Googleprojekt "Baseline"

Gesundheitsdaten für das Gemeinwohl?

04:27 Minuten
Eine blaue und eine weiße Smartwatch an je einem Handgelenk
Was Google initiiert, ist nicht weniger als die dritte Aufklärung, meint Roberto Simanowski. © imago images / Panthermedia / Ieungchopan
Von Roberto Simanowski · 24.02.2020
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Puls, Blutdruck, Schlafzyklus: Beim Big Data-Projekt "Baseline" machen sich Menschen für Google transparent. Die Mitwirkung dazu sichere sich der Konzern durch geschickten moralischen Druck, beobachtet der Publizist Roberto Simanowski.
Lange Zeit schien der Mensch der westlichen Welt jenseits jeder Utopie zu leben. Nach dem Fall der Berliner Mauer ließ sich nichts anderes einreißen als der Kapitalismus, wovon man tunlichst die Finger ließ.
Was hätte man auch an seine Stelle setzen sollen? Zumal die Postmoderne bereits alle großen Erzählungen eingerissen hatte: vom Christentum bis zum Kommunismus. Die Geschichte hatte ihr Telos verloren, für das es sich zu streiten lohnte.
So lebte man dahin im Genuss; von einem bedeutungslosen Höhepunkt zum nächsten, entwurzelt und vereinsamt. Selbst der Nationalismus taugte nicht länger als Heimat. Immerhin ist man tolerant, selbstkritisch und weltoffen. Also zog sich das "Ich" aus der Welt zurück und die Welt aus dem "Ich".

Interesse an Gesundheit verbindet alle

Damit ist nun Schluss. Unser Leben hat wieder einen Sinn über sich selbst hinaus. Nein, ich meine nicht den neuen Nationalismus, der sich anhebt, das Vakuum zu füllen. Ich meine auch keine neue Sozialutopie, die dann doch nur politische Gegner gegeneinander aufbringt. Das neue Projekt vereint alle Menschen, denn es setzt beim Interesse aller an: bei der Gesundheit.
Das Projekt heißt Baseline, gehört Google und sammelt von seinen Teilnehmern Daten zu ihrem körperlichen Befinden und täglichen Routinen: durch Interviews oder Messwerte zum Ess-, Schlaf- und Bewegungsverhalten. Damit die Daten ungetrübt von subjektiver Wahrnehmung sind, werden sogenannte "Wearables" eingesetzt: Geräte, die automatisch Puls, Blutdruck und Schlafzyklus messen.
Man verspricht sich neue Erkenntnisse über Krankheitsursachen und -verläufe und hofft auf Einsichten in bisher unbedachte Korrelationen. Es wäre aus heutigem Kenntnisstand wohl absurd, eine Beziehung zwischen einem bestimmten Musikgeschmack und dem Ausbruch einer bestimmten Krankheit anzunehmen. Aber wie anders als durch ein solches Big Data-Projekt ließe sich eine solche Korrelation entdecken?

Auftakt einer dritten Aufklärung

Was Google initiiert, ist nicht weniger als die dritte Aufklärung. Sie erinnern sich gewiss: Die erste Aufklärung, Ende des 18. Jahrhunderts, beschrieb der Philosoph Immanuel Kant als "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit".
Die zweite Aufklärung, die Postmoderne Ende des 20. Jahrhunderts, radikalisierte diesen Ausgang zu einer Skepsis, die selbst die Emanzipationserzählung der ersten traf. Am Ende blieb nichts übrig, an das man noch glauben konnte, außer die Skepsis selbst.
Die dritte Aufklärung überwindet das Patt, ohne deswegen eine neue große Erzählung zu entwickeln. Alles was sie will, sind große Mengen an Zahlen: Big Data, wie das heute heißt – Big Data für die Gesundheit.
Die dritte Aufklärung fordert vom Menschen nicht den "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit", sondern lediglich den Zugang zu den selbstproduzierten Daten. Was für ein Unterschied! Man muss sich nicht ändern, man muss nur transparent werden. Muss man?
So sagt es Google natürlich nicht. Google ermuntert nur: "join us and make your mark on the map of human health". Aber wer die selbstverschuldete Unmündigkeit überwunden hat, ahnt, wohin das führt.

Zur Arbeit an der Gattung verpflichtet

Zum einen nämlich wieder zu Kant, der am moralischen Zwang zur Aufklärung keinen Zweifel ließ. Zitat: "Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten."
Anders gesagt: Aufklärung ist Arbeit an der Gattung, der sich keines ihrer Exemplare entziehen darf.
Zum anderen verlangt die Mitarbeit an Googles Projekt letztlich doch mehr, als bloß seine Daten zu teilen. Natürlich soll man sie auch verbessern. Das Schlagwort heißt: Selbstoptimierung. Und was wäre dagegen einzuwenden, wenn es doch um Gesundheit geht! Oder?
Sagen wir so: Früher war beim Weltverbessern fast immer Gewalt im Spiel. Inzwischen geht sowas, ohne dass man eine politische Theorie umarmen oder eine Waffe in die Hand nehmen muss. Fortschritt für alle ohne Blutbad. Was auch immer man von Google hält, diese Quadratur des Kreises muss man ihm erst einmal nachmachen!

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).

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