Goethes Werther für das Reich der Mitte

Von Knut Cordsen · 12.08.2007
"Die Leiden des jungen Werthers" ist nicht nur hierzulande nach wie vor Schullektüre. Goethes Sensationserfolg aus dem Jahr 1774 genießt auch im fernen Osten hohes Ansehen. Und das ist der Grund für den größten deutschen Hörbuch-Verlag in diesen Tagen Goethes Werther von einem prominenten chinesischen Sprecher einlesen zu lassen.
So klingt es also auf Chinesisch, wenn Goethes Werther seinem Freund Wilhelm in Briefen sein Leid klagt über seine unglückliche Liaison zu "Lotten". "Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht", - dass diese schwermütigen Zeilen auch in China ihre Wirkung nicht verfehlen würden, ahnte schon Goethe selbst, der in seinen "Venezianischen Epigrammen" 1790 kurzerhand imaginierte, dass sich die Geschichte seines Werther bereits bis nach China herum gesprochen und dort Künstler zu Hinterglasmalereien animiert hätte: "Doch was fördert es mich, dass sogar der Chinese / malet, mit ängstlicher Hand, Werthern und Lotte auf Glas?" fragte der Dichterfürst damals. Der 36-jährige Su Yang, in China ein sehr gefragter Rundfunk- und Fernsehmoderator, liest voller Empathie in einem Tonstudio in München-Giesing das Buch, das er mit 14 Jahren zum ersten Mal verschlungen hat. Und manchmal versteht man sogar ein einzelnes Wort.

Wilhelm ist es, dem Werther schreibt, er könnte "das beste, glücklichste Leben führen", wenn er "nicht so ein Tor wäre". Vor 85 Jahren wurden diese Sätze erstmals ins Chinesische übertragen. 50.000 Mal verkaufte sich das Werk binnen weniger Wochen und löste eine eben solche Selbstmordwelle aus, wie sie zu Goethes Lebzeiten schon Europa ergriffen hatte, erklärt der Sinologe Tilman Spengler.

"Der Polizeipräsident von Shanghai verbot in den damaligen Gazetten das Promenieren auf den Bürgersteigen von Shanghai, die nun allerdings sehr eng sind, weil sich laufend Leute aus den höheren Etagen herabstürzten."

Eine andersgeartete "Kulturrevolution" hätte seinerzeit die Werther-Übersetzung ausgelöst, sagt Spengler. Der gegen alles Regelwerk der Gesellschaft rebellierende und für die "freie Liebe" kämpfende Werther des "Sturm und Drang" habe den Chinesen aus der Seele gesprochen, lebten damals doch selbst Studenten überwiegend in Ehen, die von den Eltern arrangiert waren. Nach der Werther-Übersetzung 1922 sah man in China junge Männer, die wie Werther blaue Jacken und gelbe Westen trugen, gegen den konfuzianischen Sittenkodex aufbegehren.

"Zu diesen konfuzianischen Werten gehörte halt in erster Linie eine sehr strenge hierarchische Ordnung, insbesondere, was die Beziehung zwischen den Geschlechtern betrifft, und hier setzt eben die Liebe zu Werther an, weil den lesenden Chinesen der junge Werther derjenige ist, der sozusagen Dynamit legt an die klassische Hierarchie der Beziehung zwischen Mann und Frau. Dieses hat ausgenutzt der junge Intellektuelle Guo Moruo, der war einer der geistigen Väter der Kommunistischen Partei Chinas, gründete damals eine literarische Gesellschaft, die ‚Kreationsgesellschaft’, und der übersetzte den jungen Werther als erstes und zeigte, dass hier mit der Autorität des Westens – Goethe gewissermaßen als Modernisierer für das damalige China – man beweisen konnte, dass die konfuzianische Ordnung nicht gottgegeben ist, sondern dass sie hinterfragbar ist."

Bis heute lieben die Chinesen das, was Su Yang nun voller Melancholie und Gefühlsüberschwang für seine Landsleute liest. Dabei sind "Die Leiden des jungen Werthers" nur der Anfang eines mehrere deutsche Klassiker umfassenden Hörbuch-Projekts für China, sagt Claudia Baumhöver, die Chefin des Hörverlags.

"Wir haben so eine Liste gemacht mit Themen, die die Chinesen interessieren könnten, dazu gehöre Zarathustra, Nietzsche, oder Wintermärchen, Heine, das ist so, wie wenn wir umgekehrt überlegen, was kennen wir eigentlich aus dem Land, also Rote Laterne oder irgendwie so etwas und das ist es dann aber auch schon - und das Interesse an Klassikern ist offensichtlich ein wirkliches großes."

Die Start-Auflage der sechs Werther-CDs wird zwischen 25- und 50.000 liegen, der Preis liegt bei umgerechnet 15 Euro, die Zielgruppe sei v.a. die "neue Mittelschicht", eine "anspruchsvolle Klientel", von der man hofft, dass sie zu diesem "Premium-Produkt mit Luxus-Verpackung" greifen wird. Ob das Ganze funktioniert? Angst vor Raubkopieren hat Claudia Baumhöver jedenfalls nicht.

"Ich glaube, dass man das anders sehen muss. Wenn Sie lesen, wie Chinesen in Europa reisen, dann gehen die hier in München am Stachus über drei Etagen kann man da von Schweizer Messern über Kuckucksuhren alles kaufen, und das ist alles zertifiziert, das ist das wichtigste, weil die Chinesen selber nichts Kopiertes haben wollen, kann man ja verstehen. Also wird das eine Luxusverpackung sein und offensichtlich in diesem Mittelstand dann ein Tabu. Man hat das nicht als Raubkopie, ich meine, das ist auch Goethe, Werther, das ist jetzt nicht Harry Potter."

"Die Leiden des jungen Werthers" sind das erste literarische Hörbuch in China überhaupt.