere hingen. Unser ehemaliger Schriftführer hat einen mehrjährigen Briefwechsel mit der Bürgermeisterin geführt. Er hat das dann zum Schluss nur noch als Denksportaufgabe gemacht, schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass da mal eine positive Antwort kommt. So was ist dann natürlich auch aktenkundig und – ja, man wundert sich darüber.“
Das nächste Projekt, das sich der Förderkreis vorgenommen hat: für eine große, klangstarke Orgel in St. Georgen zu sammeln. Doch die Spendeaktion stagniert, weil der Förderkreis von der Stadt keine Auskunft bekommt, ob überhaupt eine Orgel erwünscht ist, und wenn ja, an welchem Standort – der wiederum die Größe des Instruments bestimmt. Pastor Schwarz schiebt ein Faltblatt über den Tisch. „Konzept für die Nutzung der St. Georgenkirche“ steht darauf, erarbeitet vom Kirchgemeinderat. Drei Seiten mit Vorschlägen für die Nutzung der Kirche – als Gottes-, Kultur – und Veranstaltungshaus.
Schwarz: „Es ist uns vom Rathaus vorgeworfen worden, wenn die Kirchen die Kirche wieder nutzen, dass dann keine anderen Veranstaltungen möglich sein werden. Das ist ein Stück Propaganda, über die ich mich sehr geärgert habe. Weil das niemals ein Anliegen der Kirche ist und man überall dort, wo Kirchen stehen, man sich davon überzeugen kann, dass das nicht so ist.“
Gleichwohl steht der Pastor dazu, dass es am besten wäre, die Georgenkirche auch wieder als Kirche einzurichten, mit dem Altar am angestammten Platz im Chor der Kirche. Die Bürgermeisterin hält jedoch ökonomische Gründe gegen die Einrichtung von St. Georgen als Kirche: Kein Platz mehr für große Orchester und für genügend Zuschauer, argumentiert sie. Gottfried Kiesow, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, plant, den Altar im Südturm der Georgenkirche unterzubringen. Dort entsteht dann eine, wie er sagt „Sakralzelle“.
Kiesow: „Wir wollen den großartigen Kirchenraum, der jetzt ja noch völlig leer ist, in seiner Monumentalität erhalten und nicht die ganze alte Ausstattung wieder reinbringen. Es ist ja so, was Sie auch machen, es gibt immer Leute, die alles besser wissen. Die Kirche hat sich ja aber am Wiederaufbau nicht mit einem einzigen Cent beteiligt. Und stellt jetzt Forderungen, für die ich kein Verständnis habe. Weil, sie brauchen das ja nicht, sie haben drei Kirchen, wie wollen sie die vernünftig nutzen und unterhalten? Warum will sie das nun jetzt nicht der Stadt überlassen?“
200 000 Euro im Jahr koste allein die Bauunterhaltung von St. Georgen, schätzt der oberste Denkmalschützer. Diese Summe könne nur von einer Konzert-, Kongreß- und Kunsthalle eingespielt werden.
Kiesow: „Es gibt Dinge, die dort nicht erfolgen können, zum Beispiel keine Jugendweihe, das wäre gegen die christliche Kirche, es darf kein Techno oder Disco stattfinden, ich würde auch nicht unbedingt eine Modenschau für Damenunterwäsche dort haben wollen. Aber alles andere, ein Jazzkonzert – Jazz ist heute klassische Musik! Also, deswegen sollte sie möglichst intensiv genutzt werden, denn dann hat man Einkünfte und kann daraus den Bau pflegen.“
Die Wismarer wünschen sich nur eines: Dass man sich bald einigt – oder, wie man im Norden sagt, „aus den Puschen kommt“. Was solle man denn sonst von seiner Heimatstadt denken, meint dieser Wismarer:
„Wir sind Weltkulturerbe – oder haben Weltkulturerbe. Das steht uns nicht gut zu Gesicht. Und jetzt können wir gar nicht mehr zurück. Jetzt müssen wir vorwärts!“