"Gorleben soll leben"

Von Lutz Wilde · 21.11.2011
Zuerst protestierten die Bauern, dann kamen Atomkraftgegner aus der ganzen Republik. Seit 1977 wird in Gorleben gegen ein atomares Endlager mobil gemacht. Eine Dokumentation.
Gorleben - Phase 1. Planung und Landnahme.

1977: Geht es nach dem Willen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, dann soll Gorleben Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum werden. Geplant sind:
- ein Eingangslager für abgebrannte Brennelemente,
- eine Wiederaufbereitungsanlage,
- eine Brennelementefabrik
- eine Konditionierungsanlage, in der Atommüll verpackt wird,
- und ein Endlager unter der Erdoberfläche.

Über 15 Quadratkilometer soll sich die Anlage erstrecken. Längst nicht jeder Wendländer findet das schlimm, sagt Bruno Winkelmann:

"Die schweigende Mehrheit der hiesigen Bevölkerung arrangiert sich mit jeglicher Industrieanlage, die hier kommen würde. Und wenn es zwei Wiederaufbereitungsanlagen wären oder drei Bonbonfabriken, man würde das akzeptieren und das begrüßen, das sich industrielles Leben ansiedelt, damit die hiesigen Leute auch Verdienstmöglichkeiten haben."

Den Leuten im Wendland geht es eher schlecht 1977 - und aus Tradition wählt man stramm CDU, die Partei des Ministerpräsidenten. Protest?

"Damit wurde ja nicht gerechnet. Der Standort wurde ja auch deshalb gewählt, weil man gedacht hat, diese Region ist so stabil politisch und konservativ, dass man mit Gegenwind nicht rechnen müsste."

Rebecca Harms, Atomkraftgegnerin und grüne Europaabgeordnete, kommt aus der Region. Auch sie kennt den bösen Spruch, das Wendland sei nicht nur am dünnsten, sondern auch am dümmsten besiedelt. Gleichwohl: Unmittelbar nach Albrechts Entscheidung protestieren 20.000 Menschen. "Gorleben soll leben" lautet die Parole. Derweil sehen die wendländischen Bauern, dass das Landleben durcheinander gerät. Viel Polizei und Bundesgrenzschutz ist unterwegs - und rollt auch schon mal über private Äcker.

"Ja dann haben sich die Bauern hingestellt, da könnt ihr doch nicht lang fahren, Frechheit, dann haben die den Bürgermeister geholt, der kam mit seinen Karten an, und hat den Polizeichef gezeigt "da dürft ihr nicht fahren, das ist Privatbesitz der Bauern" …was haben die gemacht? "Die Karten schern mich nicht! Weg hier!""

Bereits 1977 gründen die aufgebrachten Landwirte wegen solchen Ärgers die bäuerliche Notgemeinschaft. Ihre Solidarität wird sogleich auf die Probe gestellt. Die DWK, Betreibergesellschaft des Atomprojekts, beginnt, Land aufzukaufen. Die Bauern versprechen sich in die Hand: "Wir verkaufen nicht". Doch die DWK droht mit Enteignungen - und so verkaufen viele Bauern - mit Folgen, wie ein Bauer schon damals bemerkte:

"Da hat die DWK 4,10 Mark für nen Quadratmeter gegeben, das hat das Gleichgewicht hier zerstört. Und dadurch schnellten die Grundstückspreise ins Utopische. Und dadurch wird's für uns alle schwerer."

Während die finanzschwachen Bauern verkaufen, bleiben Kirche und Adel der Region stur. Sie verkaufen nicht. Trotzdem kann die DWK mit der Erkundung beginnen, ob im Salzstock unterhalb von Gorleben ein Atommüll-Endager gebaut werden kann. Die Bauern protestieren: Sie stellen ihre Trecker quer und pumpen die DWK-Borlöcher mit Gülle voll. Die bäuerlichen Gülledesperados fühlen sich im Recht - frei nach dem Motto: "Unsere Scheiße stinkt nur - eure strahlt auch noch!" Man fürchtet sich vor der Atomwirtschaft und ärgert sich über den Staat, der ihr hilft. Für Andreas Graf von Bernstorff, dem Atomkraftgegner und größten Grundbesitzer der Region, ist der bäuerliche Widerstand die Wurzel von allem.

"Damals wurde von den Politikern, von Ministerpräsident Albrecht gesagt, der Widerstand dauert zwei Jahre, dann ist es vorbei und die Menschen haben sich dran gewöhnt. Aber der Widerstand ging eben weiter. Das war eine Kettenreaktion, keine atomare, eine unter den Menschen. Sie hat gezündet und der Protest nimmt nicht ab."

Gorleben - Phase 2. Der Widerstand als Spektakel

1979 fahren die Bauern vom Wendland in die Landeshauptstadt Hannover. Dort erörtern gerade Wissenschaftler auf dem Gorleben-Hearing die Atom-Risiken. Während die Bauern unterwegs sind, schreckt die Welt auf. Ein Nachrichtensprecher 1979:

"Guten Tag, meine Damen und Herren. In Harrisburg, im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania ist gestern ein Atomreaktor außer Kontrolle geraten. Wir werden nachher gleich hören wie die Chancen stehen ihn wieder so weit abzukühlen, dass es nicht zu dem kommt, was die Wissenschaftler mit den drei Buchstaben GAU abkürzen. Zum größten anzunehmenden Unfall."

Es kommt nicht zum GAU in Harrisburg, aber die Welt bekommt einen Schreck. Derweil nehmen in Hannover über 100 000 Atomkraftgegner die Trecker in Empfang. Die Medien sind auch dabei.
Ein Reporter in Hannover 1979:

"Das war das taktische Ziel der Kernkraftgegner der Bundesrepublik, sich hier zusammen zu tun und zu solidarisieren mit dem Gorlebentreck, der am vergangenen Sonntag im Kreis Lüchow-Dannenberg aufgebrochen ist. Über 100 Traktoren sind es gewesen und etwa 2000 Bewohner des Landkreises sind nach Hannover gekommen unter dem Motto "Albrecht wir kommen"."

Dem Ministerpräsidenten lassen die Wendländer einen riesigen Findling zurück. Doch der beeindruckt wenig. Das Gorleben-Hearing hingegen schon. Ministerpräsident Albrecht 1979:

"Wir haben uns erhofft, dass uns aus Rede und Gegenrede mehr Klarheit in das Projekt Gorleben gebracht werden könnte ich glaube, dass wir jetzt das notwendige Material haben, um politische Entscheidungen zu treffen."

Und das tut Ernst Albrecht: Die Wiederaufbereitungsanlage wird nicht gebaut. Doch an der Erkundung des Gorlebener Salzstocks und an den Endlagerplänen wird festgehalten. Dafür richtet die DWK Bohrplätze ein. Einer trägt die Nummer 1004 und wird im Jahr 1980 zum Mythos.

Tausende Atomkraftgegner besetzen den Bohrplatz und bauen ein Hüttendorf mit Schlagbaum. Eigene Pässe werden ausgegeben, und mit einem eigenen Sender machen die Besetzer Radio für ihre "Republik freies Wendland". Es geht nicht nur um Atomkraft, es geht auch um die Utopie einer selbst bestimmten Gesellschaft. Wolf Biermann kommt vorbei, ebenso Jusochef Gerhard Schröder. Schließlich kommen 6000 Polizeibeamte.

Die Cops schmeißen die Knüppel nicht weg. Nach 33 Tagen räumen sie das Hüttendorf - gegen den Widerstand, den Rebecca Harms organisiert.

"Also Leute, bleibt sitzen und denkt an das Versprechen, dass wir uns gegeben haben. (...) Gewalt geht nur von der Seite aus, nicht von uns!"

Es wird der bis dahin größte Polizeieinsatz der Bundesrepublik - und auch ein harter.Ein Sprecher des kleinen Radiosenders vor Ort:

"Also, Radio Freies Wendland bricht jetzt die Sendung ab, wir werden in wenigen Minuten sicher abgeräumt werden und müssen uns noch ein bisschen verstecken. Vielen Dank fürs Zuhören, der Kampf geht weiter, Venceremos, Tschüss!"

Gorleben - Phase 3: Das Wendland macht Bundespolitik

Der Entschluss des Ministerpräsidenten, keine Aufbereitungsanlage in Gorleben zu bauen, ist eine Finte. Atomgegnerin Rebecca Harms erinnert sich:

"Nachdem Albrecht gesagt hatte, die Wiederaufbereitungsanlage sei in Gorleben nicht durchsetzbar, hatte er sie dann versucht in Dragahn (lacht) 20 km westlich durchzuziehen, und das ist ihm nicht geglückt. Da gab es noch mal ganz massiven regionalen Protest und die bis dahin größten Treckerdemonstrationen der Region, und es ist ja dann auch aufgegeben worden."

Die Wiederaufbereitungsanlage soll später in Wackersdorf errichtet werden. Durch seinen angetäuschten Verzicht kann Ernst Albrecht bei Kommunalpolitikern des Wendlandes zumindest das oberirdische atomare Zwischenlager in Gorleben durchsetzen. Vor allem die Landfrauen verstehen diese Entscheidung nicht, sagt eine Bäuerin aus Dangenstorf:

"Es ist so, in den bäuerlichen Familien hier oft das Aufwachen oder Widerstand gegen die Atomanlagen in Gorleben von den Frauen ausgegangen ist."

Es sorgen sich auch die Alten im Wendland. Sie gründen die Initiative 60, deren Aktionen wie das öffentliche "Stricken für den Frieden" auch belächelt werden - zumindest bis zum 26. April 1986. An diesem Tag explodiert der Atomreaktor in Tschernobyl. Strahlung tritt aus, die Zahl der Opfer ist nicht genau zu beziffern. Rund 135.000 Menschen werden umgesiedelt. Es ist - der GAU. Nun ist Gorleben tatsächlich überall, so wie es eine Widerstandsparole aus den Siebzigern prophezeite.

"Ich glaube, dass das Erleben der Folgen eines Reaktorunfalls den Durchbruch gebracht hat für diese stabile Mehrheit, die wir in der Bundesrepublik gegen Kernenergie haben"

...sagt Rebecca Harms. Den Durchbruch bringt Tschernobyl auch für Lilo Wollny, eine muntere Seniorin aus dem Wendland. Sie schafft es in kurzer Zeit bis in den Bundestag. 1987 ärgert die gewitzte alte Dame dort die Mächtigen.

"…und Herr Töpfer war damals Umweltminister - oder Atomminister - da hab ich ihn mal so genannt und kriegte einen Ordnungsruf, das ist der Minister für Umwelt und ichweißnichwas - und anschließend hab ich dann in jeder Rede gesagt " der Herr, den ich hier nicht als Atomminister bezeichnen darf"…der hatte gesagt, wir bleiben dabei: Entsorgung durch Wiederaufarbeitung."

Der Minister, den Lilo Wollny nicht Atomminister nennen darf, setzt aufs falsche Pferd. Ende der 80er Jahre will die Atomindustrie dann doch keine teure Wiederaufbereitung des Atommülls mehr. Sie steigt aus und setzt darauf, dass in Deutschland ein Endlager geschaffen wird: Gorleben.

Gorleben - Phase 4: Der Castor kommt

Auch in den neunziger Jahren geht der Protest weiter. Bohrtürme werden besetzt, bei Demos kommen Schafherden zum Einsatz. Dabei hatten sich Politik und Wirtschaft bemüht, der Region das Projekt mit finanziellen Ausgleichszahlungen schmackhaft zu machen. 1994 bekommt der Protest ein Symbol: Den Castor. Damit soll der erste Atommülltransport ins Gorlebener Zwischenlager geschafft werden. Die Widerständler wollen den Zug auf seinem Weg übers Gleis stoppen - und das trotz eines umfassenden Demoverbots. Ein hartes Aufeinandertreffen der Atomgegner und der Polizei bahnt sich an. Doch am Transporttag im November 1994 kommt die Überraschung.
Sprecherin Bürgerinitiative)

"…hat man uns grade informiert, dass der Sofortvollzug für den Castor…(Jubel)…..aufgehoben ist…(Jubel)"

Die Demonstranten jubeln - der Castor kommt nicht. Vorerst. Wegen technischer Unregelmäßigkeiten verbietet das Verwaltungsgericht Lüneburg die Fahrt. Auch 1995, im Jahr darauf, fährt der Castor nicht planmäßig. Diesmal stört Monika Griefhahn. Die ehemalige Greenpeace-Aktivistin ist Niedersachsens Umweltministerin und verzögert, wo sie nur kann. Zum Ärger von Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU), die den Transport angeordnet hat. Merkel im Februar 1995:
"Frau Griefhahn hat verlangt, dass jetzt wieder Messungen am Castorbehälter durchgeführt werden, wir sind aber der festen Überzeugung, dass der Castorbehälter dicht ist, dass wir jetzt keine weitere Messungen mehr brauchen und das der Transport jetzt stattfinden muss."

Und so kommt im April 1995 der Castor ins Wendland. Tag X nennen das die Atomgegner, tausenden Polizeibeamten stehen tausende von Demonstranten gegenüber. Selbst Graf Bernstorff sägt eine seiner Kiefern um, blockiert damit eine Straße und setzt sich mit seiner Familie davor. Doch solch passiver Widerstand wie auch die Gewalt anderer Demonstranten halten den Castor nicht auf.

Aber: Der Transport wird teuer. 55 Millionen Mark kostet der Polizeieinsatz, und die nächsten Transporte werden noch teurer. Die Bundesregierung reagiert: 1997 setzt sie die Transporte aus.

Gorleben - Phase 5: Der Trog bleibt der gleiche. Nur die Schweine wechseln. Sagt der Volksmund.

1998. Regierungswechsel im Bund. Ein ehemaliger Gorlebendemonstrant wird Bundesumweltminister. Doch glücklich ist man im Wendland mit Jürgen Trittin nicht, obwohl der 1999 erklärt:

"Wir wollen in Gorleben die Erkundungsarbeit unterbrechen, wir wollen dann gucken, was eigentlich Kriterien für ein sicheres Endlager sein müssen. Und erst wenn diese neuen Standortkriterien sicher sind, wird man eine Aussage darüber treffen können, ob Gorleben überhaupt für eine Standortauswahl infrage kommt."

Das Erkundungsmoratorium. Für die Atomkraftgegner ist das viel zu wenig, hatte doch Kanzler Gerhard Schröder schon 1995 erklärt, er halte den Standort nicht für geeignet. Die Wendländer misstrauen Rot-Grün und dem Atomkonsens mit seinen Ausstiegsszenarien, so wie er von Politik und Atomwirtschaft diskutiert wird.

"Es geht nicht um Restlaufzeiten, nicht um Arbeitsplätze, um irgendwelche Moratorien oder um Verträge. Es geht um Leben und Tod!"

sagt Helmut Petersen von der Initiative 60 im Jahr 2000. Dann rollen wieder die Castoren, nun auf Weisung von Jürgen Trittin. Neben dem schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie ist das Teil des ausgehandelten Atomkonsens’. Wendländer wie Rebecca Harms haben Bauchschmerzen.

"Als der erste Castortransport von Jürgen Trittin genehmigt wurde, und mir war das ja klar, dass die Bundesregierung nicht diese Transporte einfach verbieten kann, aber der Konflikt damals war ja: muss man überhaupt noch demonstrieren oder kann man das nicht jetzt alles der rot-grünen Bundesregierung überlassen?"

Die Wendländer demonstrieren weiter. Nicht mehr so zahlreich wie früher, aber genauso vehement. Ein Redner bei einer Demonstration 2003:

"Das Moratorium ist noch lange nicht das Ende des Salzstocks. Man will das Problem auf die lange Bank schieben und vielleicht bröckelt der Widerstand ja mal. Und dann heißt es: Wir haben schon 1,4 Milliarden. ausgegeben. Nein! sagen wir und zeigen dem Atomstaat die rote Karte."

Der Wendland-Widerstand klingt kaum ab. Hier ähnelt er einem atomaren Brennstab. Doch die Sorge im Wendland ist groß: Wie lange wird man sich noch widersetzen, wenn mal keiner mehr guckt?

Im Jahr 2005 kehren die Grünen zurück auf die Oppositionsbank. Unter der nun regierenden großen Koalition ist Gorleben umstritten. Soll weiter erkundet werden? Oder soll es einen Vergleich verschiedener möglicher Endlager-Standorte geben? CDU/CSU, FDP und die Atomindustrie wollen an Gorleben festhalten – SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel hält im August 2009 dagegen.

"Der Standort Gorleben ist tot für ein Endlager. Zu verantworten hat das die CDU, die das auf Biegen und Brechen durchsetzen wollte."

In den 80er Jahren soll die CDU wissenschaftliche Gorleben-Gutachten verändert haben, so das Bundesamt für Strahlenschutz. Der Verdacht, die Entscheidung für Gorleben sei nicht wissenschaftlich, sondern politisch motiviert gewesen, gibt den Gegnern des Standorts Rückenwind. Doch "tot" ist ein Endlager Gorleben damit nicht. Nach der Wahl im Herbst 2009 kommt Schwarz-Gelb an die Macht – nun wird wieder lauter nachgedacht über längere Laufzeiten für Atomkraftwerke. Und über Gorleben. Im März 2010 hebt Umweltminister Norbert Röttgen den Erkundungsstopp, das Moratorium, auf. Dieses sei verantwortungslos gewesen.

"Ich möchte und bin entschlossen, die notwendigen und möglichen Schritte zu unternehmen, damit ein sicheres Endlager in Deutschland gefunden werden kann."

Röttgens Priorität in Sachen Endlager ist Gorleben. Und während sich der niedersächsische FDP-Umweltminister Hans-Heinrich Sander darüber erfreut äußert – ziehen mal wieder Atomkraftgegner mit Traktoren vor den Salzstock, regt sich im Wendland Protest.
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