Goldgrube Apokalypse
Nichts verkauft sich in Deutschland besser als die Ankündigung des bevorstehenden Untergangs – wahlweise des Abendlandes, der Nation oder der gesamten Menschheit. In den achtziger und neunziger Jahren konnte man sich vor allem mit Öko-Apokalypsebüchern eine goldene Nase verdienen.
Mal war das Waldsterben nicht mehr aufzuhalten, mal sollte uns das Ozonloch in Kürze den Garaus machen oder der Klimawandel unsere Lebensgrundlagen zerstören. Zwischendurch waren die Deutschen auch einmal fest davon überzeugt, in Bälde vom Rinderwahnsinn dahingerafft zu werden.
Die Ökoangst lässt sich noch immer jederzeit aktivieren, aber als Verkaufsschlager in Sachen Katastrophenprophetie hat sie ernsthafte Konkurrenz bekommen. Eine neue Sparte hat sich aufgetan, die Verlagen und Autoren Bestseller garantiert. Sie diagnostiziert den moralischen Super-GAU unserer angeblich verkommenen, vom Werteverfall zermürbten westlichen Spaßgesellschaft.
Besonders erfolgsträchtig sind in dieser Abteilung solche Untergangsvisionen, in denen die aktuelle Geheimwaffe apokalyptischer Kassandrarufer in Stellung gebracht wird: die demographische Zeitbombe. Wegen chronischem Kindermangel würden demnächst nicht nur unsere sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen, wir würden auch in ein Volk von atomisierten Egoisten mutieren, ohne jeden Sinn für Verantwortung, Opferbereitschaft und Gemeinsinn. Denn nur in der kinderreichen Kernfamilie lernt der Mensch angeblich Wertebewusstsein und Bürgertugend.
Doch entgegen dem altbekannten kulturpessimistischen Klagelied nehmen Bindungen in modernen offenen Gesellschaften nicht ab, sondern zu. Früher mag die Sippe vielleicht noch zusammengehalten haben wie Pech und Schwefel, an ihrer Grenze aber war Schluss mit dem Mitgefühl für andere. Je mehr traditionelle, von der Blutsabstammung determinierte Sozialzusammenhänge sich auflösen, umso mehr sind die Einzelnen gezwungen, zu vielen Fremden verlässliche Sozialbeziehungen aufzubauen.
So genannte „Patchwork“-Familien vergrößern, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, den Radius verwandtschaftlicher Beziehungen, statt ihn zu reduzieren. Nie zuvor war zudem das gesellschaftliche Mitgefühl gegenüber Armen und Schwachen so groß und weit verbreitet wie heute. Das heutige Ausmaß öffentlicher Anteilnahme etwa an den Problemen Behinderter, am Schicksal misshandelter Kinder, am Leid von Gewaltopfern insgesamt wäre noch vor dreißig Jahren undenkbar gewesen. In den vermeintlich guten alten Zeiten galten Prügel für die Kinder oder gar für die Ehefrau noch nicht einmal als etwas Verwerfliches.
Richtig seltsam wird es, wenn man uns ausgerechnet die vermeintlich intakten muslimischen Großfamilien als Vorbild für vitale Sozialverbände hinstellen will. Deren patriarchale, autoritäre Struktur ist schließlich eines der Haupthindernisse für die Integration der muslimischen Minderheit in unsere säkulare, pluralistische Werteordnung. Verbrechen wie die berüchtigten „Ehrenmorde“ zeigen überdies, in welcher tiefen Krise diese archaischen Zwangsgemeinschaften in Wirklichkeit stecken.
Einerseits malen die Kulturpessimisten die drohende Islamisierung unserer Kultur an die Wand. Andererseits empfehlen sie, zwecks Rettung des christlichen Abendlandes die Wertvorstellungen der gefürchteten Fremdkultur zu imitieren.
Der logische und faktische Unsinn dieser Thesen wird ihrem Erfolg keinen Abbruch tun. Denn nichts erzeugt beim Publikum ein wohligeres Gruseln als der apokalyptische Rundumschlag. Er enthebt uns davon, nach konkreten Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Missstände und Probleme in Staat und Gesellschaft zu suchen. Wenn wir nämlich ohnehin verworfene und verkommene Subjekte sind, können wir ja ebenso gut weitermachen wie bisher mit den Verhältnissen, in denen wir uns in Wahrheit nach wie vor nur allzu wohl fühlen.
Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als außenpolitischer Redakteur bei der „Welt am Sonntag“. Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden „Weltwoche“ und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung „Die Zeit“ gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: „Die Tyrannei des Gemeinsinns – ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft“ und „Republik ohne Mitte“.
Die Ökoangst lässt sich noch immer jederzeit aktivieren, aber als Verkaufsschlager in Sachen Katastrophenprophetie hat sie ernsthafte Konkurrenz bekommen. Eine neue Sparte hat sich aufgetan, die Verlagen und Autoren Bestseller garantiert. Sie diagnostiziert den moralischen Super-GAU unserer angeblich verkommenen, vom Werteverfall zermürbten westlichen Spaßgesellschaft.
Besonders erfolgsträchtig sind in dieser Abteilung solche Untergangsvisionen, in denen die aktuelle Geheimwaffe apokalyptischer Kassandrarufer in Stellung gebracht wird: die demographische Zeitbombe. Wegen chronischem Kindermangel würden demnächst nicht nur unsere sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen, wir würden auch in ein Volk von atomisierten Egoisten mutieren, ohne jeden Sinn für Verantwortung, Opferbereitschaft und Gemeinsinn. Denn nur in der kinderreichen Kernfamilie lernt der Mensch angeblich Wertebewusstsein und Bürgertugend.
Doch entgegen dem altbekannten kulturpessimistischen Klagelied nehmen Bindungen in modernen offenen Gesellschaften nicht ab, sondern zu. Früher mag die Sippe vielleicht noch zusammengehalten haben wie Pech und Schwefel, an ihrer Grenze aber war Schluss mit dem Mitgefühl für andere. Je mehr traditionelle, von der Blutsabstammung determinierte Sozialzusammenhänge sich auflösen, umso mehr sind die Einzelnen gezwungen, zu vielen Fremden verlässliche Sozialbeziehungen aufzubauen.
So genannte „Patchwork“-Familien vergrößern, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, den Radius verwandtschaftlicher Beziehungen, statt ihn zu reduzieren. Nie zuvor war zudem das gesellschaftliche Mitgefühl gegenüber Armen und Schwachen so groß und weit verbreitet wie heute. Das heutige Ausmaß öffentlicher Anteilnahme etwa an den Problemen Behinderter, am Schicksal misshandelter Kinder, am Leid von Gewaltopfern insgesamt wäre noch vor dreißig Jahren undenkbar gewesen. In den vermeintlich guten alten Zeiten galten Prügel für die Kinder oder gar für die Ehefrau noch nicht einmal als etwas Verwerfliches.
Richtig seltsam wird es, wenn man uns ausgerechnet die vermeintlich intakten muslimischen Großfamilien als Vorbild für vitale Sozialverbände hinstellen will. Deren patriarchale, autoritäre Struktur ist schließlich eines der Haupthindernisse für die Integration der muslimischen Minderheit in unsere säkulare, pluralistische Werteordnung. Verbrechen wie die berüchtigten „Ehrenmorde“ zeigen überdies, in welcher tiefen Krise diese archaischen Zwangsgemeinschaften in Wirklichkeit stecken.
Einerseits malen die Kulturpessimisten die drohende Islamisierung unserer Kultur an die Wand. Andererseits empfehlen sie, zwecks Rettung des christlichen Abendlandes die Wertvorstellungen der gefürchteten Fremdkultur zu imitieren.
Der logische und faktische Unsinn dieser Thesen wird ihrem Erfolg keinen Abbruch tun. Denn nichts erzeugt beim Publikum ein wohligeres Gruseln als der apokalyptische Rundumschlag. Er enthebt uns davon, nach konkreten Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Missstände und Probleme in Staat und Gesellschaft zu suchen. Wenn wir nämlich ohnehin verworfene und verkommene Subjekte sind, können wir ja ebenso gut weitermachen wie bisher mit den Verhältnissen, in denen wir uns in Wahrheit nach wie vor nur allzu wohl fühlen.
Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als außenpolitischer Redakteur bei der „Welt am Sonntag“. Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden „Weltwoche“ und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung „Die Zeit“ gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: „Die Tyrannei des Gemeinsinns – ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft“ und „Republik ohne Mitte“.