"Gott ist mein Leben"

Von Stefanie Oswalt · 27.11.2010
Sie selbst nannte es die "Entdeckung der göttlichen Gesetze von Leben, Wahrheit und Liebe" und begründete damit die "Christian Science, Christliche Wissenschaft." Mary Baker Eddy findet 1866 in der Lektüre der Bibel den Schlüssel zum geistigen Heilen. Während sie zu Lebzeiten mit ihrer Erkenntnis unzählige Anhänger gewinnt, ist sie heute weitgehend vergessen.
"Sie war eine der kontroversesten Gestalten dann in der Zeit. Man muss überlegen, hier ist eine Frau, die keine theologische Ausbildung hat, die öffentlich also predigt, die eine Kirche gründet, die eine wachsende und zwar rapide wachsende Schar Anhänger um sich sammelt ... die dann auch ein College gründet, ... also gerade für die Männer der Zeit und die Theologen war das schon etwas ganz Übles, dem man auch begegnen musste ..."

Britta Waldschmitt-Nelson von der Universität München hat sich für ihre Habilitation über die Christian Science in Deutschland ausführlich mit dem Leben Mary Baker Eddys beschäftigt.

"Manche haben auch gesagt, sie sei praktisch eine Reinkarnation Christi oder sie sei auf jeden Fall selbst auch irgendwie göttlich und auf der anderen Seite gab es halt Leute, die alle gesagt haben, das ist alles Humbug und Quatsch und die ist nur auf Geld aus."

Wer ist die Frau, die mit ihrer neu gegründeten Christlichen Wissenschaft so polarisiert hat? Die Schriftstellergrößen wie Stefan Zweig und Mark Twain zu – später allerdings revidierten – Hasstiraden verleitete? Als Mary Baker am 16. Juli 1821 an der amerikanischen Ostküste in Bow, New Hampshire, das Licht der Welt erblickt, deutet zunächst wenig auf eine fulminante theologische Karriere hin. Ihre Eltern sind einfache Farmer, strenge Calvinisten. Mary ist ein schwächliches Kind, ständig ist sie krank. Früh verliert sie ihren ersten Ehemann. Um ihr einziges Kind kann sie sich aus gesundheitlichen Gründen nicht kümmern. Jahrelang, erzählt Klaus-Hendrik Herr, ein Mitglied der Christlichen Wissenschaft in Berlin, ist sie auf der Suche nach Heilung für ihren siechen Körper.

"Dieses ewige Kranksein oder immer damit zu tun haben, hat auch dazu geführt, dass sie schon sehr früh damit anfing, über die Bibel Lösungen für ihre Probleme zu suchen. Und ... später hat sie sich auch mit der Homöopathie beschäftigt, weil sie immer auf der Suche war, auch nach Erleichterung für sich selbst... und die Konsequenz, die sie gezogen hat aus der Beschäftigung mit Homöopathie ,und sie hat durchaus auch selbst Versuche damit gemacht, ist, dass letztlich alles mental passiert."

6Die Begegnung mit dem damals weithin bekannten Wunderheiler Phineas Quimby bestärkt Mary Baker in ihrem Glauben an die heilende Kraft des Geistes. Initiation aber ist ein schwerer, Mary Baker Eddy sagt lebensgefährlicher, Sturz im Februar 1866, bei dem sie sich schwere innere Verletzungen zuzieht:

"Und dann nahm sie also die Bibel zur Hand und las eben diese Stelle im Evangelium, wo Jesus zu dem Lahmen sagt: 'Steh auf und geh!' Und dann hat sie auf einmal dieses 'Steh auf' – Christus sagt zu dir 'Steh auf!' - auf sich selbst bezogen und den wahren Gehalt verstanden und siehe da, schreibt sie: Sie stand auf, war geheilt, zog sich an und es ging ihr besser als je zuvor."

Britta Waldschmitt-Nelson verweist auf die Selbststilisierung, mit der Mary Baker Eddy ihre Heilung später dargestellt hat. Sicher ist aber, dass sie nun ungeahnte Kräfte entfaltet. Mit der Unterstützung von Asa Eddy, ihrem Schüler und späteren Ehemann, baut sie das Imperium der Christian Science auf. Im Oktober 1875 erscheint erstmalig Eddys Lehrbuch "Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift." Im Vorwort heißt es:

"Theologie und Naturwissenschaften lehren, dass sowohl GEIST als auch Materie wirklich und gut sind, Tatsache hingegen ist, das GEIST gut und wirklich und Materie das Gegenteil von GEIST ist. Die Frage 'Was ist WAHRHEIT?' wird durch Demonstration beantwortet – durch das Heilen von Krankheit wie auch von Sünde; und diese Demonstration zeigt, dass christliches Heilen die beste Gesundheit verleiht und die besten Menschen hervorbringt."

Mit ihrer Absage an die auf Materie fixierte Wissenschaft trifft Mary Baker Eddy den Geist der Zeit. Die beginnende Industrialisierung hat neue, psychosomatische Krankheiten hervorgebracht, Depressionen, Angststörungen, Nerven- und Rückenleiden. Vor allem wo die Schulmedizin versagt, hilft oft die Christian Science. Tausende strömen der neuen Bewegung zu.

Allein zu ihren Lebzeiten erfährt Eddys Lehrbuch in den USA 226 Auflagen. 1879 entschließt sie sich zur Gründung einer eigenen Kirche. Bald muss sie das Gebäude der Bostoner Mutterkirche erweitern lassen: 5.000 Sitzplätze fasst der 1906 eingeweihte Bau. Besonders wichtig, weiß Klaus-Hendrik Herr, war ihr zudem die Gründung ihrer eigenen Tageszeitung, des Christian Science Monitors, im Jahr 1908:

"Warum? Weil es einerseits der Regenbogenpresse entgegenwirkte, die sie als Frau auch sehr unter Beschuss hielt, andererseits aber, um Christlichen Wissenschaftlern und anderen die Möglichkeit zu geben, die Dinge zu sehen, aber in einem Licht, das eben neu ist. Und dafür ist der Monitor ja dann auch sehr bekannt geworden, für einen analytischen Stil, der offensichtlich die ganze Zeit von der Möglichkeit ausgeht, dass es Lösungen dafür gibt, oder Heilung, kann man sagen ..."

1898 gelangt die Christian Science auch nach Deutschland. Im Lande Luthers, so Britta Waldschmitt-Nelson, fallen Eddys Gedanken auf einen besonders fruchtbaren Boden: Wie anderswo auch gibt es hier ein Leiden an der Moderne, verbunden mit sogenannten "neurasthenischen" – also nervositätsbedingten - Krankheiten. Und die in Deutschland vorherrschende Philosophie des Idealismus ist für die Christliche Wissenschaft ein idealer Nährboden.

"Vor allem Kant eben mit seiner Transzendentalphilosophie, das sind schon Parallelen zu Eddys Lehre. Also dieser Antimaterialismus und diese Hinwendung zur göttlichen als rein geistiger Welt."

Nach dem Ersten Weltkrieg boomt die Christliche Wissenschaft hierzulande, berichtet Frank Schulz von der ersten Kirche Christi, Wissenschaftler in Berlin-Wilmersdorf. Etwas nostalgisch blickt er auf den gigantischen Kirchenraum seiner Gemeinde, einen 1937 fertig gestellten Bau mit 650 Sitzplätzen.

"Die Christliche Wissenschaft hier in Deutschland hatte ihre Hochzeit in den 20er- und 30er-Jahren, und damals haben keine Säle mehr gereicht für die Gottesdienste ... da gab's dann teilweise drei, vier Gottesdienste am Sonntag, um alle Leute reinzukriegen ..."

1941 wird Christian Science von den Nationalsozialisten verboten, bis dahin hat man ihre Anhänger vergleichsweise milde behandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg blüht das Gemeindeleben kurzzeitig auf, doch seit Mitte der 1950er-Jahre schwinden, wie in anderen Kirchen auch, die Mitglieder. Hinzu kommt, dass die Schulmedizin Fortschritte gemacht hat und das Angebot spiritueller Alternativen breiter geworden ist.

Mary Baker Eddy hat das nicht mehr erlebt. Als sie am 3. Dezember 1910 stirbt, ist sie auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs angekommen. Ihre letzten Worte, so wird berichtet, waren "God is my life." – Gott ist mein Leben.