Goldbrand und Goldbordüre

Von Ernst-Ludwig von Astern |
Die goldene Bordüre zieht sich durch alle Räume. Die Wände schmückt eine edle Strukturtapete. Im Gemeinschaftsraum: Stuck mit Kronleuchter an der Decke, Fischgrätparkett auf dem Fußboden. In Berlin-Schöneweide steht das "schönste Obdachlosenheim der Welt". 21 Männer leben hier, betreut vom Diakonischen Werk. Sie sind seit zwei Wochen auch Teil des Kunstwerkes "Reichtum 2". Die Konzeptkünstlerin Miriam Kilali hat das alte Männerwohnheim umgestaltet. Finanziert durch mehr als 100.000 Euro Spenden. Für Kilali ein Versuch, den Obdachlosen mit künstlerischen Mitteln "Respekt und Würde" zurückzugeben.
Hundegebell hallt durch den S-Bahnhof Berlin-Schönweide. Berufspendler hetzen an kalten, grüngelb gekachelten Wänden vorbei. Neben dem Fahrkartenschalter bröckelt der Putz von der Decke. Drei polnische Punks betteln um Kleingeld. Kaum jemand gibt etwas.

Miriam Kilali eilt durch die Bahnhofshalle. Richtung Ausgang. Über dem wirbt ein meterbreites Schild einer Wohnungsbaugesellschaft: "Zuhause bei uns". Die Kreuzberger Künstlerin würdigt es keines Blickes

"Ich wollte ...- das man nicht das Gefühl hat, das es ein Wohnheim für Obdachlose ist, sondern das man denkt, wow, wo bin ich hier gelandet, und as könnte alles mögliche vielleicht ein kleines Hotel, also man kommt gar nicht auf die Idee, dass das ein Heim für ehemals Wohnungslose ist ... "

Miriam Kilali verlässt den Bahnhof, wartet vor einer Ampel. Es regnet in Strömen. Sechsspurig donnert der Verkehr über die Michael-Brückner-Straße. Drei Fahrbahnen stadtein, drei stadtauswärts. Auf der linken Seite: Zwei Tankstellen, eine KFZ-Werkstatt, eine Auto-Zulassungsstelle, ein Schnellrestaurant. Auf der rechten Seite: Ein alter roter Backsteinbau, ein Sonnenstudio. Dazwischen graue Fassaden.

Kilali wechselt auf die andere Straßenseite. Geht vorbei an grauen Fassaden. "Rheinfinanz – Versicherungs-und Wirtschaftsberatung", wirbt ein verblichenes Werbeschild. An einer verfallenen Hausfassade. "Schöneweide" heißt der Bezirk, "Schweineöde" spotten die Berliner.

Die Künstlerin klingelt am Haus Nummer 3. Warmgelb leuchtet die Fassade. Ein Farbtupfer in der Tristesse. 2007 kommt sie das erste Mal hierher. Seitdem ist sie immer wieder da.

Kilali: "Man kam in einen sehr kühlen Raum, es war alles mit Kacheln ausgeschlagen, so blau, graue Kacheln, es sah ein bisschen aus wie in der Fleischerei, um ehrlich zu sein."

"Haus Schöneweide" steht heute wie damals an der Eingangstür. Und "Wohnen, Beraten, Betreuen".

Kilali: "Ich hab Terrakotta-Fliesen gelegt, damit dass so ein bisschen südländischen Flair bekommt, wir haben alle Kacheln abgeschlagen, neue Wände eingezogen und habe dann angefangen, Pilaster an die Wände, Goldbordüre, Stuckelemente ja, alles um so eine Atmosphäre zu schaffen, wie man sie im Süden vorfindet, also ein bisschen italienisch."

Zwei Clubsessel stehen im Eingangsbereich. "Entree", sagt die Künstlerin. Dunkles Leder, elegant. Auf dem kleinen Beistelltisch liegen Zeitschriften. Von der hohen Decke hängt ein vergoldeter Kronleuchter. Miriam Kilali blickt nach rechts. Am Ende eines schmalen Flurs liegt das Büro von Leiterin Edeltraud Hörnschemeyer. Die Tür steht offen. Gibt den Blick frei auf mehr als ein Dutzend rotverpackter Geschenke, die von der Decke hängen.

Kilali/Hörneschemeyer: "(Adventskkranz im Flur) das sieht wirklich hinreißend aus, das ist ja traumhaft, schön, ne, ein schöner Blick, richtig schön!"

Edeltraud Hörnschemeyer freut sich über das Kompliment. 15 Monate haben Künstlerin und Heimleiterin hier zusammen gewerkelt, die beiden Mittvierzigerinnen den Umbau des dreistöckigen Gebäudes vorangetrieben. Arbeitstitel: "Reichtum 2 - Das schönste Obdachlosenheim der Welt".

Hörnschemeyer: "Es ist ein Wohnheim für seelisch behindert Männer, so ist die korrekte Bezeichnung. "Seelisch behinderte Männer" bedeutet: Suchterkrankungen, Schizophrenie, Depressionen oder andere psychiatrische Erkrankungen. Diagnostiziert sein muss aber die Alkoholabhängigkeit. Wir haben hier 21 Plätze."

Jeder der männlichen Bewohner hat ein Suchtproblem, alle hat der Alkohol vor Jahren aus der Bahn geworfen.

Hörnschemeyer: "Wir sagen, wir akzeptieren deren Krankheit, wir akzeptieren, das sie weiter trinken müssen, erst mal. Das ist das Anliegen das die Bewohner, die Bewerber, haben. Und wir arbeiten eben akzeptierend und versuchen langfristig die geeignete Hilfemaßnahme zu finden."

Kilali hängt ihren Mantel über einen Bürostuhl. Hörnschemeyer holt eine Tasse Kaffee. Dienstbesprechung.

"Du bist heute der Plätzchenbackchef ... . Heute ist hier Weihnachtsplätzchenbakcen, kann Mario nicht alleene machen, was ist denn mit Lutz, haste Lutz gesehen."

In der großen Küche nebenan trommelt Altenpfleger Mario seine Gedächtnis-Gruppe zusammen. Wie jede Woche. Drei Männer, zwischen 50 und 63. Alle sehen viel älter aus, als sie sind. Der kleine Jürgen, der große Günther, Detlef, der Konditorsohn.

"Günther kommste hier rüber, Küche, wo haben wir denn den Detlef, der ist schon losgezogen."

Detlef trinkt noch eine Kasse Kaffe im Nebenraum. Unterhält sich mit Fritz. Jürgen ist noch nicht in Sicht. Und Günther sucht gerade seine Zigaretten. Altenpfleger Mario nimmt es gelassen.

Mario: "Fritz ich unterbreche dich nur ungern."
Fritz: "Ich weiß, Plätzchen."

Zwei Rezepte warten – in Plastikhüllen verschweißt – auf der Arbeitsfläche. Vanillekipferl und Butterplätzchen. Daneben die Zutaten. Mehl, Eier, Zucker

Mario: "Detlef dann müssten wir uns entscheiden, wo möchtest Du ran, an die Vanillekipferl, wollen wir damit anfangen, okay? Ich besorg uns mal ne Schüssel, schau Du mal ob irgendwo der Mixer hier unten ist ... . (wühl) Schüsseln."

Mario holt die Schüssel. Detlef sucht den Mixer. Kleine gelbe Zettel kleben an den großen Hängeschränken. Verraten den Inhalt. Detlef geht von Schranktür zu Schranktür. Der schlanke Endfünfziger mit dem dichten grauen Haar und der rotgeäderten Nase, bewegt sich langsam. Fast wie in Zeitlupe.

Im Schrank außen rechts findet Detlef den Mixer, legt ihn auf die Arbeitsplatte. Da wartet schon Günther. Blickt unschlüssig. Altenpfleger Mario fingert eine Vanilleschote aus einem Plastikröhrchen. Hält sie Günther unter die Nase.

Mario: "Woran erinnert Dich denn das?" (Riecht)
Günther: "Ist das Vanille? Riecht jedenfalls wie das, irgendwat Vanilliges. " Mario: " "Is ne Vanilleschote."
Günther: "Ne Schote, kenn ich noch gar nicht."

Günther fährt sich über den gepflegten grauen Schnauzbart. Lächelt verwundert. Riecht noch einmal. Lächelt wieder. Der 60-Jährige leidet am sogenannten Korsakow-Syndrom. Einer alkoholbedingten Demenz. Manchmal kann er sich erinnern. Manchmal nicht.

Mario: "Wir machen erst mal die Zutaten zusammen. Und dann kommt der Mixer von Detlef rüber. Soo, was brauchste? Leg Dir das erst mal alles zurecht."
Günther: "Naja gut: Puderzucker."
Mario: "Wie viel haste drinne in dem Puderzucker-Paket?"
Günther: "1250, davon die Hälfte auf deutsch."

Heimleiterin Hörnschemeyer und Künstlerin Kiliali steigen die abgeschliffene Holztreppe empor. Kilali dunkelhaarig, mit schwarzem Rollkragenpullover, dunkler Hose. Hörnschemeyer blond, mit Jeans, lila Hemd und knalligem Pullunder. Über den roten Sisalteppich geht es nach oben. Zu den Wohnungen.

Kilali: "Das Treppenhaus ist atmosphärisch so ein bisschen gestaltet in bordeauxrot. Es ist mit Strukturtapete so ein bis in ein Meter Höhe versehen, die goldeingewirkte Fäden hat. Darüber läuft die Goldbordüre, de zieht sich auch durchs ganze Haus als Element, als Reichtumselement und dann halt Bordeaux farbener Sisalteppichboden, der das Ganze abrundet."

Edeltraut Hörnschemeyer nickt. Und lächelt. Vor acht Jahren eröffnet das Diakonische Werk hier das Wohnprojekt:

Hörnschemeyer: "Das war vorher ein einfaches Hotel für Monteure. Und insofern die Ausstattung einfach aber gut, letztendlich."

Stabil und abwaschbar, mehr praktisch als komfortabel. Nicht elegant. Aber effizient. Dann kommt Miriam Kilali. Und überzeugte Hörneschmeyer und die Diakonieleitung von ihrem Projekt. Reichtum für Arme

Kilali: "Was ist naheliegender, als Menschen, die mal auf der Straße gelebt haben oder leben denen einfach einen schönen Ort zu schaffen, wo sie sich von den Strapazen erholen können aber auch den Schicksalsschlägen. Und der zweite Aspekt war auch ein bisschen so ihnen Würde und Respekt zurückzuschenken. "

Ein Bewohner kommt die Treppe herauf, eine Flasche Limonade in der Hand. Freudig begrüßt er die Künstlerin. Zeigt seine neue Baseballkappe.

Kilali: " "Hallo, ... wirkt die Spritze? Die Mütze ist schick! Besser als meine, Cola habe ich mir gekauft von meinem Geld ... . Das war jetzt zum Beispiel einer der Bewohner, der sich ein New York-Foto ausgesucht hat."

Ein Foto aus ihrer Kollektion. Das hängt nun bei ihm im Zimmer. Kunst und Armut – das ist eine Verbindung, die Kilali seit ihrem Kunst-Studium umtreibt:

" Also Armut und Kunst, es ist eigentlich so entstanden, dass ich während meines Studiums ehrenamtlich gearbeitet habe in einer Beratungsstelle. Da ging es darum, dass man Menschen, die auf der Straße leben, berät, wo sie was bekommen. Und mir ist aufgefallen, dass die meisten, die da vorbeikamen, immer so ein bisschen ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit ausgestrahlt haben. Und das hat mich sehr bedrückt. Und da wollte ich was tun." "

Das Motto: Kunst trotzt Armut. Schönheit für alle. Und vor allem für die, die viel verloren haben. Mit dieser Idee überzeugte sie das erste Mal Sponsoren in Moskau. 2006 entsteht so Hotel Marfino – ein von Kilali umgestaltetes Obdachlosenheim. Und so überzeugt sie auch Heimleiterin Hörnschemeyer. Und das Diakonische Werk. Kilali verspricht damals, sich um Sponsoren zu kümmern. Mehr als 116.000 Euro kommen zusammen.

Kilali: "Was mir halt auch ganz einfach Wichtigste ist, dass man halt eine warme aber gleichzeitig auch helle Atmosphäre schafft."

Leuchtend zieht sich eine Goldbordüre durchs Treppenhaus. Jedes Stockwerk ist farblich anders gestaltet, das Treppenhaus das verbindende Element. Und die Deckenbeleuchtung. Gesponsert von einem Hersteller in Italien:

Kilali: "Eines der Elemente, die mit Reichtum zu tun haben, sind Kronleuchter, die habe ich überall im Haus angebracht."

Das Kristall funkelt. Das Licht reflektiert glitzernd auf der Goldbordüre. Die zieht sich auf der Strukturtapete durch das gesamte Gebäude.

In der Küche ist die Gedächtnis-Gruppe im Back-Einsatz. Günther, der ehemalige Taxiunternehmer, studiert die Rezepte. Detlef, der Konditorsohn, beugt sich zusammen mit Jürgen, dem ehemaligen Kranfahrer, über die Schüssel mit Kipferl-Teig.

Mario: "Vanillekipferl. Haste schon mal Vanillekipferl gemacht? Das sieht gut aus Detlef!"

Detlef rollt langsam den Teig zwischen den Handflächen. Jürgen steht daneben, schaut skeptisch. Mario greift in die Schüssel, formt einen kleinen Teigball, demonstriert die Roll-Technik...

Mario: "Jürgen, schau mal, ungefähr so von der Größe. Ein bisschen dünner machen Detlef, sonst backen die uns nicht durch."

Detlef und Jürgen rollen den Teig. Formen Kipferl nach Kipferl. Mario steht daneben, lächelt aufmunternd.

Mario: "Und was war bei euch Weihnachten so angesagt?"

Jürgen: "Naja, ein paar Herzen gemacht, und so ausgestochen, ja, hat Spaß gemacht, das schmeckt besser, als die gekooften."

Mario: " Wie war es bei euch Detlef, was gab s bei euch zu Weihnachten zum Kaffee? "

Detlef: "Torte, Vadder war doch gelernter Bäcker und Konditor. Bloß da habe ich ja immer in der Küche mitgeholfen, für mich gab es kein Mittag."

Detlef grinst. Früher stopft er den Teig nur so in sich hinein. Heute fasst er nichts Süßes mehr an. Mario nickt. Der große schlanke Altenpfleger mit den exakt gestutzten Koteletten freut sich über jede Nachricht aus der Vergangenheit, die zeigt, dass das Gedächtnis arbeitet.

Mario: "Und sonst so Stollen, gab es so was, so richtiges Weihnachtsgebäck auch?"

Detlef: "Stollen hat immer mehr die Oma gemacht."

Jürgen: "Wir Haben immer welche gekriegt von Vader seine Geschwister, richtig Dresdener Stollen, sehr schön."

Detlef: "Vadder hat sich immer mehr um die Torten gekümmert und Mutter das andere gemacht."

Langsam füllt sich das Backblech mit Kipferln. Erinnern sich die Männer an Weihnachten.

Mario: "Was war denn für euch immer das Schönste an Weihnachten?"

Jürgen: "Den Tannenbaum schmücken, das hat Spaß gemacht."

Detlef: "Weihnachtsbaum kaufen das Aussuchen und so, das hat immer Spaß gemacht, aber ... ."

Jürgen rollt den Teig zwischen den Handflächen immer schneller, drückt immer fester. Die Kipferl verlieren die Form.

Mario: "Jürgen, wir haben Zeit, wir sind nicht auf der Flucht! Damit die alle gleichmäßig backen, müssen die gleich groß sein, sonst sind die hier durch und die hier halb roh."

Jürgen nickt, rollt langsamer, drückt weniger. Er ist mit seinen Gedanken gerade woanders. Günther stellt die Ofentemperatur auf 190 Grad.

Mario: "Ja, ja, dann können wir die erste Tour ja schon reinschieben, Ofen auf, rein."

Mario dreht den Timer auf 12 Minuten. Detlef wischt sich die Hände am Handtuch ab. Holt sich eine Tasse Kaffee. Jürgen steht weiter neben der halbvollen Teigschüssel.

Mario: "So, Jürgen, machs'te auch mal ein bisschen Pause? Danke!"

Jürgen wäscht sich die Hände, schenkt sich eine Tasse Tee ein. Viertelvoll. Steigt langsam die Holztreppe nach oben. In den zweiten Stock. Er will Miriam Kilali treffen. Meist, wenn sie kommt, besucht sie ihn.

Kilali: "Hier ist zum Beispiel ein grüner Flur, also die Strukturtapeten gibt es in unterschiedlichen Farben, werden sich auch gleich sehen, in Blau, Rotgoldgelb und Weißgold."

Miriam Kilali und Edeltraud Hörnschemeyer inspizieren den zweiten Stock. Die Künstlerin ist zufrieden, alles präsentiert sich im genutzten aber guten Zustand:

"Es sind auch so kleine spielerische Sachen, ich habe halt auch so kleine Bilderrahmen anstatt Türschilder angebracht, damit das auch einfach vom Stil auch immer zusammenpasst."

Die Türschilder sind einheitlich gestaltet. 212 steht in dem kleinen Bilderrahmen neben Jürgens Tür: Jeder der Männer, die hier wohnen, hat sich für eine persönliche Einrichtung entschieden. Jürgen kommt dazu, bittet in sein Zimmer.

Kilali: "Hier haben wir jetzt ein grünes Zimmer, das von Herrn Roscher. Jeder Bewohner durfte sich natürlich auch aussuchen, welche Farbe er haben wollte, also jetzt von der Strukturtapete. Und hier sehen Sie auch ein Bild, das er sich ausgesucht hat, in dem Fall eine Fotografie von Kalifornien. Ja und die Möbel sind halt neu."

Jürgen setzt sich aufs Bett, nimmt einen Schluck Tee. Lächelt. Er kommt von der Toilette. Hat sich das Resthaar ordentlich nach hinten gekämmt. 63 Jahre ist er alt. Das Leben hat tiefe Falten in seinem Gesicht zurückgelassen. Bauschlosser lernt er einst, arbeitet Turmdrehkranführer. Dann kommt der Alkohol. Und nichts geht mehr. Jürgen verliert erst die Arbeit, dann die Wohnung. Lebt lange auf der Straße. Vor fünf Jahren kommt er hier ins Wohnheim. Irgendwann schaut Miriam Kiliali vorbei. Zeigt ihm Fotos von einem Moskauer Obdachlosenwohnheim: Bunte Wände, Goldrahmen mit monochromen Bildern. Stuck an der Decke.

Jürgen: "Ich denke, na, lass sie mal machen, sie macht das schon richtig, jaja."

Natürlich ist er skeptisch am Anfang. Aber dann beginnen wirklich die Bauarbeiten. Erst wird der Boden abgeschliffen, dann verschwinden das alte Blau, kommen die neuen Tapeten. Jürgen entscheidet sich in seinem Zimmer für die grüne Variante:

"Grün ist die Hoffnung, man gibt sie nie uff, vor alen Dingen grüün ist doch ne schöne Farbe."

Der 63-Jährige stellt die Tasse beiseite. Legt die Hände in den Schoss. Blickt vom Bett durchs Zimmer. Der Kronleuchter wirft ein helles, aber warmes Licht auf das Laminat. Eine neue weiße Kommode steht in der Ecke. Darauf ein kleiner Fernseher. An der Wand hängt ein großes Foto: Ein Blick über den Strand aufs Meer. Eine Aufnahme aus der Kilali-Sammlung..

Jürgen: "Wasser, beruhigt, ne die schönen Wellen, dat beruhigt, eigentlich müßte da ne Insel sein, das sieht gut aus das Bild, mir gefällt dat."

Jürgen greift zur Tasse, nimmt noch einen Schluck Tee. Wiegt langsam den Kopf von links nach rechts. Er fühlt sich wohl, sagt er. So wohl, wie schon lange nicht mehr:

"Jetzt ist es gemütlicher, das ist astrein, jetzt gefällt es mir, wie es jetzt ist."

Da lächelt die Künstlerin. Und die Heimleiterin freut sich. Jürgen steht auf, streicht seine Stoffhose glatt. Er muss wieder runter. In die Küche. Die Plätzchen sind gleich fertig.

Mario: (Ofen auf)"Oooh, die kommen langsam!"

Ein süßer Vanillegeruch zieht durch die Küche. Die Hände von Detlef und Günther sind tief im Teig. Arbeiten am nächsten Plätzchenblech.
Günther/ Mario: "Und wenn Du damit durch die Haare gehst, dann bleiben die Haare auch so liegen. Ich habe e früher immer Brisk genommen, das war auch so eine Creme. Früher war das der Elvis Haarschnitt, so nach hinten, Tolle, Zuckerwasser genommen, kenne ich ooch."

Günther ist in Fahrt. Der ehemalige Taxiunternehmer schwärmt. Von seiner Zeit als Frauenschwarm.

Mario: "Auch mal Elvistolle gehabt, Detlef?"

Detlef schüttelt den Kopf. Nein, Elvistolle, das war nicht seine Sache. Im Gegenteil:

"Ich habe meine Mutter damit geschockt, ich habe ja nun mal sehr lockige Haare. Und dann bin ich zum Friseur gegangen und habe mir nen Mecki schneiden lassen. Und meine Mutter hat erst mal nicht mehr mit mir gesprochen. Und ich war so stolz auf meinen Mecki, ja, da ist meine Mutter bald, dat war nischt."

Der Plätzchenduft wird immer intensiver. Jürgen kommt dazu. Lugt in die Ofenröhre. Goldbraun liegen die Kipferl auf dem Blech.

Mario / Günther / Detlef: "Deine Handschuhe. Na gut, Handschuhe musste anziehen, damit man die Fingerabdrücke nicht sieht. Detlef, komm mal her, das wir abchecken können, Detlef? Ja. Du hast den Vater als Konditor, du kennst dich aus. Was meinste, wollen wir rausholen? Halt, halt, kommt gleich ne neue Fuhre rein!"

Raus mit den Kipferln. Rein mit dem nächsten Blech. Dann macht die Gedächtnisgruppe Pause. Geht in den Aufenthaltsraum. Dort warten gut ein Dutzend Mitbewohner. Beim Spiele-Nachmittag.

Goldgelb schimmert die Strukturtapete, an der Decke funkeln die Kristalllüster. An der Wand große Goldrahmen. Darin monochromatische einfarbige Kunst. Rote Ledersofas stehen auf edlem Fischgrätparkett. Auf der Anrichte einige Weihnachtssterne, auf den Tischen: Kaffee, Kuchen, Aschenbecher. Draußen dröhnen die LKW vorbei.

Miriam Kilali und Edeltraut Hörnschemeyer sitzen hinten in der Ecke, beim großen Fernseher. Trinken Kaffee, beobachten die Bewohner:

Kilali: "Ich möchte nicht nur aufmerksam machen oder ein Zeichen setzen, ich möchte eingreifen, ich möchte eine neue Realität schaffen, damit mach sich auch klar macht, wir müssen uns nicht abfinden mit bestimmten Strukturen in der Welt, wir können sie ändern."

Edeltrau Hörnschemeyer nickt. Eine neue Realität. Die manchmal in die Irre führt:
"Nicht weit von hier gibt es ein Hotel. Und es waren eben schon mehrere Passanten, die geklingelt haben und die gesagt haben, die wollten gerne einchecken... Und eben einfach weil man reinkommt, das Foyer ist ja auch sehr schön gestaltet, insofern ist das total toll, wenn so etwas geschieht."

Die Gedächtnis-Gruppe macht es sich in einer Ecke bequem. Die Zigaretten qualmen. Günther gibt Frauengeschichten zum Besten:

"Ich habe ja immer zwei Frauen zur Auswahl. Einmal die Nathalie, die ist Zahnärztin. Und Marianne, das ist neben dem Brückeladen, die Kneipe."

Stammkunde ist er. Damals. Als sein Taxigeschäft noch lief. Dann stirbt seine Frau, Günther fängt an zu trinken. Und hört nicht wieder auf. Verlor erst das Geschäft, dann die Wohnung. Die anderen nicken. Sie kennen solche Geschichten.

Mario: "Jürgen, dat Ergebis, nimm Dir mal eene, Hansi, Günther, ran hier."

Mario kommt mit einem Teller Kekse aus der Küche. Alle greifen zu. Nur Detlef nicht. Der Konditorsohn. Der schon lange nichts Süßes mehr isst.

Jürgen: "Und juut, gut geworden, super."

Jürgen fährt sich durchs nach hinten gegelte Resthaar. Lehnt sich auf dem roten Ledersofa zurück. Unter dem Bild im Goldrahmen. Von Miriam Kilali. Der 63-Jährige lächelt.
Roscher: "Hat sie wirklich gut gemacht, da hat sie sich wirklich was einfallen lassen, und das ist auch gelungen, das ist astrein, ja." (lacht)

Feierstimmung. Im schönsten Obdachlosenheim der Welt.