Gott und der Holocaust

Von Michael Wolffsohn |
Wo war Gott im Holocaust? Diese Frage stößt ins Herz aller christlich-jüdischen Dinge, weit über den Holocaust hinaus, sie betrifft Opfer und Täter, sie rüttelt an den Grundfesten des Abendlandes, dessen Fundament fest auf dem Glauben an Gott basierte. Der Mehrheit der Opfer und Täter signalisiert, ja beweist die Möglichkeit und Faktizität des Urverbrechens Holocaust, dass es Gott nicht geben könne. Gäbe es Gott, so die Mehrheitsmeinung, hätte es keinen Holocaust gegeben.
Die Säkularisierung bzw. Religionslosigkeit, Glaubenslosigkeit und Gottlosigkeit der westlichen Gegenwartsgesellschaft ist auch auf den Urschock Holocaust zurückzuführen. Gewiss, Glaubens- und Gottlosigkeit begannen schon lange vor dem Holocaust, aber der massenweise Sieg der Gottfernen wäre ohne den Holocaust ebenso undenkbar wie ohne die ca. 60 Millionen Opfer kommunistischer Verbrechen, also ohne die Verbrecher und deren Rechtfertiger, die es immer noch gibt; egal, ob es sich um braun-nationalsozialistische oder rot-kommunistische Verbrechen handelt.

Die meisten Opfer des Holocaust und anderer Megaverbrechen werden durch den sechsmillionenfachen Judenmord in ihrem Gottesglauben entmutigt. Sie sagten und sagen ungefähr dies: „Gott hätte dies nicht zugelassen.“ Die meisten Täter des Holocaust, auch ihre Mitläufer und Nachahmer, wurden in ihrer Gottlosigkeit ermutigt.

Sie sagten und sagen ungefähr dies: „Ich kann so viel morden wie ich will, und es passiert mir nichts.“ Heute fühlen sich Freunde der Täter durch Irans Präsidenten ermutigt, dem auch nichts passiert und über den sich Teile der westlichen Welt wortreich, doch folgenlos aufregen.

„Wo war Gott im Holocaust?“ Das ist letztlich die uralte Menschheitsfrage nach der Theodizee, der Gerechtigkeit Gottes: Wie kann Gott das Böse, Schlimme, Verbrecherische zulassen? Diese Frage finden wir in der Hebräischen Bibel, dem „Alten Testament“, etwa im Buch Hiob, ebenso wie im Neuen Testament im Zusammenhang mit Jesus: Wie und weshalb konnte Gott es zulassen, dass Jesus gekreuzigt, ermordet wurde?

Nicht die Frage nach der Gottesgerechtigkeit und damit der Gottesexistenz ist neu, sondern die Antwort des modernen Menschen. Die Jünger, die Urchristen und Christen fragten wie der am Kreuz sterbende Jesus den Psalmisten zitierend „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, aber sie blieben bis zur Moderne, bis zum Holocaust und anderen Megaverbrechen des 20. Jahrhunderts, gläubig. Warum? Die traditionell gläubigen Juden waren, die gläubigen Juden sind (als Gläubige eine Minderheit, doch bei Juden wieder wachsende Minderheit), trotz und nach dem Holocaust gläubig. Warum?

Jüdische und christliche Gottesgläubige eint die Urantwort auf die Urfrage nach Gottes Gerechtigkeit. Sie fragen nicht, was Gott für den Menschen, sondern was der Mensch für Gott zu tun habe, um als „Ebenbild Gottes“ Mensch zu werden.

Die Strafe Nebukadnezars, der 587 vor unserer Zeitrechnung den Ersten Jerusalemer Tempel zerstörte, konnten gläubige Juden im Sinne der Propheten als Gottes Strafe für bekannte Sünden verstehen, auch die Leidenskette der Rom-bedingten Diaspora. Authentische Überlieferungen berichten über tiefgläubige Juden, die vor ihrer Vergasung in Auschwitz gesagt hätten, dies wäre Gottes gerechte Strafe für ihre Sünden – auch wenn ihnen keine Sünden bekannt waren. Andere Juden haben die Wiederauferstehung jüdischer Staatlichkeit, die Gründung Israels, als Gottes Kontrastprogramm zum Holocaust interpretiert. Ohne das eine, nicht das andere. Die Welt ist, die Menschen sind sowohl gut als auch böse.

Hitler und andere Massenschlächter sind gerade wegen ihrer massenmörderischen Schlechtigkeit das absolute Gegenbild zum Menschen als „Ebenbild Gottes“. Über Gottes Sein oder Nicht-Sein denkt die Menschheit vor und nach dem Holocaust. Eines zeigt jedoch hoffentlich dieser Gedanken- und Faktensplitter: Als Beweis für Gottes Nicht-Sein ist der Holocaust ungeeignet.


Michael Wolffsohn, Historiker, wurde 1947 in Tel Aviv als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten geboren. Er kam als Siebenjähriger mit seiner Familie nach Deutschland. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft in Berlin, Tel Aviv und New York arbeitete er bis zu seiner Habilitation an der Universität in Saarbrücken. 1981 wurde er Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehrhochschule in München. Zu seinen Veröffentlichungen zählen „Keine Angst vor Deutschland!“, „Die Deutschland-Akte – Tatsachen und Legenden in Ost und West“ und „Meine Juden – Eure Juden“.